Gelegentlich kommt es zu Ereignisssen, die zwar medial auf allen Kanälen übertragen werden – aber nicht unmittelbar ins Bewusstsein eindringen, als ob sie zu groß wären für die engen Maschen unserer Wahrnehmung. So ein Ereignis ist die Erklärung von EU-Ratspräsident Donald Tusk auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit dem dazu grinsenden griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras.
„Kommen Sie nicht nach Europa“
Also sprach Tusk: „Und deswegen appelliere ich an alle potenziellen illegalen Wirtschaftsmigranten – egal, woher sie stammen: Kommen Sie nicht nach Europa. Glauben Sie nicht den Schmugglern. Riskieren Sie ihr Leben und ihr Geld nicht.”
Was er sagt, ist nichts anderes als: Europa wird versuchen, in Mazedonien seine Außengrenzen zu schützen und möglichst keine Flüchtlinge mehr durchlassen; schon gar nicht unbegrenzt wie Deutschland erklärtermaßen seit dem 4. September, auch nicht in großer Zahl, und auch nicht – anders als Deutschland – ohne Ansehen der Herkunft und der Fluchtgründe.
Tusks Aussage bedeutet zugleich auch: Es wird jenseits dieser begrenzten Zahl auch keine Verteilung quer durch Europa geben.
Und scheinbar nebenbei steckt in diesem lapidaren Satz noch: Europa verlässt sich nicht auf den türkischen Präsidenten Erdogan als Türsteher, sondern schützt seine Außengrenzen selbst.
Wenn Griechenland sich – wie bisher – weigert, seinen Verpflichtungen aus dem Schengen-Abkommen nachzukommen, dann ist Griechenland eben plötzlich außerhalb der gemeinsamen Grenzen. Griechenland, dieser renitente, wehleidige Halbstarke, steht plötzlich vor der Eingangstür zur Euro-Disco, an deren Bar er sich so gerne gratis bediente und Gäste anmachte. Wie gelassen das Tsipras hinnimmt ist die Überraschung. Sein Land liegt jetzt vor dem Zaun. Merkel war übrigens die Letzte, die auch das zu verhindern versuchte.
Schaut man genau hin, hat Donald Tusk damit alle, aber auch alle Elemente der Flüchtlingskanzlerin Angela Merkel beerdigt.
Das ist auf europäischer Ebene die Entmachtung der Kanzlerin. Sie darf noch weiter deutsche Talk-Shows bedienen, aber ihre Politik ist ohne Fahrwerk krachend gelandet. Es ist nicht so, dass dies alles ohne Vorwarnung geschehen wäre.
Merkel selbst hat am Mittwoch die „Politik des Durchwinkens“ als beendet erklärt
Die Kanzlerin selbst hat ja am Mittwoch erklärt, die „Politik des Durchwinkens“ sei vorbei. Die Lage an der mazedonischen-griechischen Grenze sei nicht mit der Situation in Ungarn im September zu vergleichen. Damals hatte die Kanzlerin die Aufnahme der in Ungarn gestrandeten Flüchtlinge zugesagt, in der Folge kamen Hunderttausende Menschen in Deutschland an.
Heute dagegen fordert Merkel, dass die Flüchtlinge die Aufnahmezentren in Griechenland nutzen sollten. Auch das Schengen-Land Griechenland und nicht nur Mazedonien müsse seine Grenzen schützen. Dann könne man in der EU die vereinbarten 160.000 Flüchtlinge verteilen, die in den EU-Staaten mit Außengrenzen ankämen. Merkel: „Es gibt eben nicht ein Recht, dass ein Flüchtling sagen kann, ich will in einem bestimmten Land der EU Asyl bekommen“.
Angela Merkel hat also Tusk Prokura erteilt oder sich um 180 Grad gewendet oder beides. Lieber eine späte Einsicht, vielleicht eine halbe Million Flüchtlinge zu spät, als gar keine Einsicht.
Das ist nicht weniger als eine Bankrotterklärung für praktisch alle Elemente ihrer Flüchtlingspolitik. Die europäische Löung kommt, aber eben genau nicht jene, für die Merkel steht.
Wie gesagt, so richtig ins Bewusstsein des deutschen Publikums gelangt ist diese Botschaft noch nicht, auch, weil noch nicht ins Bewusstsein vieler Medien. Die Botschaft weicht so sehr von der Wunschwelt ohne Grenzen ab, dass sie einfach nicht geglaubt wird. Es zeigt sich: Wunschwelten leben länger, Realpolitik hat einen schweren Stand in Deutschland.
Anne Will II scheint schon ewig her zu sein
Noch bei Anne Will, die Show war erst am vergangenen Sonntag und scheint doch schon ewig her zu sein, gab sich Merkel zuversichtlich. Zugegeben: Sie wurde ja auch nicht hart befragt. Sie konnte wie eine evangelische Pastorin beim Konfirmanden-Treffen Sätze absondern wie, dass der feste Glaube Berge versetze, ein Satz der Dichterin Marie von Ebner-Eschenbach.
Was für die Sonntagspredigt immer geht, geht für die reale Politik leider nicht. Aber viele ihrer Fans wollten genau das glauben. Bei Anne Will wurde eine entrückte Kanzlerin sichtbar, die sich in ihrem eigenen, geschlossenen System bewegt, das aber entschieden. Das machte sie auch sehr überzeugend. Die Kanzlerin im TV, der Zuschauer davor, das ist ja ein eigenes, geschlossenes System bei geschlossener Wohnzimmertür und einer Nacht vor sich. Aber spätestens am Montag geht das reale Leben außerhalb wieder weiter. Und da zeigt sich Angela Merkel fast als eine tragische Figur, die ihr Scheitern nicht so richtig wahrnimmt. Viele Leser haben uns geschrieben, dass sie sich für „verrückt“ gehalten haben, weil die TV-Inszenierung so wenig mit ihrem Lebensgefühl und dem ihrer Nachbarn und Freunde zu tun hat.
Zum Scheitern zählt, dass ihr Koalitionspartner und Vizekanzler Sigmar Gabriel ihr „Täuschung“ über die Kosten ihrer Flüchtlingspolitik vorwirft.
Zum Scheitern zählt, dass die jüngsten Meinungsumfragen zu den Wahlen in Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz katastrophale Ergebnisse sowohl für Union wie SPD erwarten lassen.
Die SPD als Volkspartei wird ausgeknipst und die CDU rutscht in die unteren Stockwerke des 30-Prozent-Turms; nicht einmal für die lange erhoffte Große Koalition dürfte es noch reichen, sie sind beide nicht mehr groß genug.
Nur mühsam greift diese Erkenntnis in den deutschen Medien Platz. Die wendige ZEIT schreibt schon auf dem Titel über die CDU, dass die Volkspartei das Volk fürchte.
Das linke Lager verliert seine Deutungshoheit
Zum Scheitern zählt, dass die Wut der Bürger sich auf der Straße deutlich macht; die Linkspopulistin Claudia Roth, der sonst doch gerne jede Beleidigung über die Lippen kommt, gab zu, „seit neuestem“ auch auf offener Straße „auf’s Übelste beschimpft und von wildfremden Menschen angeschrien worden“ zu sein.
Das Linke Lager verliert die Stimmungshoheit und die Deutungsmacht, die es in der Flüchtlingskrise gewonnen und triumphierend ausgespielt hat. Über den Politiker der Grünen Volker Beck, der von Drogenfahndern vermutlich nach einem Besuch beim Dealer gefast wurde, ergoß sich kübelweise Häme. Nun ist Drogenkrankheit eher Veranlassung für einen Platz in der Suchttherapie statt im Plenarsaal des Bundestages. Dass ihre eigenen Maßstäbe dabei nicht für sie selbst gelten, macht die Grünen bei Fehltritten wie dem aktuellen von Volker Beck besonders angreifbar. Setzt sie mehr Häme, mehr Spott und mehr Niedertracht aus. Die Grünen ziehen sehr hart mit politischen Gegnern ins Gericht, rücken diese gerne und ohne jede Scheu in die Nähe des Nationalsozialismus. Das zeichnet diese Partei und ihre Sympathisanten in einem ganz besonderen Maße aus.
Im Falle einer Verfehlung in den eigenen Reihen bricht das dadurch aufgebaute entstandene Vakuum auf und Luft presst sich unter Hochdruck hinein in einen Raum, der durch Totschlagargumente kontaminiert wurde. Aber diese moralisierende Überheblichkeit geht offenkundig immer mehr Menschen zunehmend auf die Nerven.
Merkel hat sich bewusst als Kanzlerin des rot-grünen Mainstreams inszeniert. Sie hat dort die Nähe und den Schulterschluss gesucht und sich gegen die Kritiker in der eigenen Parteienfamilie – nicht nur Seehofer – gewandt.
Merkel, Kanzlerin der Anderen
Das wird ihr jetzt zum Verhängnis, denn in den anstehenden Landtagswahlen steht ja nicht Merkel zur Wahl, sondern Winfried Kretschmann von den Grünen oder Malu Dreyer von der SPD. Kein Wunder, dass die CDU-Kandidatin Julia Klöckner die Nähe zum Wähler und die Distanz zur Kanzlerin betont, während Dreyer sich an den Rockzipfel der Kanzlerin hängt: Merkel ist längst zur Kanzlerin der Anderen geworden.
Und jetzt also ist ihre Politik gescheitert. In Europa ist sie längst nicht die mächtigste Frau, der eher zweitrangige Donald Tusk verkündet ihr Scheitern und der juvenile österreichische Außenminister Kurz, der Außen-Burschi einer Mikro-Republik in Merkels Augen, ist der erfolgreiche Schmied einer Anti-Merkel-Koalition, die sich der Zustimmung Europas sicher sein kann. Merkel hätte dieses Signal selbst setzen können, viel früher. Jetzt kommt sie zu spät, und wer zu spät kommt, den bestraft bekanntlich das Leben. Bei Politik tragen die Bürger die Folgen.
Merkel hat Deutschland in Europa isoliert. Das wiegt schwer. Nun ignorieren sie praktisch alle anderen in der EU. Der bisherige Zustrom von weit über einer Million Flüchtlingen in Deutschland muss gesellschaftlich erst bewältigt werden, das geht nicht per Knopfdruck. Der Situationspolitiker Gabriel hat begriffen, dass dies den Sozialstaat und den sozialen Zusammenhalt gleichermaßen belastet. Die bisherige Parteienlandschaft könnte in Trümmer gehen; das auf Verlangsamung angelegte deutsche politische System kennt keine schnellen Wenden, wie sie in Frankreich oder Großbritannien per Wahlzettel möglich sind. Aber der Grundstrom hat nach Rechts gedreht. Ohne die CDU. Das dramatische Scheitern Merkels dringt nur langsam ins Bewusstsein. Dann aber nachhaltig.