Tichys Einblick
Götterdämmerung

Wenn der Parteien Krise zur Systemkrise wird

Wenn der Bürger sich von den etablierten Parteien abwendet, dann liegt das Verschulden daran nicht bei den Bürgern, sondern bei jenen, von denen sich die Bürger abgewendet haben.

Was geschehen muss, das wird geschehen. Daran führt kein Weg vorbei. Und so geschieht es heute, dass die Parteien, die sich in Europa nach dem zweiten heißen Waffengang im 75-jährigen Krieg des 20. Jahrhunderts etabliert hatten und zu Garanten von Wohlstand und Demokratie wurden, in eine existentielle Krise geraten.

Was geschehen muss, wird geschehen. Denn diese Entwicklung war absehbar und sie wäre abwendbar gewesen, wenn sich die Vertreter der Parteien nicht beharrlich geweigert hätten, auf die Signale und ihre Ursachen zu reagieren.

Ursache 1 – Die Wahlverweigerung

In der „Adenauer-Republik“ hatte sich die Wahlverweigerung bei durchschnittlich 13 Prozent eingependelt. Mit anderen Worten: 87 Prozent der Wahlberechtigten fanden politische Themen derart spannend, dass sie im bundesdeutschen Modell der repräsentativen Demokratie mitentscheiden wollten.

Als es zur 1966 noch tatsächlich „Großen Koalition“ kam, wurde dieses Interesse sogar weiter gesteigert. APO (Außerparlamentarische Opposition) und die unter der ersten sozial-liberalen Regierung unter Willy Brandt geführte Debatte um die Ostverträge schufen eine Politisierung der Gesellschaft, die den Anteil der Polit-Aussteiger auf unter zehn Prozent drückte. Auch der Regierungswechsel von Rot-Gelb zu Schwarz-Gelb 1982 hielt die Spannung bei nunmehr elf Prozent Wahlverweigerung aufrecht.

Die Ermüdung setzte mit der „ewigen“ Kanzlerschaft des schwarzen Riesen Helmut Kohl ein. Als er entgegen allen alt-bundesrepublikanischen Zeichen nach dem Beitritt der neuen Bundesländer der früheren DDR ein weiteres Mal als Kanzler bestätigt wurde, hatte er den Anteil der Aussteiger bereits auf über zwanzig Prozent gesteigert. Den Kanzlerwechsel 1998 ermöglichte dann nur eine erneute Teilpolitisierung, die den Anteil der Aussteiger auf knapp unter 18 Prozent drückte. Als SPD-Kanzler Gerhard Schröder sich in der Wahlnacht 2005 beharrlich weigerte, die Realitäten zu akzeptieren, hatte ihn eine Ausstiegsquote von nunmehr über 22 Prozent um sein Amt gebracht. Angela Merkel sammelte die Reste ein – und fuhr anschließend den Anteil der Wahlverweigerer mit knapp unter 30 Prozent resolut in ungeahnte Höhen. Mit anderen Worten: Knapp jeder dritte Wahlbürger hatte sich mittlerweile von der Politik verabschiedet.

Die kritische Masse

In der Physik wie in der Spieltheorie gibt es den Begriff der kritischen Masse. Damit ist jene Anzahl von Akteuren beschrieben, die einen unaufhaltsamen Effekt auslösen – in der Kernphysik eben jene Masse, die einen Kernspaltungsprozess ermöglicht. In der Spieltheorie gilt sie als diejenige Anzahl, die einen sich selbst perpetuierenden und damit unaufhaltsamen Prozess auslöst.

Es gab und gibt keine relevanten Erhebungen darüber, ab wann in einer Demokratie wie der deutschen die Wahlverweigerung zur kritischen Masse wird. Aber es gab schon früh die Mahnung an die Politiker etablierter Parteien, dieser Entwicklung zu begegnen. Die Reaktion eines damals führenden Landespolitikers der Union werde ich nicht vergessen: Der Blick auf die Nichtwähler sei „unpolitisch“, denn die Wähler entschieden über die Zusammensetzung der Parlamente – nicht die Nichtwähler. Mit anderen Worten: Solange sich ein vom Politikbetrieb frustrierter Bürger in die Wahlverweigerung zurückzieht, stellte er keine Gefahr für das etablierte System dar und konnte deshalb ignoriert werden. Ebenso ignoriert wie mein damaliger Hinweis, dass  dreißig Prozent der Bevölkerung im Zweifel bei der richtigen Ansprache das System grundlegend auf den Kopf stellen könnten.

Ursache 2 – Das Kippen des politischen Desinteresses

Im Gegensatz zu den politischen Akteuren in Parteien und Medien steht Politik bei den meisten Bürgern normalerweise recht weit unten auf der persönlichen Agenda. Die beste Politik ist diejenige, bei der alles im Sinne des Bürgers funktioniert und er von der Politik nichts bemerkt. Das von „der Politk“ sich selbst zugesprochene Primat derselben findet beim Bürger nicht statt. Politik wird für ihn erst dann interessant, wenn er durch „das Politische“ unmittelbar in seiner Existenz tangiert wird.

In einem für eine Landtagsfraktion entwickelten Papier hatten wir als FoGEP 2011 folgende Sätze geschrieben:

„Die Beurteilung des Politischen [durch den Bürger] basiert auf der individuellen Beantwortung der Frage nach seiner systembefördernden oder systembehindernden Funktion – wobei dieser Beurteilung beim Bürger in aller Regel keine umfassende Analytik vorausgeht, sondern diese nach Anschein und Wahrnehmung erfolgt. Der Bürger will folgerichtig von den Parteien vorrangig vier Fragen beantwortet bekommen:

| Steht eine Partei für das Wertesystem, das ich als mein eigenes verstehe?

| Garantiert eine Partei die Zukunftssicherung des gesellschaftlichen Konzepts, das auf meinem Wertesystem basiert?

| Ist eine Partei in der Lage, dieses auf meinem Wertesystem beruhende, gesellschaftliche Konzept positiv in die Zukunft fortzuentwickeln?

| Verkörpern die Parteien meine aus der Beantwortung der vorangegangenen Fragen entwickelten Ansprüche glaubwürdig in der Sache und im Angebot ihrer politischen Persönlichkeiten?

Die Zustimmung zu Parteien durch den Bürger ergibt sich aus der in aller Regel unbewussten Bewertung in Folge der oben dargelegten Schlüsselfragen, wobei sich der Grad der Zustimmung zwischen null und einhundert bewegen kann. Die absolute Zustimmung zu einer Partei ist desto weniger zu erwarten, je breiter diese inhaltlich angelegt ist, während die deutliche Ablehnung von Parteien bereits dann eintritt, wenn die Antworten in Teilen negativ ausfallen.

Auf dieser Grundlage sind im normativen Sinne durch die in den Parteien verantwortlichen Personen beständig konkret abzufragen

| Ihre Legitimität als quantitative, qualitative oder metaphysische Begründung des Parteihandelns.

| Die Repräsentation als Ausdrucksform und öffentliche Darstellung von Machtgestaltung.

| Der Einsatz von Symbolen und Mythen als Archetypen und Manifestationen zur Charakterisierung der Wertebasis.

| Die Kraft der Akteure als Verkörperung von Intention, Motivation und Technik.

| Die Strukturen der Partei als Garant der historischen und administrativen Ontogenese (Ontologie).

So lange der Bürger das Empfinden hat, durch „die Parteien“ und deren Vertreter gemäß den oben dargelegten Fragestellungen ausreichend berücksichtigt zu werden, ist das Interesse am Politischen folglich gering ausgeprägt. Gleichzeitig organisiert diese Situation aus sich selbst heraus die Abnahme des politischen Interesses ebenso wie den individuellen Ausstieg aus der Politik, was zum Rückgang der Beteiligung an Wahlen führen kann. In der Annahme, es gehe „schon alles seinen geregelten Gang“, verblasst nicht nur die Notwendigkeit, sich innerhalb des Parteienangebots für eine bestimmte Partei aus Gründen unmittelbarer Betroffenheit heraus zu entscheiden – die Notwendigkeit, sich an Wahlgängen aktiv als Wähler zu beteiligen, nimmt ab, weil unterstellt wird, dass der „geregelte Gang“ auch ohne eigenes Zutun fortgehe. Gleichzeitig gehen jene Teile der Bevölkerung, die sich in innerer Opposition gegen diesen „geregelten Gang“ entscheiden, aus einer ähnlichen Grundauffassung in die nun bewusste Wahlverweigerung: Da „der geregelte Gang“ ohnehin nicht aufzuhalten und zu ändern sei, erfolgt der mentale Ausstieg aus dem Politischen, häufig gekoppelt mit der Hinwendung zu entweder radikal-politischen Positionierungen, denen gleichwohl keine reale Chance auf Durchsetzung zugeschrieben wird, zu metaphysischen Politikerklärungsmodellen, gemeinhin als Verschwörungstheorien benannt, oder auch zu Mischformen des Apolitischen, wie dieses beispielsweise in der Hinwendung zu Ersatzrealitäten in der Form von entweder historisierenden (Beispiel: Mittelalterorientierung) oder utopistischen Modellen (Beispiel: Trekkies) zeigt.

Stellen die Anhänger der Ersatzrealitäten für die politischen Eliten keine unmittelbare Gefahr dar (das gilt umso mehr, wenn ihre entsprechende Hinwendung letztlich auf der inneren Ruhe jener Überzeugung des geregelten Gangs beruht), so bleibt die Masse jener zu metaphysischen Politik- und Welterklärungsmodellen neigenden Personen unberechenbar weil jederzeit aktivierbar, sobald sie eine realistische Chance erkennen, den Politikbetrieb in ihrem Sinne zu korrigieren.

Dieses erklärt sowohl die langjährige Dominanz Angela Merkels wie auch das periodische Erstarken neuer, gegen das politische Establishment gerichteter, politischer Bewegungen.

Regierungs-Populismus statt Politik

Als beispielsweise der damalige Hamburger SPD-Bürgermeister Olaf Scholz nach den schwarz-grünen Chaostagen seines Vorgängers Christoph Ahlhaus 2011 mit absoluter Mehrheit gewählt worden war, erfolgte dieses aus genau dem oben dargelegten Grunde: Die Bürger wollten von „der Politik“ nichts mehr hören – sie wollten einfach nur „gut regiert“ werden. Die Wahl Scholz‘ unterschied sich damit fundamental von der Chance, die der Christdemokrat Ole von Beust 2001 genutzt hatte, um den „ewigen Senat“ der Sozialdemokratie abzulösen. Von Beust bediente sich der unerwartet hohen Zustimmung zu der als Protestbewegung gewählten „Partei Rechtsstaatliche Offensive“ – kurz „Schill-Partei“. Diese PRO war – wie zuvor bereits die „Statt-Partei“ (die darüber zu einer Regierungsbeteiligung mit der SPD gekommen war) – vom Bürger nicht vorrangig mit dem Ziel gewählt worden, ihre unerfahrenen Protagonisten mögen künftig die Regierung stellen. Vielmehr erfolgt die Stimmabgabe zugunsten derartiger politischer Bewegungen maßgeblich unter der Motivation, die eigentlich als politische Heimat verstandene Partei zurück auf jene in den Grundprämissen definierten Grundlagen zu stellen. Der Begriff der „Protestpartei“ ist insofern zutreffend, als diese Organisationen sich in ihrer Anfangsphase nicht aus der umfassenden Zustimmung zu ihrer häufig nicht einmal vorhandenen oder oftmals indifferenten Programmatik erfolgt, sondern in der Absicht des „Denkzettels“ an „die da oben“ verstanden wird.

Erst wenn es diesen Protestbewegungen wie im Falle der Grünen gelingt, eigene Wertesysteme anzubieten, die von den Altparteien nicht abgedeckt werden, oder die etablierten Parteien keine Korrektur im Sinne des Protestierenden vollziehen, wie sich dieses bei der AfD abzeichnete, hat die junge Partei eine Chance längerfristiger politischer Präsenz. „Statt“ und „Schill“ verschwanden deshalb schnell wieder in der politischen Versenkung, weil sie entweder außerstande waren, ihr vermitteltes Politikziel adäquat zu bedienen (Statt) oder aber etablierte Parteienvertreter deren Inhalte in ihrem Kern übernahmen (Schill).

Vermittelt sich dem Bürger in einer solchen Situation der Eindruck, von den führenden Vertretern der langjährig bekannten Parteiangebote adäquat bedient zu werden (1997 „Statt“ – Henning Vorscherau, SPD und 2001 „PRO“ – Ole von Beust, CDU) wird die Protestpartei wie jener Mohr von Venedig als überflüssig begriffen und kann gehen.

Für den Bürger steht insofern die Frage des „guten Regierens“ im Sinne einer den eigenen Lebensalltag nicht betreffenden, reibungslosen Politikabwicklung im Vordergrund.

Wenn Scholz (SPD) 2011 mit genau diesem Anspruch erfolgreich war, so orientierte er sich dabei maßgeblich an Unions-Kanzler Angela Merkel, die im Bewusstsein einer Mehrheit der Bürger „gut regierte“. Gleichwohl – auch der Tatsache einer sogenannten Großen Koalition mit der SPD geschuldet – definierte Merkel jenes „gute Regieren“ – anders als Scholz – als den Versuch, es dem Bürger in jeder Situation scheinbar mehrheitlich recht zu machen. Damit begab sie sich unweigerlich in die Fänge jener Institutionen, die nach ihrem Selbstverständnis eben diesen Bürgerwillen repräsentierten, jedoch tatsächlich lediglich die Weltsicht einer kleinen, wenn auch alles andere als marginalen Gruppe wiedergaben.

Jenseits relevanter Fehlbeurteilungen in der Wirtschafts-, Innen- und Außenpolitik stehen der übereilte Atom-Ausstieg ebenso wie „Refugees-welcome“ beispielhaft für diese Politik des Regierungs-Populismus. Garniert wurde dieser durch das Mantra der Alternativlosigkeit, welches in der Konsequenz gezielt weitere Wahlbürger in das politische Desinteresse treiben sollte. Denn wenn es vorgeblich ohnehin keine politischen Alternativen gibt, dann gibt es auch keinen Grund mehr, sich politisch zu engagieren oder sich bei Wahlen für irgendeine Partei zu entscheiden.

Ursache 3 – Die Anti-Hitler-Republik

Ich hatte 2016 geschrieben, die Bundesrepublik sei eine Anti-Hitler-Republik ohne eigene politische Perspektive. (https://spitzwege.wordpress.com/2016/03/04/demokratie-oder-diktatur-in-was-leben-wir-eigentlich/)  Von Grundgesetz mit politischer Zielsetzung bis Regierungshandeln stehe dabei alles ausschließlich unter dem einen Aspekt, eine Entwicklung wie 1933 niemals wieder zuzulassen.

So sehr man dieses Ziel im Grundsatz teilen muss, so entwickelte es doch insbesondere nach der Überwindung der unmittelbaren Hitler-Folgen ab 1990 einen bundesrepublikanischen Mehltau, der sich erst über diese zentraleuropäische Nation legte, um dann nach und nach auch die Nachbarn zu infizieren. Alles in dieser Republik stand unter dem Aspekt der Abwehr eines neuen, vorgeblich „rechten“ Nazitums – und es bot gleichzeitig die ewige Ausrede der Nach-Nazi-Generation, alle Übel und Verbrechen des zwölfjährigen „Tausendjährigen Reichs“ den „Nazis“ anzulasten. Die Tatsache, dass Deutsche wie Österreicher diese „Nazis“ nicht nur zugelassen, sondern zumindest in deren Erfolgsjahren bis in das klassisch sozialdemokratisch-kleinbürgerliche Proletariat hinein durchaus begrüßt und unterstützt hatten, konnte so wunderbar ausgeblendet werden. Auf diesem Nährboden des Anti-Nazitums gedieh eine Unkultur der mangelnden Reflexion, des Denkverbots  und der nationalen Ideenlosigkeit.

Mangelnde Reflexion über Deutschland und seine durchaus positive und progressive Entwicklung zwischen 1815 und 1914 wurde ebenso in die kollektive Nazi-Haft genommen wie jene unter der Fortsetzung des Ersten Weltkriegs mit vertraglichen Mitteln zum Scheitern verurteilte Weimarer Republik und führte nach 1945 zu jenen Exzessen der nationalen Selbstzerstörung, wie sie beispielsweise die Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth demonstrierte, als sie ohne jeden Anflug von Scham und Distanz bei Aufmärschen mitlief, bei denen laut vernehmbar  „Deutschland, du mieses Stück Scheiße“ skandiert wurde.

Kurz: Die Anti-Hitler-Republik schuf nicht nur eine Atmosphäre von Zensur und Selbstzensur – sie vernichtete den Staat von innen heraus, weil sie jeglichen Patriotismus als Nationalismus diffamierte, der einem „neuen Hitler“ den Weg bahnen würde, und jedes Denken in nationalstaatlichen Kategorien vorsätzlich als „faschistisch“ diffamierte.

Ursache 3 – Die fehlende Perspektive

Aus dieser psychosozialen Gemengelage von alternativlosem Mehltau postbürgerlicher Kreise und von destruktivem Selbsthass postsozialistischer Gruppen verlor die deutsche Republik jeglichen Blick in die Zukunft. Politische Visionen wurden als Krankheitsbilder diffamiert, einem angeblichen Pragmatismus das Wort geredet, der jedoch nichts mit der klassischen „rechten“ Politik der bürgerlichen Gesellschaft zu tun hatte, die ihren Pragmatismus darin erblickte, die Notwendigkeiten des Gemeinwesens zu managen, statt es im Sinne regierungs-populistischer Vorstellungen eines weltanschaulich motivierten Aktionismus prägen und verändern zu wollen.

Dabei hätte ein Blick in die Geschichtsbücher reichen müssen, um zu erkennen, dass Menschen jenseits des tagesaktuellen Handelns machbare und nachvollziehbare statt utopistische Perspektiven benötigen, um Motivation und Identität mit ihrem Staatswesen zu schöpfen. Doch in dieser Republik war weit und breit niemand mehr zu finden, der den Menschen eine Idee davon vermittelte, wo dieses Land Deutschland in zwanzig, in fünfzig, wo in hundert Jahren stehen sollte – wie sollte es auch, war es doch mit seiner Anti-Hitler-Ausrichtung ausschließlich in der Vergangenheit verfangen und zum Entwickeln eines längerfristig gedachten Gemeinwohlziels unfähig.

Wo dann tatsächlich langfristig gedachte Utopien eine gewisse Relevanz entwickelten, umschifften diese wie bei der sogenannten Klimadiskussion bewusst die nationale Perspektive und definierten sich als religionsgleiche Speerspitze einer globalen Umkehr. Der sich selbst als modern definierende Bürger in den Staatsgrenzen einer BRD, in der das Deutsch-sein als verqueere Konsequenz der Anti-Hitler-Republik zunehmend verpönt war, verstand sich als Weltbürger und Weltutopist. Wer diesem Selbstverständnis nicht folgen mochte und den Staat als Aufgabenträger seiner Staatsbürger und nicht eines fiktiven Weltbürgertums begriff, fiel der Diffamierung als direkter oder indirekter Träger jener von der Anti-Hitler-Republik definierten Feindbilder anheim.

Wer aber keine gemeinsamen und realistischen Ziele im politischen Nahbereich hat; wer keine Perspektiven für die eigene und die Zukunft seiner Kinder entwickelt, der wird in seiner Apathie leicht zum Spielball jener, die ihre privaten Süppchen kochen und über irreale Traumvorstellungen Emotionen mobilisieren.  Dabei spielt es nur noch eine untergeordnete Rolle, ob diese Süppchen in den Küchen globaler Wirtschaftsnetzwerker, religiöser Götzendiener oder politischer Weltherrschaftsträumer gekocht werden. Die Apathie der Ausschließlichkeit des Hier und Jetzt ist die Basis, sich selbst als Masse zum bereitwilligen, am Ende willenlosen Spielball von zielgerichtet agierenden Minderheiten machen zu lassen.

Mehltau führt zum Antiparlamentarismus

Das Volk der wirtschaftlich erfolgreichen, jedoch geistig verarmenden Republik schien es zufrieden, sich in der Pippi-Langstrumpf-Mentalität ihrer Politikerkaste einzurichten, in der Kuscheln vor Konflikt und Sanftmut vor Streit stand.

Wie sehr dieser Mehltau beharrlich selbst den politisch Interessierten zersetzte, konnte ich am eigenen Verhalten spüren. War es in den Siebzigern und selbst in den Achtzigern noch ein Vergnügen, dem gekonnten Schlagabtausch der führenden Politiker in den scharfzüngigen Debatten des Bundestags zu folgen, so wird dort seit Jahren nur noch gähnende Langeweile produziert. Folgerichtig landeten die Übertragungen der Debatten – einstmals Pflichtprogramm der Hauptkanäle des öffentlich-rechtlichen Rundfunkmonopols – in Spartenkanälen, um dann irgendwie ganz aus dem Bewusstsein zu entschwinden.

Schien einerseits niemand diesen Verlust zu bemerken und zu bedauern, so fütterte er doch nicht nur die kritische Masse in ihrem Bewusstsein, dass „die Politik“ nur noch in Hinterzimmern stattfände. Das Parlament verließ seinen öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrag – und mit ihm das Bewusstsein für die Vorzüge eines parlamentarisch-demokratischen Systems.

Ursache 4 – Der Niedergang der politischen Qualität

Der eine oder andere mag sich vielleicht noch daran erinnern, wenn politische Schwergewichte wie Herbert Wehner, Franz-Josef Strauß und Wolfgang Mischnick aufeinander losgingen. Wie das Florett geführt werden konnte wenn Rainer Barzel, Willy Brandt und Hildegard Hamm-Brücher die Klinge kreuzten.

Das politische Personal der frühen Republik verfügte über Persönlichkeiten, die mit ihren Ecken und Kanten und auch mit ihrer rhetorischen Brillanz gerade aufgrund ihrer oftmals gebrochenen Lebensläufe dem Bürger den ständigen Beweis dafür lieferten, dass seine Entscheidung, den einen oder den anderen bei der Wahl mit seiner Stimme unterstützt zu haben, richtig oder vielleicht auch falsch  gewesen war. Die Politik des Staates war geprägt von Persönlichkeiten, mit denen der Bürger sich identifizieren konnte – im Positiven wie im Negativen.

Doch die Persönlichkeiten mit gebrochener Vita, mit der daraus gewachsenen Kraft  zum politischen Wirken, starben aus. Sie wurden ersetzt durch die Mandarine aus der Kaste der Karrieristen, deren gebrochene Vita sich vielleicht gerade noch durch ein abgebrochenes Studium, der Unlust zum Lehramt oder der Belanglosigkeit einer Ein-Mann-Kanzlei auszeichnete.

Die neue Generation der Politiker passte perfekt in diese Republik der Alternativlosigkeit, weil sie bis zur Beliebigkeit austauchbar wurde. Die Parteien selbst verkamen zu Trittbrettunternehmen, in denen vereinsmeiernde Seilschaften die gesellschaftspolitische Zielsetzung verdrängt und das kantige Profil durch Profillosigkeit ersetzt haben.

Im Mittelpunkt des politischen Handelns steht heute nicht mehr der sich selbst gegebene Auftrag, das Gemeinwesen aktiv weiterzuentwickeln, sondern es – je nach weltanschaulichem Ansatz – entweder einzufrieren oder auszuhebeln. Politik als Karrieretrittbrett setzt voraus, dass das System starr in der Situation verharrt, die die persönliche Karriere ermöglicht. Nicht mehr die Handlungen des Politikers müssen sich ständig einer sich ändernden gesellschaftlichen Dynamik anpassen – die Gesellschaft hat sich am Karriereplan des Politikers zu orientieren. Sollte der politische Weg dabei in eine Sackgasse geraten, muss die Politik ein Angebot bereithalten, dass den vorgeblich außerpolitischen Karriereweg eröffnet. Ob der Jurist und Berufspolitiker  Rudolf Seiters, der das Deutsche Rote Kreuz übernehmen durfte; ob der Soziologe Michael Vesper, der dem Deutschen Olympischen Sportbund vorstehen durfte; ob der Magister der Politikwissenschaft Rudolf Scharping, der sich als Cheffunktionär des Bundes Deutscher Radfahrer oder der nach dem Ersten juristischen Staatsexamen auf Journalismus umgestiegene Reinhard Grindel, dem die im Eiltempo von ihm selbst verspielte Präsidentschaft des Deutschen Fußballbundes übertragen wurde – sie stehen hier lediglich exemplarisch für all jene,  die aus der politischen Sackgasse in staats-subventionierte Verbände oder, wie jener Ronald Pofalla, in staatseigene Unternehmen wechselten, die ihnen Bedeutung und nach Möglichkeit finanzielle Dauersubventionierung sichern sollten.

Der Staat und die ihm angegliederten Institutionen wurden zum Selbstbedienungsladen von politischen Funktionären, deren fachliche und politische Qualität umgekehrt proportional zu ihren Einkünften sank.

Das kommende Wochenende bringt den nächsten Schritt

Wenn am kommenden Wochenende Vertreter der etablierten Anti-Hitler-Republik einmal mehr darüber greinen werden, dass „der Wähler“ ihre aufopferungsvolle Leistung für diesen Staat nicht honoriere und stattdessen jene gestärkt habe, die als „Rechte“ in der Hitler-Tradition stünden (was nicht wortgenau so formuliert wird, aber so gemeint ist), dann sollten sie sich in allererster Linie an die eigene Nase fassen. Wenn der Bürger sich von ihnen abwendet, dann liegt das Verschulden daran nicht bei den Bürgern, sondern bei jenen, von denen sich die Bürger abgewendet haben.

Wenn diese Verursacher dann noch auf die Idee kommen, den Verlust ihrer Wirkkraft und damit verbunden den Verlust ihrer Privilegien durch unlautere Mittel und Instrumente aus der politischen Trickkiste abwenden zu wollen, schütten sie damit nur weiteres Öl ins Feuer – und aus der nicht zu übersehenden Politikkrise wird unvermeidbar eine Systemkrise.

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