Israel-Berichterstattung im öffentlichen deutschen Fernsehen – das ist nach wie vor ein problematisches Terrain, sowohl bei ZDF als auch bei der ARD.
Am 10. Juli 2019 strahlte der Südwestrundfunk (SWR) den Film „Lea Tsemel, Anwältin“ aus, eine Dokumentation über eine israelische Juristin, die sich für Palästinenser einsetzt.
Bei dem Film handelt es sich um eine israelisch-kanadische Produktion in Zusammenarbeit mit den ARD-Anstalten SWR und NDR. Er war beim Sundance Festival in Park City, Utha, im Januar 2019 uraufgeführt worden. Für öffentlich-rechtliche Verhältnisse kam den Film sehr schnell ins deutsche Programm.
Jedenfalls schaffte es der SWR nicht, einen Faktencheck bei „Lea Tsemel, Anwältin“ durchzuführen. Er strahlte die Dokumentation aus, obwohl sie gravierende Fehlinformationen enthält.
Schon der erste Teaser auf der Webseite des SWR machte deutlich – hier sitzt Israel auf der Anklagebank:
„Israels Besatzung palästinensischer Gebiete führt seit Generationen zu blutigen Auseinandersetzungen. Auf palästinensischen Widerstand folgt israelische Expansion, eine friedliche Lösung des Konflikts ist in weite Ferne gerückt.“
Also: erst „palästinensischer Widerstand“, dann „israelische Expansion“. Dass schon unmittelbar nach der Gründung Israels 1948 mehrere arabische Länder den jungen Staat unter dem Schlachtruf: „Werft die Juden ins Meer“ angriffen, erwähnte der Sender nicht.
Immerhin änderte die ARD später die Filmankündigung, und formulierte sie nicht mehr ganz so einseitig:
„Seit über 50 Jahren führt Israels Siedlungspolitik auf der einen und die Forderung der Palästinenser nach einem eigenen, offiziell anerkannten Staat auf der anderen Seite zu blutigen Auseinandersetzungen.“
Die entscheidende historische Verdrehung im Film selbst ließ der Sender allerdings unangetastet. An einer Stelle heißt es dort:
„Seit 1967 dehnte Israel sein Gebiet um das Dreifache aus“
Und weiter:
„…besetzte den Osten Jerusalems, die Golanhöhen, den Gazastreifen, das Westjordanland, Gebiete, die die Palästinenser für sich beanspruchen.“
Die Darstellung ist in einer schon grotesken Weise falsch. Vor 1967 hatte Israel – also ohne Gaza-Streifen, Westbank, Golanhöhen und Ostjerusalem – etwa eine Ausdehnung von 15.000 Quadratkilometern. Bei einer Ausdehnung um das Dreifache wären also 45.000 Quadratkilometer dazugekommen, das Territorium Israels müsste heute also gut 60.000 Quadratkilometer messen – ein Groß-Israel. Tatsächlich liegt die Staatsgröße heute bei 22.072 Quadratkilometern (etwa die Fläche Hessens), wie sich mühelos nachschlagen lässt. Dass die Formulierung im Film unmöglich stimmen kann, hätte eigentlich jedem Redakteur auffallen müssen.
Auch eine Ausdehnung auf das Dreifache – falls das von den Filmautoren gemeint sein sollte – würde bedeuten, dass Israel mit 45.000 Quadratkilometern doppelt so groß wäre wie in Wirklichkeit.
Dazu kommt: Den Gazastreifen – 365 Quadratkilometer – hat Israel schon 2005 vollständig verlassen. Im Westjordanland stehen von 5.655 Quadratkilometern Gesamtfläche 18 Prozent unter palästinensischer Sicherheits- und Zivilverwaltung (Zone A), 21 Prozent unter israelischer Sicherheits- und palästinensischer Zivilverwaltung (Zone B) und 61 Prozent unter israelischer Administration (C), also nur ein Teil und nicht das gesamte Gebiet. Die Golanhöhen (1.800 Quadratkilometer) wurden und werden außerdem nicht von Palästinensern beansprucht, sondern von Syrien.
Westbank, Ostjerusalem und der Gazastreifen waren auch nicht – wie der Film indirekt suggeriert – vor 1967 palästinensisches Territorium. Der Gazastreifen gehörte zu Ägypten, die Westbank wie Ostjerusalem zu Jordanien (die, solange sie selbst Besatzer waren, keine Anstalten machten, das Land den dort lebenden Arabern zu übergeben, die sich seit 1967 als Palästinenser bezeichnen).
Falls die „Ausdehnung um das Dreifache“ mit der Besetzung der Sinai-Halbinsel begründet werden sollte (obwohl sie in dem Film gar nicht erwähnt wird): Sinai wurde im Sechstagekrieg bekanntlich als Faustpfand besetzt, und eine Rückgabe schon 1967 von Israel gegen die Anerkennung des Existenzrechts Israels angeboten. Ab 1973 waren UN-Truppen auf der Halbinsel stationiert, im gleichen Jahr wurde ein erster Teil des Territoriums zurückgegeben. Nachdem Ägypten 1978 im Camp-David-Abkommen zu einem Friedensschluss bereit war, übergab Israel nach und nach das restliche Sinai – das letzte Stück 1982. Israel ist übrigens bis heute das einzige Land der Region, das jemals besetztes Land freiwillig zurückgegeben hat.
Von Palästinensern wurde die Sinai-Halbinsel natürlich nie beansprucht. Publico fragte beim SWR nach, wie der Sender mit dem historisch-geografischen Faktensalat in der Dokumentation umgeht.
Die Antwort kam umgehend, war höflich, und demonstrierte durchaus Problembewusstsein:
„Wir bedauern sehr, dass der Film bei Ihnen den Eindruck einer einseitigen Darstellung des israelisch-palästinensischen Konflikts hinterlassen hat und können Ihnen versichern, dass dies in keiner Weise unsere Absicht war. (…)
Um den eigentlichen Dokumentarfilm einzuordnen hat die Redaktion eigens eine Bild/Textfläche geschaffen. Hier findet sich auch die von Ihnen kritisierte Textpassage.
Um es gleich zu sagen: dass die Aussage ‚ ‘ […] seit 1967 dehnt Israel sein Gebiet um das Dreifache aus’ zu einem Missverständnis geführt hat, liegt sicherlich an unserer Formulierung. Mit diesem Satz sollte die Ausdehnung genannt werden, die Israel nach dem Sechstagekrieg 1967 innehatte. Tatsächlich war das Gebiet nach dem Sechstagekrieg um insgesamt 67.000 km² erweitert und rein numerisch bis zur späteren Rückgabe der Sinai-Halbinsel (1982) dreimal so groß wie vor 1967 (israelisches Staatsgebiet innerhalb der „grünen Linie“).
Leider können in einer kurzen Einführung nicht alle Zahlen der einzelnen Flächen aufgeführt werden.
Im Text geht es nach diesem Satz ja auch folgendermaßen weiter: ‘[…] besetzt den Osten Jerusalems, die Golanhöhen, den Gazastreifen, das Westjordanland. Gebiete, die die Palästinenser für sich beanspruchen.’ Diese Aufzählung macht nochmals deutlich, dass von 1967 die Rede ist. Die Verwendung des historischen Präsens ist ein gängiges Stilmittel und wurde nicht verwendet, um einen Gegenwartsbezug zu beabsichtigen.
Dennoch können wir nachvollziehen, dass durch das Wort ‚seit’ ein Missverständnis entstehen kann. Deswegen werden wir vor einer weiteren Ausstrahlung diese Textpassage entsprechend unmissverständlich neu formulieren.
Wir drücken nochmals unser Bedauern aus, dass es zu diesem Missverständnis gekommen ist und hoffen, dass dies durch die Korrektur im Text bereinigt sein wird.“
Mit freundlichen Grüßen
Wolfgang Utz
Unternehmenssprecher
Wenn die Berichterstattung über Israel und den Nahen Osten nüchterner wird, dann nutzt das allen – den öffentlich-rechtlichen Sendern wie dem zahlenden Publikum. Dass es etwas zu verbessern gibt, hat die ARD offenbar erkannt.
Der Beitrag von Alexander Wendt ist zuerst bei PUBLICO erschienen.