Schon wieder ein Land, das von einem Enfant terrible regiert wird. Und nicht irgendein kleines Land, dem man leichtfertig ein Demokratiedefizit attestieren kann. Sondern das Land, das die parlamentarische Demokratie erfunden hat: Großbritannien.
Sind die Briten verrückt geworden? Der „Spiegel“ scheint dieser Ansicht zu sein. Das Magazin stellte den neuen britischen Premier Boris Johnson bezeichnenderweise auf seinem Titelbild wie Alfred E. Neumann dar, das Maskottchen der Witz-Zeitschrift „Mad“. Und zur scheinbaren Bestätigung, dass es sich um einen Verrückten handelt, lässt Spiegel-TV einen x-beliebigen Engländer aus Johnsons Wahlkreis Uxbridge in die Kamera sagen: „He’s a clown“. Eine weitere Passantin sagt, der „Idiot“ solle als Komödiant auftreten „gemeinsam mit Donald Trump“.
„Boris“, wie ihn sowohl Lover als auch Hater nennen, ist zweifellos ein zu Faxen neigender Selbstdarsteller. Im Netz findet man auf Anhieb jede Menge alberner Bilder von ihm. Die Karikaturisten dürften nicht viel weniger Freude an ihm haben als an Trump. Aber sein Erfolg – bisher ist er nur von der Basis der Konservativen Partei gewählt – ist eben kein Unfall. Weder Johnson, noch die britischen Konservativen, die ihn an die Macht brachten, sind „mad“. Sie haben ein Interesse. Er verspricht ihnen, was vermutlich auch eine Mehrheit aller Briten will: das eigene Land ins Zentrum des Regierungshandelns zu stellen. Johnson mag ein Spaßmacher sein, aber kaum jemand zweifelt daran, dass es ihm mit einer Sache ernst ist: Großbritannien wird die EU zum Ende des Oktober verlassen, vermutlich ohne Vertrag.
Johnson ist Indiz einer Veränderung der politischen Kultur – in Großbritannien und im Rest von Europa. Und den etablierten Politikeliten in Berlin gehen allmählich die Gleichgesinnten in anderen Hauptstädten aus. In Washington, aber auch in Rom, in Warschau, in Budapest und nun auch in London regieren Politiker, die zwar keine gemeinsame Agenda verfolgen, aber doch eines teilen: ein Verständnis von Demokratie und der Aufgabe von Politik, das jenes der etablierten Parteipolitiker in der EU, vor allem aber Deutschlands, in Frage stellt.
Um den Riss zu verstehen, der Europa und den Westen (nicht nur die EU) zunehmend trennt und die Verständigungsfähigkeit und auf längere Sicht möglicherweise damit auch den inneren politischen Frieden gefährdet, genügt aber nicht der Blick auf die so genannten Rechtspopulisten von Matteo Salvini bis Viktor Orbán und auf Politikerphänomene wie Donald Trump und Boris Johnson. Es wird immer unwahrscheinlicher, dass diese Regierungspolitiker der anderen Art rasch wieder verschwinden. Und es wird immer deutlicher, dass ihr Erfolg nicht aus sich selbst zu erklären ist.
Eine „demokratische Partei“, das ist dementsprechend in jüngerer Zeit nach einhelliger Lesart der Berliner Mitte nur eine, die diese – ihre – Haltung zeigt und in politische Positionen umsetzt. Demokratisch zu sein, das bedeutet dann nicht mehr unbedingt, die demokratischen Regeln zu akzeptieren, vor allem Mehrheitsentscheidung und Minderheitenschutz. Sondern demokratisch zu sein, das bedeutet in erster Linie für möglichst wenig begrenzte Zuwanderung zu sein, am Nutzen der Währungsunion ebenso wenig zu zweifeln wie an der Notwendigkeit radikaler Klimaschutzmaßnahmen. Und nicht zuletzt: den Nationalstaat für weitgehend überlebt und durch die Europäische Union überwindungsbedürftig zu halten. Wer diese Haltung nicht zeigt, kann demnach nicht mehr den Anspruch haben „demokratisch“ zu sein. Grundsätzlicher Widerspruch im Namen eigener nationaler oder Gruppeninteressen gilt dann als illegitim.
Solch tief wurzelnde, theoretisierende Programmatik ist Johnsons Sache nicht. „Illiberalität“ und politisches Christentum hat er sich auch nicht auf die Fahne geschrieben. Und doch kann Orbán, der eigentliche intellektuelle Widersacher der Etablierten, Johnsons Ernennung als Erfolg verbuchen: In London regiert einer, der seinen Nationalstaat nicht nur erhalten, sondern sogar „zum großartigsten Land der Welt machen“ will.
Und dieses Land ist nicht nur ein großes Land, eine frühere Weltmacht, sondern das Mutterland des Parlamentarismus. Demokratie und Nationalstaat sind, daran erinnert Großbritanniens Weg vom Brexit-Referendum zu Johnsons Regierungsübernahme, kein Widerspruch. Im Gegenteil. Der Nationalstaat, diese erfolgreiche europäische Erfindung, war das einzige politische Gehäuse, in dem sich Souveränität und Volk verbinden konnten.