Ihre Sprachprüfung bestand Frau von der Leyen mit ihrer Bewerbungsrede in Französisch, Englisch und Deutsch zweifelsohne mit Bravour. Im Verlaufe des Tages danach zeichnete sich ab, dass aus den Fraktionen der Sozialdemokraten und von Renew (Liberalen), die sich vorher beide bedeckt gehalten hatten, wohl genügend Stimmen kommen dürften, um zusammen mit denen der EVP die nötige Mehrheit von 374 Stimmen zu übertreffen. Versprechen in praktisch alle Richtungen enthielt ihre Rede dafür ausreichend viele. Das ist risikolos, denn nach der Wahl lassen sich immer andere Schuldige finden, wenn sich Versprechen nicht einlösen lassen. Zumal sie nur prozedural wirken kann (was durchaus nicht zu unterschätzen ist), während wirklich wichtige Entscheidungen der Rat, die Versammlung der Regierungschefs der Mitgliedsländer trifft.
Um 19:34 Uhr das Ergebnis: 383 Stimmen für Frau von der Leyen.
Es ist unschwer vorherzusagen, dass die deutschen Medien heute Abend und Morgen früh voll der Vorschusslorbeeren sein werden: Ebenso wie nur wenige Pressestimmen auf die Tatsache eingehen werden, dass die EU in den nächsten fünf Jahren noch weniger bewegen können wird als in den letzten fünf.
Was Brüssel bevorsteht, wird in einer zunehmenden Zahl von Hauptstädten der Mitgliedsländer in Opposition zum bisherigen Weiter-so entschieden. Die so genannten Gipfel werden noch öfter ohne Ergebnisse auseinander gehen, weil es oft nicht einmal mehr zu Formelkompromissen reichen wird. Der Graben zwischen den Zentralisten und den Dezentralisten ist größer geworden, das haben gerade auch die 28 nationalen Wahlen zum Parlament der EU deutlich ergeben. Von der viel und oft beschworenen Rolle der EU zwischen den tatsächlichen Global Playern USA, China und Russland ist sie weiter weg denn je. Die Karten werden neu gemischt – innerhalb Europas und in der Welt.
Am Beginn der Amtszeit von Frau von der Leyen stehen mehr Fragen als beim Amtsantritt aller ihrer Vorgänger. Ihr Einfluss wird kleiner sein als der aller davor.