Es ist dieses das, was die Bedeutung ausmacht: Den eigenen Willen, die eigene Vorstellung zur Maxime zu machen. Anderen seinen Willen aufzwingen zu können und aufzuzwingen. Das, so zumindest in der Theorie der Demokratie, noch dazu zum Wohle aller. Denn da diese Alle mich, die Macht, zu dem gemacht haben, was ich bin, kann all das, was ich schaffe, nur zum Wohle dieser Allen sein. Wer dieses anders sieht, wer das von mir geschaffene Wohl kritisiert, ja vielleicht ablehnt, der ist ein Gegner der Macht. Und in der Demokratie ist er am Ende auch kein Demokrat. Denn wäre er dieses, so wäre die Erkenntnis dessen, was ich als Mächtiger an Wohl über mein Volk bringe, auch die seine.
Die Maxime der Macht
Mein Wille geschehe. Nicht im Himmel, vielleicht – doch auf Erden. Das ist die Maxime der Macht. Sie galt in der Antike, wenn Mächtige jene, die ihnen zu widerstehen wagten, auf dem Pfahle verrecken oder im Feuerofen verbrennen ließen.
Sie gilt, wenn unter fadenscheinigen Putsch- oder Terrorvorwürfen tatsächliche oder auch nur gefühlte Gegner inhaftiert werden, dort über Jahre auf ein Verfahren warten müssen, welches am besten niemals stattfindet, weil es dem Delinquenten vielleicht doch die unerwartete Chance geben könnte, seine Kritik öffentlich und wahrnehmbar zu formulieren.
Sie gilt, wenn die Camarilla eines Despoten jedwede Abweichung von der Norm des Mächtigen im Keime zu ersticken sucht und jedweden Protest als persönlichen Angriff auf den Herrschenden interpretiert.
Sie gilt, wenn unerwartete, sich auf Verfassungswegen an den Wahlen beteiligende Konkurrenz als undemokratisch diffamiert und deren Abgeordnetenchancen aufgrund von Ungeschicklichkeiten massiv eingeschränkt und so das repräsentative Demokratiemodell aus den Angeln gehoben wird.
Sie gilt, wenn Kritik an der Macht zum Staatsverrat stilisiert wird, wobei es einen nur noch marginalen Unterschied macht, ob das dann nach türkischem Muster wahlweise als Präsidentenbeleidigung oder Terrorismusunterstützung oder nach bundesdeutschem Muster als vorgebliche Hassrede und Rassismus kriminalisiert wird.
Die Droge der Unersättlichen
Macht ist die Droge der Unersättlichen. Sie sind unersättlich in ihrem krankhaften Bestreben nach Bedeutung. Die Bedeutung selbst machen sie unterschiedlich fest.
Manch ein Mächtiger definiert sich über den Reichtum, den er zumeist mehr über illegale als über legale Wege zusammenrafft. Es spielt dabei keine Rolle, ob dieser Reichtum einen tatsächlichen Nutzen hat. Denn was nutzen die gerafften Milliarden, wenn der Raffer in die Kiste springt, bevor kluge Wissenschaftler das Gen der Unsterblichkeit gefunden haben? Sie erfüllen am Ende nur einen einzigen Zweck: Wenn schon die Unsterblichkeit in der Ewigkeit nicht zu erreichen sein wird, so muss es zumindest die Unsterblichkeit der Macht des Sterblichen sein.
Volker Rühe sagte einmal in kleiner Runde, die eigentliche Errungenschaft der Demokratie sei die gefahrlose Möglichkeit des Rückzugs aus der Politik. Ein Wladimir Putin, dessen Privatvermögen auf bis zu 200 Milliarden Dollar geschätzt wird, muss in den Stiefeln des Präsidenten sterben. Ein Recep Tayyip Erdogan ebenso. Denn zögen sie sich vor dem Ableben aus der Politik zurück, würden ihre Nachfolger wie die Geier über das Geraffte herfallen und sehr schnell Wege finden, dem Raffer kriminelles Handeln zuzusprechen. Schon in der Antike galt: Der Sturz vom Olymp der Macht ist für den Tyrannen tödlich. Für den Demokraten der Neuzeit ist er nur eine Katastrophe.
Wenn der Mächtige über dem Volk schwebt
Die Droge Macht ist wie eine Dauerdosis jenes Modegetränks, welches angeblich Flügel verleiht. Der Mächtige fliegt über dem Sterblichen, über dem Bürger. Und je höher er fliegt, desto mehr verschwinden die Sorgen des Volkes aus dem Blick, desto kleiner und unbedeutender werden jene Ameisen, deren unerwartetes Fehlen Harry Lime alias Orson Welles als Begründung dafür anführte, Kinder mit gepanschten Antibiotika zu vergiften.
Der Mächtige verliert den Kontakt zum Volk, das er aus dem Blick verliert. Nur deshalb kann er seine Bürger im wahrsten Sinne des Wortes in den Krieg schicken, wohl wissend, dass viele der ihm Anvertrauten darüber ihr Leben verlieren werden. Nur deshalb kann er über den Kopf der Menschen hinweg Irrsinnsentscheidungen treffen, die langfristig die Lebensgrundlagen der ihm Anvertrauten oder deren Identität als solche vernichten kann.
Der Mächtige verliert, je länger er die Droge nimmt, jedweden Bezug. Erst zu jenen, die ihn mächtig gemacht haben. Dann zu jenen, die er um sich schart und die ihn gleich den Arbeiterinnen des Ameisenstaates beständig mit nur jenem füttern, nach dem es ihn in seiner Sucht verlangt. Am Ende zu sich selbst, denn die Psyche des Mächtigen agiert wie die Psyche des Süchtigen. Jedes Mehr an Macht erhöht die Abhängigkeit und den Bedarf nach noch mehr Macht. Und es schürt die unendliche Furcht, ja Panik des Junkies davor, seiner Droge verlustig zu gehen.
Die Droge der Unersättlichen
Die Unersättlichkeit des Süchtigen kann unterschiedliche Wege gehen. Bei den einen, die zumeist aus sozial „kleinen“ Verhältnissen kommen, ist die Unersättlichkeit der Macht gepaart mit der Unersättlichkeit des Geldes. Virile Alphamänner leben ihre Macht im Sex – Sex, Drugs n‘ Rock’n’Roll ist kein auf die Kunstszene beschränktes Phänomen. Es gilt nicht minder in der Politik, doch nur selten wird es so offenbar wie bei einem Willy Brandt oder einem Gerhard Schröder. Und doch weiß ein jeder, der nur ein wenig Kontakt hat zu jenen Kreisen, die in ihren Echokammern der Macht leben: Vor allem die Droge selbst ist die unerlässliche Droge des Spiels um die Macht. Für die einen ist es das traditionelle Kokain, für die anderen Crack und andere Chemikalien, für die eher Bodenständigen bleibt es traditionell beim Alkohol.
Für die meisten der Mächtigen jedoch ist die Macht selbst die Droge. Die Macht, über das Leben der anderen entscheiden zu können. Heute nicht mehr, indem wie einst beim römischen Cäsar über Leben und Tod der Daumen zum Einsatz kam – es reicht die Macht, mit seinen politischen Entscheidungen das Leben der anderen derart zu verändern, dass die eigenen Lebensvorstellungen zu deren Zwangskorsett werden. Das war schon beim jüdischen Hasmonäer so, beim christlichen Kaiser, beim arabischen Propheten und beim schiitischen Ajatollah.
Die Droge Macht bestimmt die Existenz der heute und der künftig Lebenden. Denn jede Entscheidung der Macht nimmt unmittelbar Einfluss eben genau darauf – und damit heute mehr denn je auf die Frage, ob künftige Generationen in einer freien, ungegängelten Gesellschaft leben dürfen, oder ob sie sich irgendwelchen realen oder fiktiven Zwängen der Macht zu unterwerfen haben, über deren Inhalt sie nicht das geringste Mitspracherecht haben.
Von der Unscheinbarkeit zur Meisterin der Macht
Merkel, deren Zitteranfälle nun einem Jedem signalisieren, dass ihre Macht sich dem Ende zuneigt, war eine Meisterin in dieser Unscheinbarkeit. Der Weg, den meine unscheinbare Nachbarin im DDR-Nobelplatteblock zwischen Berliner Behren- und Wilhelmstraße ging, könnte symptomatischer nicht sein. Aus einem uneitlen Nichts, einer wandelnden Bedeutungslosigkeit, die trotz ihrer damals schon vorhandenen Nähe zur Kohlschen Macht jeden Quadratmillimeter ihres Seins bestimmte und die für jedermann sichtbar wurde, der ihr bei ihrem Weg zum Ulrich-Supermarkt an der Mohrenstraße zufällig über den Weg lief, wurde eine Süchtige, deren Droge Macht nur noch diese Macht selbst ist.
Die Uneitelkeit Merkels brachte es mit sich, dass sie sich gegenüber den männlichen Machtexzessen von Sex und Geld als immun erwies. Die Asexualität und Androgynität ihres engsten Umfeldes ist sichtbares Zeichen dieser Unangreifbarkeit. Merkels Sucht der Macht ist subtil, vielleicht typisch weiblich. Stutenbeißen in Vollendung traf jeden, der sich Hoffnungen machte, in ihrem Dunstkreis vielleicht selbst zu den höchsten Weihen der Macht aufzusteigen. Ob der ewige Ausputzer Wolfgang Schäuble, ob der sich selbst ausmusternde Christian Wulff, ob der schwarzgrüne Testläufer Ole von Beust oder der ewige Ikarus Friedrich Merz – sie alle träumten vom Mehr an Macht und scheiterten an der Macht der wirklich Mächtigen.
Die Hybris der Unersetzbarkeit
Die Unersättlichkeit Merkels ist ihre Hybris der Unersetzbarkeit. Ein Merz durfte nicht Vorsitzender der CDU werden – denn er hätte sie intellektuell ersetzen können. Kramp-Karrenbauer kann es nicht – und deshalb machte Merkel sie zur Nachfolgerin.
Ein Volker Kauder, selbst ein perfekter Intrigant der Macht im Überschaubaren, sollte als ewiger Vasall die Truppen des Parlaments bei der Stange halten. Der Coup d’Etat des Ralph Brinkhaus organisierte eine erste Erschütterung der Macht – doch auch ihn sollte die Mächtige im Kanzleramt schnell an die Kette legen. Zumindest so lange sie noch die tatsächliche Macht in den Händen hält.
Es ist die weibliche Subtilität der Macht, mit der Merkel sich, das Land, die EU und am liebsten die Welt an sich steuert. Kritik und Widerspruch wird zu einem Schwall aus Sprachwatte verwirbelt, bis der eigentliche Sinngehalt jeder Nachvollziehbarkeit entgleitet. Wer sich dennoch nicht steuern lässt, der verschwindet. Über kurz oder lang. Zumindest dann, wenn er sich in erreichbarem Dunstkreis bewegt. Weggelobt die einen, ausgegrenzt die anderen. Versenkt jene, derer sie abschließend überdrüssig wurde.
Der Gencode und das Zittern der Macht
Und doch ist es mit der Macht auch heute noch so, wie es schon vor dreitausend Jahren im antiken Babylon gewesen ist. Wankt die Macht, stehen die Geier schon bereit. Der Mächtige darf keine Schwäche zeigen – die Mächtige erst recht nicht. Denn im Gencode des Machtwesens Mensch lauert immer das Tier, das über den Schwachen herfällt, um dessen Pfründe sich zueigen zu machen.
Zittert Merkel, zittern ihre Vasallen umso mehr. Es ist wie zu allen Zeiten: Der Hofstaat wird mit dem Herrscher beerdigt. Deshalb darf Merkel nicht zittern, muss sich selbst ihr Mantra des „Ich schaffe das“ einreden. Und wenn sie auch noch so zittert, dann geht es ihr doch gut – meint sie. Vielleicht glaubt sie dann sogar, dass das Volk ihr auch dieses glaubt. Denn sie ist die Macht – und das Volk ist ihr noch immer gefolgt, selbst wenn es um den Weg in die Selbstzerstörung ging.
Zittert Merkel, werden aber auch die Geier wach. Die sozialdemokratischen Vasallen versagen die Gefolgschaft bei der Ernennung der Merkel-Getreuen zum Chefkommissar der EU. Die Grünen Lobhudler nicht minder. Und das Bauernopfer Manfred Weber lässt sich mit einem ungedeckten Scheck abspeisen, der ihm in zwei Jahren die Präsidentschaft über das Parlament der EU verspricht. Dabei sollte er doch aus der Vergangenheit wissen, dass sozialdemokratische Zusagen nicht einen Pfifferling wert sind. Sozialisten verraten ihre Partner nach Bedarf dann, wenn es ihnen einen unmittelbaren Nutzen verspricht. Das war so, als sie in Berlin den Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen in die Wüste schickten – das war so, als ein Martin Schulz nicht von der Macht lassen wollte – das ist so in zahlreichen kommunalen Kleinparlamenten, wenn es der Sozialdemokratie kurzfristig zu nutzen scheint. Und das wäre so, wenn die SPD sich angesichts der Merkelschen Schwäche einen Zugewinn bei Neuwahlen versprechen könnte.
Zittert Merkel, werden auch die Parteifreunde wach. Jene, die sich bislang in der Dunstspur der Macht bewegten, beginnen, über die Macht nach dem Ende der Allmächtigen nachzudenken. Über Ihre Macht, von der auch sie träumen wie der Süchtige vom nächsten Trip. Und sie bringen sich behutsam in Stellung und ins Gespräch, wie jener Aachener Karnevalist aus der Düsseldorfer Staatskanzlei.
Das Drama der Macht
Es ist das Drama der Macht, wie jeder Junkie von der Droge nicht lassen zu können. Das Ende kommt gewaltsam – und den Entzug überstehen Politjunkies noch weniger erfolgreich als normale Drogenabhängige. Das Belohnungszentrum im Gehirn, das den Süchtigen zum Süchtigen macht, lebt von der ständigen Erhöhung des Lustreizes. Macht, dieses euphorisierende Gefühl des Gottgleichen, ist das Lustgefühl an sich.
Der Cold Turkey trifft den Politjunkie deshalb mehr noch als den Opiumabhängigen. Er suggeriert ihm neben dem tatsächlichen Verlust der Macht und dem unendlichen Absturz in das Höllenloch der Bedeutungslosigkeit die Ewigkeit des Verlustes des Einzigen, das für sie sinnbestimmend ist. Jürgen Echternach, längst in der Vergessenheit entschwundener Machthaber über die Hamburgische CDU, dessen stalinistische Allüren Legende waren, klammerte sich nach dem selbstverursachten Ende seiner Alleinherrschaft noch über Jahre an den Vorsitz der Senioren Union. Im Kreise der Vertrauten begründete er, ein kleiner Zipfel der Macht sei immer noch besser als absolute Macht-Losigkeit. Die Droge beherrscht den Mächtigen auch in der Bedeutungslosigkeit – nicht er die Droge und nicht er die Welt oder sein Land oder sein Volk oder sich selbst.
Das Ende ausblenden
Die Unersättlichen können nicht an das Ende denken. Sie leben den Traum der Unsterblichkeit, weil eine göttliche Fügung sie zu Unentbehrlichen gemacht zu haben scheint und ihr irdisches Ende den Untergang der Welt manifestiert. So bewegt sich der Politjunkie, je länger er die Droge Macht inhaliert hat und je näher dann das doch unvermeidliche Ende kommt, umso näher jenem fernen Nirwana, in dem sich reale Welt und mystische Hybris zu einem neuen Universum der Unendlichkeit vereinen.
Die Pharaonen stiegen in den Himmelwagen, um die Ewigkeit dort zu verbringen, wohin sie sich selbst gedacht hatten: bei den unsterblichen Göttern. Aber wohin steigen die Unersättlichen der Macht, wenn ihre Macht verweht?
Sie träumen vom Firmament der Unsterblichkeit in der ewigen Ahnengalerie der Mächtigen – und verzehren sich nur allzu häufig in der Verdammnis ihrer selbstgeschaffenen Hölle der finalen Ohnmacht.