Ein Mensch ist selbstbewusst fest davon überzeugt, politisch die richtige Meinung zu haben. Doch o Schreck! Der Nachbar hat eine andere Meinung und ist genauso selbstbewusst von seiner Meinung überzeugt.
Und genau da beginnt Demokratie. Man schlägt sich nicht die Birne ein oder grenzt den anderen nicht aus. Sondern man trägt seine unterschiedlichen Meinungen ohne Gewalt im Gespräch und Streit miteinander aus. Natürlich auf Augenhöhe. Denn in einer Demokratie geht es von Mensch zu Mensch ganz menschlich-allzumenschlich zu.
Genau dieses demokratische Gespräch auf Augenhöhe verlässt die Pfarrerin Dr. Sandra Bils bei der Schlusspredigt am ev. Kirchentag im Dortmunder Iduna-Park. Sie redet in politischen Dingen nicht mehr als Mensch, weil sie genau weiß, wo Gott in der Politik ist. Ich zitiere: „Wir sehen, wo Gott in der Welt wirkt – durch die Leute von Sea-Watch, SOS-Mediteranee und Sea-Eye, durch Greta Thunberg und die Schülerinnen und Schüler, durch so viele andere – und dabei machen wir mit … Behaltet euer Vertrauen, seid unerschrocken, zeigt gemeinsam euren Glaubensmut. Wir haben Gott an unserer Seite.“
Tja, damit hat sie das Ende der Demokratie eingeläutet.
Wenn einer genau weiß, wo Gott in der Politik wirkt, dann braucht man keine Demokratie mehr. Dann braucht man auch kein Misstrauen und keine Kritik mehr. Dann braucht man nur noch (blindes) „Vertrauen“ – das Motto-Stichwort am Kirchentag.
Die Auflösung der Demokratie im Schafspelz!
Und Menschen, die es tatsächlich wagen, anderer Meinung zu sein, die sind dann natürlich ganz eindeutig gegen Gott. Und wer gegen den eindeutigen Willen Gottes wirkt, der ist leider nun mal eindeutig ein Ketzer.
Wer bei den Leuten von Sea-Watch die leise Anfrage stellt, ob diese sich nicht als Puzzleteil einer Schlepper-Mafia missbrauchen lassen, der ist eindeutig ein Ketzer.
Wer die Welt nicht so anschaut wie Greta Thunberg und angesichts des Klimawandels nüchtern bleibt, der ist eindeutig ein Ketzer.
Und wer meint, dass wir kluge Schüler brauchen, die die Schulpflicht fröhlich nutzen sollten, um mit Klugheit den Problemen dieser Welt begegnen zu können, die sind nach Frau Dr. Sandra Bils gegen das Wirken Gottes. Ketzer halt!
Dabei sollte eine ev. Kirche, die durch den Ketzer Martin Luther gegründet wurde, doch vorsichtig sein, Ketzerhüte zu verteilen.
Vielleicht sollte Frau Dr. Bils ihren Satz vom Anfang der Predigt ernster nehmen. Ich zitiere: „Das sind wir: Gottes geliebte Gurkentruppe.“
Die Kirche als Gurkentruppe, die in politischen Dingen durchaus Fehleinschätzungen unterliegen kann.
So wie die evangelische Gurkentruppe 1914, die auch genau zu wissen meinte, wo Gott wirkt: Nämlich in den dt. Waffen, die die ev. Pfarrer fleißig gesegnet hatten.
Oder so wie die evangelische Gurkentruppe 1933, die deutschchristlich auch genau zu wissen meinten, wo Gott wirkt: Nämlich in der nationalsozialistischen Erhebung.
Inhaltlich natürlich krass entgegengesetzt zu Frau Doktor, aber formal theologisch fatalerweise auf der gleichen Ebene: Mit der Berufung auf Gott verlässt man den menschlich-allzumenschlichen demokratischen Diskurs.
Vielleicht sollte die ev. Gurkentruppe endlich mal aus ihrer Geschichte lernen, und nicht noch einmal in politischen Dingen den Satz schwingen: „Wir haben Gott an unserer Seite.“
Das „Immanuel“ (= „Gott mit uns“) gilt für den Messias – und eben nicht für die politischen Ansichten von Frau Dr. Bils.
Meine eigene politische Ansicht und auch die aller anderen ev. Pfarrer sind menschlich-allzumenschlich. Wie die politischen Ansichten der AfD oder der SPD oder der Grünen. Alles Gurkentruppen, die darum das demokratische Gespräch brauchen. Die offene Diskussion der Sachargumente.
Wer diese offene Diskussion mit dem Verweis auf Gottes eindeutiges Wirken in der Politik untergräbt, der ist ein Totengräber der Demokratie. Auch wenn er sich als nettes und liebliches Schäfchen auf dem Kirchentag präsentiert und dort in seiner Filterblase viel Applaus bekommt.
Pfarrer Achijah Zorn