Der eine oder andere wird sich sicherlich noch an jene wunderbar belanglosen deutsch-österreichischen Filme aus den Fünfzigern und Sechzigern des vergangenen Jahrhunderts erinnern. Sie ließen nach den Jahren der Selbstzerstörung einerseits Remineszensen an eine heil(er)e Welt von „vor davor“ aufleben, gefielen sich andererseits in einer zeitgerecht beswingten Leichtigkeit des Seins getreu dem später von Erich Honecker zum geflügelten Wort gemachten „Vorwärts immer – rückwärts nimmer!“.
Insbesondere die in der damaligen Jetzt-Zeit spielenden Streifen dokumentierten eine frische Welt von Nierentisch bis Twist, in der überwiegend Jungerwachsene wie Peter Weck, Karin Dor, Helmut Lohner, Cornelia Froboess, Wolfgang Neuss, Karin Baal, Walter Giller und andere dieser im Tausendjährigen Reich groß gewordenen Generation in den Hauptrollen auftraten und die kaum einen noch so kleinen Blick warfen auf jene Jahre, die hinter dem zerstörten Deutschland lagen.
Was nicht nur an dieser leichten Kost auffällig ist: Sie kommunizierte in einer ausgeprägten Form der Kinderitis. Die fast schon ständige Anrede, die unter diesen Jungerwachsenen stilprägend war, benutzte nicht das statische „Sie“ mit „Damen und Herren“, sondern gefiel sich in einem dauernden „Kinder“ mit der unvermeidbaren Pluralform. „Kinder, lasst uns …“ oder „Kommt, Kinder, wir müssen …“ durchzogen diese leichte Unterhaltung selbst dann noch, wenn es scheinbar ernst wurde. Einen titelnden Höhepunkt fand die Kinderitis in auch heute noch sehenswerten Streifen wie „Wir Wunderkinder“ (1958) und insbesondere „Wir Kellerkinder“ (1960), in denen der unvergessene Neuss (Jahrgang 1923) mit viel hintergründigem Humor deutlich tiefgründiger als die Softstreifen sein spätes Trizonesien und die Hitlerzeit karikierte.
Die Generation der Unschuldigen
Was auf den ersten Blick als unbedeutende Modeerscheinung wirken mag, darf durchaus einer psychologischen Würdigung unterzogen werden. Denn Kinder, so die landläufige Auffassung, zeichnen sich vor allem durch zweierlei aus: Ihre eigene Unschuld und die Verantwortungs-Losigkeit für das Tun ihrer Eltern. So legte sich diese Generation der zwischen 1920 und 1940 Geborenen gleichsam ein beständiges Heilpflaster auf und stellte sich selbst einen Persilschein aus für die Verbrechen, die im deutschen Namen begangen worden waren. Wir, die „Kinder“, übernehmen keine Haftung für das, was geschehen ist, waren wir doch viel zu jung, um selber Schuld zu tragen! Nein – wir waren vielmehr die kindlichen Opfer unserer bösen Väter, deren Handeln wir nicht bestimmen konnten. Was – sachlich betrachtet – zumindest für die Zwanziger-Generation allein schon deshalb fragwürdig ist, da sie jene Menschen stellte, die im Krieg und seinen Folgen in besonderem Maße für die großdeutsche Idee verheizt wurden und die zumindest in den späten Kriegsjahren sehr wohl Verantwortung für ihr Tun hätte übernehmen können.
Kinder bekommen Kinder
Wie es die Natur gewollt hat, so bekamen auch diese Kinder, die noch in den Fünfzigern liebevoll zu „Papa Heuss“, jenem aus dem 19. Jahrhundert stammenden Liberalen, der die ersten zehn bundesdeutschen Jahre als Bundespräsident wirkte, aufschauten, selbst Kinder. Und während die Kinder der Vorkriegszeit das Erwachsen-werden verweigerten und noch in den Siebzigern wilde Parties in ihren Mietwohnungen feierten, wuchsen ihre eigenen Kinder wiederum als Kinder auf, die das Erwachsen-werden verweigerten. Günter Grass (Jahrgang 1927), jener überbewertete Schreiber der jungen Republik, hatte mit seinem Oskar Matzerath die Schablone geliefert – Herbert Grönemeyer (Jahrgang 1956), selbst ein Kind der ersten Kinder-Generation, feierte mit seinem weltfremd-idealisierenden „Kinder an die Macht“ noch 1984 einen großen Erfolg. Und selbst 2016 schickt das Land der Kinder nach kindlichen Ergüssen wie „Wadde hadde dudde da“ und „Piep piep piep, Guildo hat Euch lieb“ ein kindlich-naives Manga-Mädchen in das Song-Contest-Rennen, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass echtes Manga durchaus einen ausgeprägten, pädophilen Hintergrund hat.
Die ebenfalls das Erwachsen-werden verweigernden Kinder der Kindskinder, deren fast noch Eltern-Generation 1967/68 in klassisch-pubertärem Trotzverhalten eine Revolution gegen die bösen Eltern ausrufen wollten, fanden sich seit Ende der Siebziger Jahre bestens repräsentiert in jener neuen Bewegung, aus der die Partei der Grünen entstehen sollte. Man trotzte weiter: In Brockdorf und dem Wendland, auf Frankfurts Straßen und in den Hörsälen der Universitäten. Statt wie die böse Elterngeneration sich in Anzug und Krawatte dem Wettbewerb der Erwachsenen zu stellen, provozierte man in Turnschuhen und mit flotten, kindlich-rotzigen Sprüchen. Wie die eigenen, unschuldigen Kinder-Eltern gab man sich dabei den kindlich-naiven Vorstellungen einer heilen Welt hin, machte das Kind-Sein zum Elixier der eigenen Republik. Wer es wagen wollte, an diesem kindlichen Selbst zu rütteln, wurde als Störenfried und „Ewig-Gestriger“ zum Vertreter einer überwunden geglaubten Erwachsenenwelt diffamiert und an den öffentlichen Pranger gestellt. Ein Verfahren, das die Kinder der kindlichen Kinder und Kindes-Kinder in Figuren wie Heiko Maas (Jahrgang 1966) und der eingemeindeten Katrin Göring-Eckardt (Jahrgang 1966) bis zur Perfektion gebracht haben.
Die Republik der Trotzköpfe
Die Politik der jungen Republik verhielt sich entsprechend. Nicht nur, dass sich die Kinder trotz allem an Vaterfiguren festhielten, für die neben den die böse Elterngeneration überspringenden Großvätern Theodor Heuss (Jahrgang 1884) auch Konrad Adenauer (Jahrgang 1876) und die mitteldeutschen Pendants Otto Grotewohl (Jahrgang 1894) und Wilhelm Pieck (Jahrgang 1876) gestanden hatten – sie versuchten auch, sich aus den Bösartigkeiten dieser Welt heraus zu halten und sich notfalls mit harten DeutschMark freizukaufen (ein Verfahren, das auch heute noch – siehe Türkei – in Anwendung gebracht wird).
Doch wie überall auf der Welt werden die Kinder der Kinder und ihre Kinder zunehmend mehr konfrontiert mit den Übeln menschlicher Existenz. Statt sich jedoch den Tatsachen zu stellen, trotzen sie weiter. Malu Dreyer (Jahrgang 1961) trotzt, indem sie sich der Diskussion mit ungeliebten Konkurrenten ebenso verweigert, wie sich die Kind-Oma Claudia Roth (Jahrgang 1955) nicht öffentlich von einem Henryk M. Broder (Jahrgang 1946) blamieren lassen möchte. Katrin Göring-Eckardt trotzt, wenn sie in der Talkshow auf den deutlich erwachseneren Sebastian Kurz (Jahrgang 1986) trifft, der es wagt, ihren kindlichen Träumereien die Realitäten der Gegenwart vorzuhalten. Und sie alle trotzen, wenn mit einer AfD plötzlich jemand auftaucht, der sie offensichtlich aus dem Kinderspielzimmer zu vertreiben droht.
Zeit, erwachsen zu werden
Es ist Zeit, erwachsen zu werden, statt sich weiter in seinem Kinderspielzimmer einzuschließen und wie bisher beide Hände vor die Augen zu halten, wenn es gefährlich wird.
Ein Land wie Deutschland mochte sich als Kinderspielplatz einige Jahrzehnte bestens eignen – doch spätestens der massive Einfall nicht nur von Flüchtlingen, sondern vor allem von Jungerwachsenen aus den Armutszonen der Welt, die das Kind-Sein schon längst hinter sich lassen mussten, wird als Abenteuerspielplatz seine Funktion verlieren, wenn es mit der Welt der Erwachsenen konfrontiert wird. Die reale Welt – daran sollte niemand mehr zweifeln – ist eine Welt der Erwachsenen, in der es um die eigenen Interessen und das individuelle Überleben geht. Kuchen aus Sandformen und vielleicht noch Ritterspiele auf dem Steckenpferd werden Deutschland und damit auch Europa nicht davor bewahren, zum Spielball der Erwachsenen zu werden. Österreichs junger Außenminister hat das begriffen – seine Elterngeneration in Deutschland allerdings nicht. Doch es ist dringend an der Zeit, nun endlich auch in Deutschland die ewige Kindheit der naiven Glückseligkeit hinter sich zu lassen. Und die Träume von der ewig währenden Kindheit als das zu begreifen, was sie sind: Kindlich-naive Wunschvorstellungen aus dem Lummerland.