Mit Spannung wird der Ausgang der Wahlen in Brandenburg und in Sachsen erwartet, Prognosen werden derweil wie Blitzmails aus Delphi gehandelt. Alle Umfrageergebnisse sind jedoch in dreifacher Weise fragwürdig.
Erstens existiert eine ohnehin schon große Fehlertoleranz, so dass bei einem Spielraum von +/- 1,5 % die Abweichung statistisch im Extremfall bei 3 % liegen kann.
Zweitens findet man im Osten eine weitaus geringere Parteienbindung als im Westen. Wähler lassen sich im Osten stärker von Interessen, als von Gewohnheit und Tradition leiten. So gesehen sind sie die „demokratischeren“ Wähler, weil sie stärker von den Verhandlungen der res publica, als von traditioneller Zugehörigkeit ausgehen. Deshalb wirkt sich die Repräsentationslücke, wie der Politikwissenschaftler Werner J. Patzelt das Phänomen benannte, dass die etablierten Parteien immer weniger die Interessen von wachsenden Wählerschichten vertreten, im Osten wesentlich stärker aus. In Ostdeutschland denkt man weniger ideologisch, sondern ergebnisorientiert. Man könnte es auch so formulieren, dass der Bedeutungsverlust der Linken und der SPD im Osten darauf zurückzuführen ist, dass beide Parteien „nicht geliefert“ haben, Politik oft für die Medien, anstatt für ihre Wähler in den Gemeinden und Kommunen in Ostdeutschland machen.
Jüngstes Beispiel ist die durch einen fragwürdigen Gerichtsbeschluss verfügte Schließung des Tagebaus Jänschwalde, die Signalwirkung hat. Weder die Funktionäre der ehemaligen Arbeiterpartei SPD, noch die der CDU traten für die Arbeitnehmer ein, um es sich nicht mit Fridays for future zu verderben. Statt gegen die Schließung zu kämpfen, postet der Spitzenkandidat der CDU, Ingo Senftleben:
„In Jänschwalde werden zwei von sechs Kraftwerksblöcken stillgelegt. Das kostet direkt 600 Arbeitsplätze. Wir müssen gemeinsam mit der Wirtschaft zeigen, dass wir solche Industriearbeitsplätze ersetzen können. Sonst wird die Strukturentwicklung nicht gelingen.“
Das war am 6. Mai 2019, über die aktuelle Schließung des Tagebaus findet man bisher kein Statement von ihm. Sicher ist jetzt schon, dass mit hohlen Phrasen und Schweigen der Machtwechsel in Brandenburg nicht gelingen wird. Gerade in Jänschwalde hätte Ingo Senftleben beweisen können, dass er „Bock auf Brandenburg“ hat, hätte er Flagge zeigen können, zumal Ministerpräsident Dietmar Woidke im Regierungsraumschiff am 26.08. durch den Tagebau flog und nichts von der Brisanz der Situation bemerkte, oder wie Woidkes Staatskanzlei gutgelaunt publizierte: „Bei einem Rundgang in der LEAG-Ausbildungsstätte Kraftwerk Jänschwalde sprechen Woidke und Giffey mit Azubis, Betriebsräten, Vertretern der Industriegewerkschaft BCE sowie Jugendvertretungen des Tagesbaus und des Kraftwerks. Dabei geht es auch um eine zukunftsfähige Aus- und Weiterbildung am Standort unter Berücksichtigung des Strukturwandels. In der Einrichtung werden rund 140 Jugendliche u.a. als Mechatroniker, Elektroniker für Betriebstechnik und Industriemechaniker ausgebildet. In den vergangenen 13 Jahren wurden rund 25 Prozent der Belegschaft des Kraftwerks und des Tagesbaus durch Jungfacharbeiter ersetzt.“ Wenig später verfügte das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg die Schließung des Tagebaus.
Sind Woidke und Senftleben die mediengehypten Fridays for future wichtiger als die hart arbeitenden Kumpels in Jänschwalde? Zumindest bekommt man hier eine konkrete Ahnung von dem, was Patzelt unter Repräsentationslücke versteht.
Drittens gelang es zwar dem Westen, die Deutungshoheit über den Osten zu gewinnen, doch werden diese Deutungen von einem immer kleiner werdenden Anteil von Bürgern überhaupt noch rezipiert. Außerdem gehen die Deutungen des juste milieus oft am Wesen der Sache vorbei und stellen immer wieder den besten Wahlhelfer für die AfD dar.
Welcher Ostdeutsche kann den SPIEGEL noch ernstnehmen, wenn er behauptet, die Ostdeutschen wählen AfD, weil sie sich einsam fühlen? Oder eine Caroline Fetscher, die sich im Tagesspiegel mit dem Versuch, die Psyche der Ostdeutschen zu analysieren, verhebt, sich aber mit solchen Aussagen: „Auf selbstgepflügter Scholle säen sie xenophobe, europafeindliche und antidemokratische Ressentiments…“ nur selbst auf Freuds berühmte Couch legt.
Wenn die WELT meint, sie muss den großen Kenner Ostdeutschlands, Michel Friedman, die Wahl im Osten kommentieren lassen, gibt sich das Unternehmen selbst der Lächerlichkeit preis und ist eigentlich nur noch zu bemitleiden.
Aber gerade weil die Gewissheiten verloren gehen, Unsicherheiten immer stärker, Dekadenzphänomene immer sichtbarer werden, erlebt der aufmerksame Leser eine Journalistenklasse, die gegen die Realität anschreibt und ansendet und die Wahlen in Brandenburg und in Sachsen zum Orakel von Delphi verklärt, anstatt Ursachen und Gründe zu analysieren. Freilich, die Analyse käme nicht ohne schmerzliche Selbstkritik aus, denn zur Wahrheit gehört es, dass die AfD im Osten auch als Antwort auf die teils übergriffigen Erziehungsversuche des Establishments gewählt wird.
Letztlich werden die Wahlen nicht in den Medien, und auch nicht im „Kampf gegen rechts“, sondern in Jänschwalde entschieden – so viel Orakel darf sein.