Am 25.06. kommentierten Tichys Einblick und Vera Lengsfeld den Hohn, der darin besteht, ausgerechnet Gregor Gysi als Festredner zu bestellen und damit den Bock zum Gärtner zu machen. Am 26.06. verfassten DDR-Bürgerrechtler einen Protestbrief.
Im Mai berichtete die Leipziger Volkszeitung, dass Gregor Gysi die Festrede zum 30. Jahrestag der Friedlichen Revolution halten soll, den die Leipziger Philharmonie mit der 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven begehen möchte. So weit ich sehe, ging die Meldung damals unter. Am 25.06. kommentierten Tichys Einblick und Vera Lengsfeld den Hohn, der darin besteht, ausgerechnet Gregor Gysi als Festredner zu bestellen und damit den Bock zum Gärtner zu machen. Am 26.06. verfassten DDR-Bürgerrechtler einen Protestbrief, den bis jetzt über 420 Bürger und Bürgerinnen unterschrieben haben, „die ein breites politisches Spektrum Deutschlands vertreten …“ Sie „sind empört darüber, dass ausgerechnet Gregor Gysi am 9. Oktober 2019 in einer Leipziger Kirche eine Festrede zum Jahrestag der ostdeutschen Revolution halten soll. Unter den Unterzeichnern und Unterzeichnerinnen befinden sich Vertreter und Vertreterinnen der DDR-Opposition, aus der DDR-Aufarbeitung, aus der Wissenschaft, Kunst und Kultur sowie politische Akteure aus Ost und West“, heißt es in der Pressemitteilung der Initiatoren. Inzwischen berichten u.a. die LVZ und auch die ZEIT über den Protest.
Dass Tilman Steffen von der ZEIT tendenziell Gysi in Schutz nimmt, dokumentiert, wes Geistes Kind das Hamburger Wochenblatt inzwischen ist. Wenn Steffen schreibt: „Gysi gehörte in der DDR nicht zur ersten Reihe der SED-Staatsführung, trat aber in der Umbruchphase von 1989 zunehmend für Veränderungen ein“, dann parodiert sich der Satz selbst. Für Veränderung oder Eindämmung des Umbruchs? Steffen behauptet, dass nun die Meinungen aufeinanderprallen würden, wer die Friedliche Revolution für sich beanspruchen darf. Unterstellt die ZEIT wirklich allen Ernstes, dass die Friedliche Revolution Gysis Werk war? Hier wird eine Frage konstruiert, die keine ist. Das ist an Dreistigkeit nicht zu überbieten, reiht sich aber in die Bemühungen ein, die Erinnerung daran, dass die Ostdeutschen Freiheit und Demokratie erkämpften, zunehmend zu verfälschen und die Aufarbeitung des DDR-Unrechtes, wie es jüngst die Amadeo Antonio Stiftung tat, als Wirken rechter Kräfte zu verunglimpfen. Der Freiheitswille mag einer einst liberalen Zeitung, die inzwischen Verbote, Verbote, Verbote fordert, als Sünde schlechthin gelten, doch so unterschiedlich, wie die Unterzeichner des Briefes auch die Welt sehen und so weit auseinander ihre politischen Überzeugungen liegen, so eint sie, dass sie sich dem neuen Geschichtsrevisionismus entgegenstellen, der mit dem Gastredner Gysi die Friedliche Revolution zu einer Haupt- und Staatsaktion der SED zu machen versucht. Es waren die Bürgerrechtler, die Friedens- und die Umweltgruppen, die Menschenrechtsinitiativen und schließlich die vielen mutigen Bürger, die sich nicht mehr einschüchtern ließen und zu Recht skandierten: Wir sind das Volk.
Der Protest entzündet sich auch nicht daran, wie die ZEIT behauptet, dass Gysi „seit 1967 SED-Mitglied und zur Wendezeit, seit dem 9. Dezember 1989, Chef der SED-PDS“ war, sondern, dass er das Vermögen und den Funktionärsapparat der SED über die Wende rettete. Im Jargon von Gysis Genossen könnte man Gysis Wirken auch konterrevolutionär nennen. Steffen schreibt: „Die Autoren werfen Gysi zudem vor, er habe als Rechtsanwalt und Parteichef die Auflösung der SED verhindert, weil er und seine Partei „vor allem das große Vermögen der SED, aber auch politischen Einfluss“ nicht verlieren wollten. Nun beanspruchten sie „offenbar sogar noch im Nachhinein die Revolution für sich“. Was Steffen in dubioser Manier unterschlägt, ist, dass es sich nicht um einen reinen Vorwurf, sondern um belegbare historische Tatsachen handelt. Allerdings muss der ZEIT-Journalist die Tatsachen zum bloßen Vorwurf verkleinern, um eine Lanze für seinen Helden, Gregor Gysi, zu brechen. Dass Steffen den Artikel mit Schorlemmers wirrer Verteidigung Gysis und mit Gysis zynischer Selbstrechtfertigung beendet, beweist, welchen Zweck der Artikel dient, nämlich dem Versuch die Geschichte umzuschreiben. Gysis täte es gern und die ZEIT scheint dabei gern behilflich zu sein. Während der erst Grund für den Protest verwässert wird, wir der zweite erst gar nicht erwähnt. Nicht nur, dass Gysi Partei und Parteivermögen rettete, so hat Gregor Gysi „in den letzten 30 Jahren … als wichtigster Funktionär der mehrfach umbenannten SED die Aufarbeitung der SED-Diktatur persönlich und als Funktionsträger behindert.“
Zur Stunde hört man Widersprüchliches. Es heißt, die Philharmoniker hätten Gysi als Gastredner zurückgezogen. Von den Philharmonikern erfährt man nichts, außer, dass man sich am Montag äußern wolle. Die Unterschriftensammlung, die am Montag den Philharmonikern übergeben werden soll, geht indes weiter und es kann nur hilfreich sein, wenn jeder Bürger und jede Bürgerin den Brief, den wir im Anschluss veröffentlichen, unterschreibt.
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