Nur beim ersten Durchblättern wirkt der SPIEGEL öde, langweilig, uninspiriert und freudlos. Allerdings auch deshalb, weil sich der Leser erst einmal bis Seite 106 durcharbeiten muss, um die phantastische Story „Bildhauer des Lebens“ von Johann Grolle über neue und furchterregende Fortschritte in der Genforschung zu lesen. Grolle berichtet über den Gen-Forscher Kevin Esvelt vom MIT, der ein Gentech-Verfahren namens Gene Drive entwickelt hat, mit dem möglicherweise bald Erbgut in Organismen eingeschleust werden kann, das sich in Windeseile in der gesamten Population verbreitet.
Auf diese Weise könnte der Forscher, wenn er denn wollte – aber noch hat er Skrupel – beispielsweise die Ägyptische Tigermücke ausrotten, die das Zika-Virus verbreitet. Damit wäre diese Krankheit eliminiert und die Menschheit hätt ein Problem weniger. Auch eine weitere Idee des Genforschers – er will beispielsweise das Mammut und die Neandertaler wieder aus dem Nirwana zurückrufen – lässt aufhorchen. Warum nicht? Wir schaffen das schon. Schließlich gibt es ja schon wieder Wölfe in Deutschland. Da werden uns einige freilaufende Mammuts und Neandertaler sicher nicht umhauen. Das ist doch Science Fiction pur und hochinteressant. Starke Stücke finden sich also eher im hinteren Heftteil, wo die Ideologie den Journalismus noch nicht überwältigt hat.
Verbaute Zukunft
Dazu passt thematisch auch das leider viel zu kurze und zu oberflächliche Spiegel-Gespräch „Die verbaute Zukunft“ von Katja Thimm und Cordula Meyer mit dem Soziologen Heinz Bude über die Macht von Stimmungen in der Politik und die miesmacherischen „heimatlosen Antikapitalisten“. So erfährt der Leser: „Anders als vor einigen Jahren wollen die meisten Menschen einen Staat, der sich kümmert. Und sie wollen verlässliche Lebensmodelle. Die Zeit des Neoliberalismus ist ebenso vorüber wie der Glaube an die Beliebigkeit der Postmoderne.“
Wenn Neoliberale und Kapitalisten lästig sind, fragen wir doch einfach Herrn Esvelt, ob er nicht die störenden Gene ausrotten kann. Dann würde es wieder gemütlich bei uns. Wir hätten Friede, Freude, Eierkuchen. Wir setzen uns alle gemeinsam wie in der Steinzeit an einem Lagerfeuer zusammensetzen und wärmen uns. Schade nur, dass es dann keine Kühlschränke mehr gäbe, um Getränke zu kühlen. Und wenn, dann wären sie wohl leer, weil keiner mehr Bier braut.
So schaffen die das nicht
Ein hübsches Wortspiel soll die Titelgeschichte verkaufen: Aus „Wir schaffen das“ wird „Wir schaffen Europa ab und riskieren unsere Zukunft“. Das ist ein politisches Statement, es hätte direkt aus dem Bundeskanzleramt kommen können. So schön hat noch kein Presseamt Schlagzeilen gebastelt. Es zeigt die Schwierigkeit des derzeit polarisierenden Journalismus: Man steht auf der Seite der Kanzlerin, mit vollem und aus ganzem Herzen – und gerät in die Mühlen der Politik und des Scheiterns. Die Geschichte bleibt aber im Sommer der Willkommenskultur stecken: Ja, es sind grässliche Bilder an der neuen EU-Außengrenze zwischen Mazedonien und Griechenland. Aber dabei bleibt der SPIEGEL stecken.
Welche Alternativen gibt es? Warum schaufeln griechische Fährschiffe immer neue Flüchtlinge auf das Festland und an den Grenzort Idomeni? Warum hat die griechische Regierung da versagt? Sind die Balkan-Staaten wirklich nur Schurken, wie der SPIEGEL suggeriert, oder vollziehen sie vielleicht das Geschäft, dessen Profit bei Angela Merkel landet, weil sie den Druck wegnehmen? Welche seltsame Doppelrolle spielt die deutsche Politik bei dem Geschehen? Hilflos schreibt sich der SPIEGEL daran vorbei. Ja, seine Reporter/innen waren an vielen Orten. Aber es fehlt die Analyse des Geschehens. Die Titelgeschichte wirkt dadurch seltsam aus der Zeit gefallen.
Die Grünen – schaffen die es?
Ähnlich ist es mit der Story über „Das Beben der Macht“. „Der Aufstieg der Grünen in Baden-Württemberg rüttelt das Parteiensystem durcheinander“, lautet die These. Das stimmt für Baden-Württemberg. Aber bundesweit ist es eher die AfD, der das gelingt, wie beispielsweise dieser Beitrag des früheren Kohl-Demoskopen Wolfgang Gibowski plastisch zeigt – aber nicht im Spiegel. Und die Grünen könnten in Rheinland-Pfalz an der 5-Prozent-Hürde scheitern, ebenso in Sachsen-Anhalt. Welche Parteiendämmerung bevorsteht, wie Tomas Spahn auseinander klamüsert, gehört auch dazu. Nun mag es ja sein, dass man die AfD nicht mag in Hamburg, aber so ist das eben mit der Wirklichkeit: Man darf keine Angst haben vor ihr. Dann wird es ein gutes Heft, und nicht nur ein guter Werbespruch.