Tichys Einblick
Die GroKo soll möglichst lange halten

Die wahre Stärke der SPD besteht in der Kunst der Selbstbeschäftigung

Unter den 146 SPD-Abgeordneten ist die Neigung, sich Neuwahlen zu stellen, gering. Nach dem Stand der Umfragen würde die SPD-Fraktion auf rund 80 Mitglieder schrumpfen.

TOBIAS SCHWARZ/AFP/Getty Images

Vor drei Wochen hat Andrea Nahles Schluss gemacht mit ihrer SPD. Rücktritt vom Parteivorsitz, Rücktritt vom Fraktionsvorsitz, Schluss, aus und vorbei mit der Politik. Das hat die Partei völlig unvorbereitet getroffen. Doch hat der Nahles-Abgang auch zugleich die eigentliche Stärke der Sozialdemokraten offenbart: Das Funktionärscorps und der Apparat arbeiten weiter vor sich hin, als wäre nichts geschehen.

Man weiß nicht, ob man angesichts der Nonchalance dieser Partei in Beifall ausbrechen oder den Kopf schütteln soll: Der Nachfolger oder die Nachfolgerin oder das Nachfolge-Pärchen wird, so hat es der Vorstand festgelegt, erst Anfang Dezember vom Parteitag gewählt. Genauer: Die Delegierten dürfen dann absegnen, was die Parteimitglieder vorher beschlossen haben. Es wird also genau sechs Monate dauern, bis die Sozialdemokraten wieder eine voll handlungsfähige Parteispitze haben. Alexander Dobrindt sieht darin – ganz pragmatisch – einen Vorteil für das Regierungsbündnis. Solange die SPD keinen richtigen Vorsitzenden habe, so der CSU-Mann, könne sie auch die GroKo nicht verlassen.

Dobrindt hat Recht und alle, die sich wie Friedrich Merz (CDU) bereits darauf festgelegt haben, die Große Koalition werde den Jahreswechsel nicht überstehen, sollten darauf keine allzu hohen Wetten abschließen. Denn der oder die neue(n) Vorsitzende(n) hat oder haben nach der gegenwärtigen sozialdemokratischen Praxis gar keine Prokura, um das Bündnis zu beenden. Dass die SPD nach der verlorenen Bundestagswahl in der Regierung geblieben ist, war das Ergebnis einer Mitgliederentscheids. Folglich muss die neue Führung, falls sie die Koalition verlassen will, abermals die Basis befragen. Das wird sich nicht zwischen Weihnachten und Neujahr erledigen lassen. Die Hängepartie, ob die SPD weiterhin mitregieren wollen darf, kann sich also noch hinziehen.

In der Fraktion gilt „business als usual“

Während die Partei vollauf mit sich selbst beschäftigt ist – Regionalkonferenzen mit den Bewerbern um den Parteivorsitz, ein oder zwei Wahlgänge beim Mitgliederbescheid, Bundesparteitag mit Vorsitzenden-Kür – arbeitet die Bundestagsfraktion der SPD nach der Methode „business as usual“. Der kommissarische Fraktionschef Ralf Mützenich macht seinen Job professionell. Auch gibt es keine ernsthaften Diskussionen über eine Fraktions-Doppelspitze unter Berücksichtigung verschiedener Geschlechter und unterschiedlicher politischer Strömungen. Deshalb spricht vieles dafür, dass Mützenich Anfang September von der Fraktion zum Nahles-Nachfolger gewählt wird.

Unter den 146 SPD-Abgeordneten im Bundestag ist die Neigung, die Koalition zu verlassen und sich eventuell Neuwahlen zu stellen, viel geringer als bei den Kevin Kühnerts in der Partei, die an eine Erneuerung der SPD in der Opposition glauben. Nach dem gegenwärtigen Stand der Umfragen würde die SPD-Fraktion in einem jetzt zu wählenden Parlament auf rund 80 Mitglieder schrumpfen. Da aber niemand angesichts eines kaum zu durchschauenden Wahlsystems mit zahllosen Überhang- und Ausgleichsmandaten vorhersagen kann, für wen es auch bei einem SPD-Ergebnis von 13 oder 15 Prozent noch für einen Platz unter der Reichstagskuppel reichen könnte, muss die Hälfte der aktuellen Fraktion um das eigene Mandat bangen. Ganz nebenbei: Ein Profiteur von vorzeitigen Neuwahlen wäre wohl Juso-Chef Kühnert. Der ist zurzeit in Berlin auf Suche nach einem Wahlkreis.

Dreyer will einen Wahlkampf ohne GroKo-Ballast

Während in der Bundestagsfraktion ein nachvollziehbares Interesse an einer Vermeidung von Neuwahlen besteht, sieht es in den Ländern anders aus. Von der amtierenden Co-SPD-Vorsitzenden Malu Dreyer ist bekannt, dass sie es lieber sähe, wenn sie 2021 ohne den vermeintlichen GroKo-Ballast in die rheinland-pfälzische Landtagswahl ziehen könnte. Das dürften die SPD-Verbände in Baden-Württemberg, Niedersachsen oder Berlin, wo ebenfalls 2021 gewählt wird, ähnlich beurteilen. In der Bundestagsfraktion hingegen klammern sich viele an die Hoffnung, dass ein GroKo-Aus nicht zwangsläufig zu Neuwahlen führen müsste. Da gibt es sogar Gedankenspiele, einer Minderheitsregierung von CDU und CSU gegebenenfalls beim Haushalt zur Mehrheit zu verhelfen, um das eigene Ende als MdB wenigstens bis zum Herbst 2021 hinauszuzögern.

Bei der SPD ist bis zum Jahresende mit folgendem Szenario zu rechnen: Noch vor dem Beginn des innerparteilichen Wahlkampfes muss die SPD bei den Landtagswahlen am 1. September in Brandenburg und Sachsen deutliche Stimmeneinbußen hinnehmen; in Thüringen wird das Ende Oktober nicht anders sein. Das wird die Nervosität der Mandatsträger weiter ansteigen lassen – und die der Mitglieder auch. Die Bundestagsfraktion wird nach der Sommerpause versuchen, mit einem Klimaschutzgesetz und der Grundrente zu beweisen, dass es besser ist, mitzuregieren als nur zu opponieren. Die Partei hingegen wird vollauf damit beschäftigt sein, auf 30 Regionalkonferenzen die Kandidaten und Kandidatinnen für den Vorsitz oder die Doppelspitze der Basis zu präsentieren, damit diese dann über die Nahles-Nachfolge abstimmen kann.

Die Frage „regieren oder opponieren“ wird lange weiter schwelen

Sollte im Dezember jemand die Nahles-Nachfolge antreten, der im Grunde in der Regierung bleiben will, werden die GroKo-Gegner vermutlich nicht klein beigeben. Sollte die SPD hingegen von erklärten GroKo-Gegnern geführt werden, ist die Lage klar. Dann wird die Partei-Linke auf einen neuen Mitgliederentscheid drängen. Wenn die Basis dann die neue Spitze nicht gleich wieder desavouieren will, muss sie Nein zur GroKo sagen.

Folglich wird die SPD auf Monate hinaus das Bild einer Organisation bieten, die sich in erster Linie mit sich selbst beschäftigt und ihre Kräfte in die Auseinandersetzung zwischen den Regierungs-Pragmatikern und den Oppositions-Ideologen investiert. Das mögen die Theoretiker größerer innerparteilicher Partizipation und die Befürworter von mehr Basisdemokratie begrüßen. Die Wähler wird das weniger interessieren. Die wollen wissen, wofür die SPD eigentlich noch steht. Aber das weiß die Partei halt selbst nicht so recht. Und zu einem wird der Prozess der Vorsitzenden-Kür sicher nicht beitragen: zu einer inhaltlichen Positionsbestimmung.

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