Tichys Einblick
METZGERS ORDNUNGSRUF 34-2019

„National“ und „sozialistisch“: Die unheimliche deutsche Sehnsucht

Nach den Sonntagswahlen wird unisono der „Rechtsruck“ beklagt. Dabei paaren sich nur sozialistische und nationalistische Sehnsüchte.

© imago Images/IPON

Auch wenn die AfD am Sonntag weder in Brandenburg noch in Sachsen zur stärksten Partei gewählt wird: Die Erschütterung über das starke Abschneiden der neuen Ostpartei wird den Wahlabend und die Rezeption in den kommenden Monaten beherrschen. „Der Osten driftet immer weiter nach rechts“, wird zum beherrschenden Narrativ. Weil die AfD trotz ihrer Stärke beim Wähler nicht in Regierungsverantwortung kommen darf, wird eine informelle Allparteien-Koalition aus CDU, Linkspartei, Grünen, SPD und FDP (sofern die beiden Letztgenannten überhaupt die 5%-Hürde überwinden) genau das zu verhindern wissen. Vor allem die Grünen, die nach der AfD am Sonntag am deutlichsten gewinnen, dürften mit moralischer Inbrunst („Wir überlassen Brandenburg und Sachsen doch nicht den Rechten!“) in Dresden mit der Union und in Potsdam mit der SPD regieren – nicht allein jeweils, sondern in einer Dreier- oder gar Vierer-Koalition. Obwohl der AfD mit der „Nazi-Keule“ nicht beizukommen ist, weil sich unter den inflationär gebrauchten Schmähbegriff Hunderttausende ihrer Wähler gerade nicht subsumieren lassen, wird der abgedroschene Reflex in der gesellschaftspolitischen Debatte weiter fleißig genutzt. Und viele erst recht zur trotzigen „Man wird ja wohl noch sagen dürfen. Dann bin ich halt ein Nazi!“-Replik verleiten.

Vielleicht sollte man 30 Jahre nach dem Fall der Mauer einmal hüben wie drüben eine offene Debatte darüber führen, warum sich viele Ostdeutsche als Opfer der Vereinigung fühlen und in diesem Gefühl äußerst erfolgreich von der AfD abgeholt werden. Wie man es nicht macht, demonstriert der aktuelle SPIEGEL mit seiner Cover-Story „So isser, der Ossi“. So züchtet das Wessi-Magazin vor allem Ressentiments. Als ob da, wo einst die DDR war, die AfD bereits unbesiegbar sei.
Viel zu kurz kommt in der westdeutschen Rezeption der Wende, dass Millionen von Menschen im Osten nach der Nazi-Diktatur nahtlos in einer kommunistischen Diktatur gelandet sind. Bevormundung und Unterdrückung prägten mehr als zwei Generationen in Ostdeutschland. Wie soll sich dort in einer knappen Generation ein demokratisches Selbstverständnis entwickeln, für das auch der Westen einige Jahrzehnte brauchte? Autoritative Einstellungen, die Sehnsucht nach einem starken Staat, die Angst vor Überfremdung, Antisemitismus und Rassismus sind tief verwurzelt. Selbst die kritische Aufarbeitung des Holocaust, die im Westen erst nach mühsamen und langen Verdrängungsjahren in einer kollektiven Erinnerungskultur mündete, die Teil der Staatsräson geworden ist, unterblieb in der sozialistischen DDR. Denn der Faschismus war ja im Westen zu Hause.

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Direkt nach der Wende herrschte ein gesamtdeutscher Konsens: Die DDR war schlecht, die BRD ist gut! So verhielten sich auch die Bürger der DDR nach der Währungsunion, die selbst in der Provinz binnen Tagen keine Ostprodukte mehr in den Geschäften finden konnten. Weil niemand sie mehr kaufte, hatten diese Waren auf dem Markt keine Chancen mehr. Als dann haufenweise Betriebe schlossen, binnen kürzester Zeit viele Hunderttausende ihre Arbeitsplätze verloren, sich eine Gesellschaft radikal veränderte, wurden die DDR-Biografien in einem Ausmaß umgekrempelt, wie es sich der saturierte Durchschnitts-Wessi überhaupt nicht vorstellen konnte. Trotz dieser einschneidenden Erfahrung der vergangenen dreißig Jahre blüht im Osten durchaus nicht nur die AfD-Ideologie. Die große Mehrheit wählt auch in Ostdeutschland andere Parteien. Doch umso bitterer ist für diese Mehrheit, dass der Osten für den Westen inzwischen einen Landstrich markiert, in dem nichts blüht außer dem Rechtsradikalismus. Wer das Klischee vom primitiven „Ossi“ beschwört, der AfD wählt, stigmatisiert die Bürger dort in Gänze und sorgt erst recht für Nachschub für diese Partei.

Warum reden und schreiben übrigens so viele vom „Rechtsruck“ in Deutschland. Die Sehnsucht nach dem starken (Sozial-)Staat ist doch kein ostdeutsches Alleinstellungsmerkmal. Auch die Wessis wollen höhere Renten, bessere Sozialleistungen, niedrigere Mieten. Wer sich die viel diskutierten Lösungsvorschläge im politischen Berlin, aber auch in der westdeutschen Provinz vergegenwärtigt, der reibt sich verwundert die Augen: Staatlich verordnete Maximalmieten in Berlin, Enteignungen großer Wohnungsbaugesellschaften, die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, eine vom Staat aufgestockte Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung. Alles Themen der letzten Wochen und Monate, die laut Umfragen zumindest zum größeren Teil auf Zustimmung beim Volk stoßen. Auch das, was sich unter dem Etikett „Klimaschutz“ an politischer Lösung abzuzeichnen beginnt, atmet den Geist des regulierenden Staates. Planwirtschaft allenthalben! Von liberaler Wirtschaftsordnung, von Aufstieg durch eigene Leistung, von Eigenverantwortung und Subsidiarität ist immer seltener die Rede.

Die Rezepte klingen doch eher nach Klassenkampf, nach sozialistischer Planwirtschaft. Wird diese Sehnsucht nach dem starken Staat noch gewürzt mit einem „Deutschland First“, dann fällt es einem wie Schuppen von den Augen. Gab es in der deutschen Geschichte nicht schon einmal eine „nationalsozialistische“ Partei, die durchaus in freien Wahlen punkten konnte, bis sie sich dann an die diktatorische Macht putschte. Steckt in diesem historisch belasteten Begriffspaar „national“ und „sozialistisch“ am Ende eine tiefe deutsche Sehnsucht, der nicht nur radikale Minderheiten erliegen können?

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