Tichys Einblick
Syrien

Offensichtlich gerät Erdogan in die Defensive

Erdogan hat um ein Treffen mit Russlands Putin gebeten. Wie der Kreml bestätigte, wird dieses am Dienstag, 27. August, in Moskau stattfinden.

GEOFFROY VAN DER HASSELT/AFP/Getty Images

Offensichtlich gerät Erdogan in die Defensive. Der türkische Stützpunkt Morek/Murak, südlichster Punkt in der ehemals als Rückzugsgebiet der Rebellen vereinbarten Idlib-Region, ist mittlerweile von jeder Landverbindung zur Türkei abgeschnitten und befindet sich auf Nahkampfweite in einem Kessel  der syrischen Armee. Am Freitag wies die Türkei darauf hin, dass es in unmittelbarer Nähe zu Murak Gefechte gäbe, jedoch keine Belagerung des Stützpunktes stattfinde und die türkischen Truppen nicht zurückgezogen würden. Wie dieses damit zu erklären ist, dass es keine türkische Landverbindung mehr zum Stützpunkt gibt, wird zumindest hinsichtlich der Belagerung ein Geheimnis der Türkei bleiben.

Am frühen Morgen des Sonnabend wird ein Luftwaffenangriff auf die Stadt Hajish gemeldet. Das ist der Ort, bei dem Erdogan nach dem Verlust von Murak im Zuge einer Frontbegradigung einen neuen Stützpunkt errichten lässt. Der Luftangriff deutet darauf hin, dass Syrien genau dieses verhindern will.

Die Angriffe der syrisch-russischen Kräfte konzentrieren sich weiterhin auf den Süden Idlibs. Sollten sie ähnlich erfolgreich sein wie der Angriff auf die Südspitze, dann wird die Türkei in absehbarer Zeit zwei weitere Stützpunkte verlieren: Maidan Ghazal im Westen und Surman im Osten. Assad scheint Idlib nun von Süden her aufrollen zu wollen. Damit würden die Rebellen letztlich auf türkisches Staatsgebiet und in das türkisch besetzte Afrin verdrängt.

Erdogan hat daraufhin um ein Treffen mit Russlands Putin gebeten. Wie der Kreml bestätigte, wird dieses am Dienstag, 27. August, in Moskau stattfinden. Bis dahin allerdings kann es durchaus sein, dass weitere Rebellengebiete durch die syrisch-russische Offensive erobert wurden und Erdogan nur noch den friedlichen Rückzug seiner Soldaten verhandeln kann.

Ginge es nicht darum, einen Großbrand zu entfachen, so könnte man meinen, rund um die Ebene von Aleppo – dort, wo die letzten wildlebenden Goldhamster unter dem Bombenterror ums Überleben kämpfen – sitzen mindestens drei große Kinder um ein offenes Benzinfass und spielen ein Chicken-Game nach dem Motto: Wer zuerst das Streichholz wirft, gewinnt.

Erdogan will die Großtürkei

Aus seinen Ambitionen, sich aus dem syrischen Kuchen ein kräftiges Stück herauszuschneiden, hat der türkische Präsidialdiktator Erdogan schon lange kein Hehl mehr gemacht.

  • Die Invasion im nordwestsyrischen Afrin, dem kurdisch besiedelten, letzten Stück Frieden in der Region, vor eineinhalb Jahren, diente nebst Überlassung der Stadt zur Plünderung durch islamische Rebellentruppen diesem Ziel.
  • Die Operation Euphrat, mit der Erdogan eine Brücke entlang dem westlichen Ufer des Stromes bis hin zu seinen damals dort noch aktiven Brüdern vom Islamischen Staat (IS) schlagen wollte, ebenso.
  • Die Verhandlungen mit dem angeblichen Partner USA darüber, das fruchtbare, nördliche Viertel des von den Kurden selbstverwalteten Royava zwischen Euphrat und Irak als sogenannte Sicherheitszone gegen die vorgeblichen YPG-Terroristen sollen die Türkei auf breiter Front nach Süden erweitern. Es sei darauf hingewiesen: Die Einheiten von SDF und YPG (Syrische Demokratische Kräfte und Kurdische Selbstverteidigungsarmee) haben bislang nicht einen einzigen Schlag gegen türkisches Territorium unternommen und erst am Dienstag wieder mit US-Luftwaffenunterstützung eine der letztverbliebenen IS-Bastionen bei AlTabqah am Südufer des Euphrat-Stausees angegriffen.
  • Nicht zuletzt die faktische Besetzung der letzten Rebellenregion um Idlib, östlich des arabisch besiedelten Hatay  – seinerzeit den Türken als syrisches Mandatsgebiet von den Franzosen geschenkt -, mit der Einrichtung von zwölf strategisch das Rebellengebiet umfassenden Militärstützpunkten zeigt auf: Erdogan ist gekommen, um zu bleiben.
Die Abmachung mit Putin nicht erfüllt

Deshalb traf er eine – wie er meinte geschickte – Abmachung mit Putin und kaufte seinem scheinbar neuen Freund gleich ein Kontingent russischer Luftabwehrraketen ab – welche allerdings, wie in Militärkreisen gemunkelt wird, mit einer sogenannten Todmanneinrichtung versehen sein dürften. Will sagen: Schickt Erdogan sie gegen russische Kampfjets, dann haben die den Schalter zur Selbstvernichtung der Raketen schon griffbereit. Doch auch abseits des Waffendeals, der das Verhältnis zu den USA weiter erheblich abgekühlt hat, agierte der türkische Serasker ungeschickt. Denn seine Zusage an Putin, dass russische und syrische Konvois ungehindert die beiden Hauptverkehrswege durch die Provinz – die Schnellstraßen M4 und M5 – nutzen konnten, wollte oder konnte er nie erfüllen.

So starteten die Syrer mit massiver Luftunterstützung durch die Russen bereits vor Monaten ihren Dauerkrieg gegen die mit der Türkei verbündeten Islamkämpfer vor allem im Süden der Provinz. Anfangs mit mäßigem Erfolg, denn der Landgewinn der Assad-Armee gelang nur in kleinsten Stücken. Das allerdings hat sich seit Montag geändert.

Syrien übernimmt die Kontrolle über die M5

Ursache der Offensive der Syrer dürfte eine de-facto-Invasion Erdogans gewesen sein, der seit der Nacht des Sonntag massiv Truppen aus der Türkei in die Idlib-Region fahren ließ, um seine dortigen Stützpunkte zu stärken. Als Antwort darauf legte die syrisch-russische Koalition ein paar mehr Kohlen auf und es gelang ihr am Dienstag, die strategisch wichtige Stadt Khan Shaykhun einzunehmen. Damit hat Assads Armee im wahrsten Sinne des Wortes den Sack um Erdogans südlichsten Stützpunkt zugemacht: Morek, direkt an der Demarkationslinie zum syrischen Hama nahe der M5 gelegen, ist vom Nachschub abgeschnitten. Ein türkischer Konvoi, der dorthin unterwegs war, scheint irgendwo orientierungslos bei Khan Shaykhun in der Halbwüste auszuharren. Denn die Schnellstraße zwischen Idlib und Morek wird nun an der strategisch wichtigsten Stelle von der russisch-syrischen Allianz kontrolliert.

Wie es gegenwärtig tatsächlich um den Stützpunkt steht, ist unbekannt. Erdogans islamische Verbündete allerdings haben wissen lassen, dass sie den „Sack“ gerade noch rechtzeitig haben verlassen können. Als sicher gilt, dass die Syrer die nunmehr feststeckende Verstärkung nicht passieren lassen werden. Das syrische Außenministerium hat am Dienstagnachmittag wissen lassen: „Die Schlacht in Idlib hat den Beweis erbracht, dass die Türkei eindeutig und uneingeschränkt die Milizen unterstützt.“ Das bedeutet im Klartext: Für Assad ist die Türkei spätestens ab jetzt Kriegsgegner.

Russland mahnt – und droht – die Türkei mahnt zurück

Obgleich Verbündete der Türkei am Montag einen nicht bestätigten Angriff auf den russischen Luftwaffenstützpunkt meldeten, versuchen die Russen derzeit noch, den nicht mehr auszuschließenden Flächenbrand unter Kontrolle zu halten. Außenminister Lawrow ließ wissen, dass das russische und das türkische Militär in Syrien nach wie vor eine ständige Kommunikation unterhalten. Er machte allerdings auch deutlich, dass jedweder Angriff auf in Syrien stationierte Einheiten der russischen Streitkräfte „unmissverständlich“ beantwortet werde. Sollten Erdogans Männer also gegen Russen vorgehen – und sei es nur ungewollt, weil diese, wie Lawrow ebenfalls am Dienstag  mitteilte, auch mit Bodeneinheiten unterwegs seien – wird das Streichholz ins Benzinfass fallen. Und das auch deshalb, weil Wladimir Putin in der Mittelmeerresidenz seines Macron-Besuchs erklärte, dass Russland uneingeschränkt zu der Koalition mit Assad steht. Was wiederum bedeutet, dass Russland Erdogans Ambitionen nicht akzeptieren kann.

Wie nah die Streichhölzer am Benzinfass sind, vermittelt eine Mitteilung des türkischen Außenministers Cavusoglu vom Dienstagnachmittag. Danach soll es bereits zu einem syrischen Angriff auf einen türkischen Armeekonvoi gekommen sein – er ermahnte „das syrische Regime, nicht mit dem Feuer zu spielen“. Und er vergaß dabei offenbar das brennende Zündholz in seiner eigenen Hand.

Bewusste Eskalation auch in Ostsyrien

Obgleich nun die Situation in der Rebellenprovinz Idlib voraussichtlich vor einer unkalkulierbaren Eskalation steht, reichen den Türken ihre von der Außenwelt abgeschnittenen Stützpunkte auf syrischem Territorium offenbar noch nicht, um sich die Finger zu verbrennen. Denn während die türkische Invasion im Westen Syriens nun ins Stocken gerät, beschimpft die türkische Regierung die westliche Führungsmacht wegen deren zögerlicher Haltung zur Schutzzonenforderung gegen die Kurden. Zwar hatte sich schon vor Tagen eine US-Delegation von deren Stützpunkt an der Schnellstraße M4 zwischen Manbidj und Ayn Isa in der selbstverwalteten Kurdenregion ins türkische Sanliurfa aufgemacht, doch die Verhandlungen über die de-facto-Besetzung der nördlichen Kurdengebiete Syriens durch die Türkei  kommen nicht voran.

Verwundern darf das nicht: Erdogan fordert einen 30 Kilometer breiten Korridor entlang der Grenze sowie die Übergabe des westlich des Euphrat gelegenen, von den Kurden befreiten Manbidj. Damit würde die YPG nicht nur bedeutende Stellungen räumen müssen – auch fielen das seinerzeit gegen Erdogans Willen auf Druck der USA durch Kurden befreite Kobane und das Mittelzentrum AQamishly kampflos an den Erzfeind. Für die Kurden, die sich gegenüber der US-Koalition als zuverlässige Verbündete bewiesen haben, wäre ein US-Eingehen auf Erdogans Forderungen nichts anderes als Verrat. Auch hat Erdogan nie Zweifel daran gelassen, dass es mit dem „Korridor“ nicht getan sein wird. Er soll den Türken lediglich als exterritoriales Aufmarschgebiet zur Besetzung der gesamten selbstverwalteten Kurdenregion dienen.

Die Türkei wirft den USA Verrat vor

Also zündet Cavusoglu noch ein paar Streichhölzer, wirft dem NATO-Partner in Sachen Manbidj einen Verrat vor, den man „den USA nicht noch einmal durchgehen lassen werde“ – denn türkische Truppen standen schon vor Wochen, angeblich mit US-Genehmigung, zur Übernahme bereit und wurden erst in letzter Sekunde durch eine US-Intervention daran gehindert. Dann schickte Erdogans Vasall noch eine Drohung hinterher: Sollte es nicht zu einer Vereinbarung mit den USA über die „Sicherheitszone“ kommen, so habe die Türkei „einen eigenen Plan“. Dieser wiederum lautet: Invasion der syrischen Kurdengebiete auch gegen den Willen der NATO-Partner.

Das Aufmarschgebiet und die Resttürkei säubern

Da Erdogan offenbar befürchtet, dass der Funkenflug des von ihm entzündeten Feuers in Nordost-Syrien seine Glut bis tief in die seit 1923 türkisch besetzten Kurdengebiete Ost-Anatoliens tragen könnte, hat das türkische Innenministerium schon einmal in einer Nacht- und Nebelaktion die gewählten Bürgermeister der drei türkischen Kurdenmetropolen Diyarbakir, Mardin und Van absetzen lassen. Die mittlerweile übliche Begründung lautete: Propaganda für und Unterstützung der verbotenen PKK – denn die abgesetzten Kommunalpolitiker gehörten der HDP an, dessen Vorsitzender Demirtash unter demselben Vorwurf seit November 2016 ohne Anklage inhaftiert ist. Ein dann regulärer Konflikt in Syrien könnte – so Erdogans mögliches Kalkül – angesichts der von ihm verursachten Wirtschaftskrise sogar noch weiteren Nutzen bringen. Das ideologisierte Volk der nationalislamisch verblendeten Türken könnte die Reihen hinter ihm schließen – und der dann unvermeidliche Ausnahmezustand den Anlass und die Möglichkeit bieten, solche ungeliebten Ausrutscher wie den oppositionellen Sieg bei der Wahl des Bürgermeisteramtes von Istanbul zu korrigieren.

Will Erdogan den Flächenbrand?

So deutet gegenwärtig vieles darauf hin, dass Erdogan bewusst und mit Vorsatz in Syrien einen breit angelegten Flächenbrand entzünden möchte. Denn weder wird Assad vor ihm weichen und syrisches Territorium preisgeben, noch werden die Kurden die Übergabe ihrer Siedlungsbiete kampflos hinnehmen.

Die Tatsache, dass bei dieser Gelegenheit auch noch Russland und USA möglicherweise sogar abgestimmt gegen die Türkei vorgehen könnten, scheint Erdogan nicht zu schrecken. Es sei denn, der Muslimbruder aus Ankara versucht sich in einem gigantischen Bluff. Dann allerdings könnten seine Einheiten in Idlib, die laut Auskunft eines beobachtenden Feldkommandeurs der Kurden derzeit noch aus älterem Gerät bestehen, schnell zum Bauernopfer werden.

Und nur vorsorglich sei am Rande darauf hingewiesen, dass die Großmächte 1938 auch davon ausgingen, die imperialen Gelüste eines gewissen Adolf Hitler mit der Übergabe der ohnehin von ihm in seiner Perspektive schon besetzten Gebiete würde stillen können. Wir erinnern uns: Erdogan hält – wie so mancher in der Region – den „Führer“ bis heute für einen großen Feldherrn und ein Vorbild. Vielleicht allerdings sollte der Muslimbruder noch einmal genau auf das schauen, was dieser große Feldherr angerichtet und wie er sich am Ende selbst gerichtet hat, bevor er seine türkischen  Zündhölzer in das Benzinfass wirft.

Jedoch – Ratio war noch nie Erdogans Stärke. Noch sonnt er sich in dem Gefühl, bislang alles erreicht zu haben, was er sich vorgenommen hatte. Und so zündelt er nun mit einem brennenden Streichholz an jedem Finger, während Putin und Assad jeweils mit einem bewaffnet sind. Wer zuerst wirft, gewinnt. Oder auch nicht – wer will das bei einem Chicken-Game schon vorhersagen können?

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