Eigentlich sollte angenommen werden können, dass das Volk hinter einer Parlamentsarmee steht, wie es die Bundeswehr sein soll. Immerhin ist der Bundestag die Vertretung des Souveräns, also des Volkes. Dass die Bundeswehr damit eine Armee ist, hinter der das Volk steht, ist damit aber eben leider nicht gewährleistet.
Das Prinzip »Parlamentsarmee« mag aus einsatzpraktischen Gründen skeptisch oder als typisch deutscher Sonderweg betrachtet werden. Denn dieses Prinzip macht den Einsatz der Bundeswehr im Falle von notwendigen, bzw. bündnisgebundenen Einsätzen schwerfällig. Von der sicherheitspolitischen Lage scheint das Prinzip Parlamentsarmee jedenfalls längst überholt. Kein anderes NATO-Land hält seine Armee an so kurzen parlamentarischen Zügeln. Seit dem Grundsatzurteil 1994 des Bundesverfassungsgerichts muss das Parlament jedem Auslandseinsatz der Bundeswehr zustimmen. Das vernebelt ein wenig, dass die Bundeswehr ein Wirkmittel der Exekutive ist. Das deutsche Prinzip Parlamentsarmee dient realiter vornehmlich dazu, den Einsatz deutscher militärischer Kapazitäten Partnern gegenüber zu erschweren, bzw. Zahl und Dauer von Einsätzen zu minimieren. Dass der Soldat einer Parlamentsarmee das Gefühl des Rückhalts der Volksvertretung haben könne, ist zudem kaum mehr als eine Suggestion. Das Prinzip Parlamentsarmee wird geradezu als Fetisch benutzt, um eine Einbindung der Bundeswehr in die Gesellschaft zu suggerieren, die es so nicht (mehr) gibt.
Nehmen wir den Koalitionsvertrag der im Februar/März 2018 konstituierten Bundesregierung: Wenn der Umfang einzelner Kapitel etwas aussagt über die Bedeutung eines Politikfeldes, dann steht es um die Bundeswehr schlecht. Gerade etwas mehr als drei Seiten (S. 156 bis 159) dieses 177-seitigen GroKo-Vertrages von CDU, CSU und SPD sind dem Punkt »Moderne Bundeswehr« gewidmet. Mehr Personal, beste Ausbildung und moderne Ausstattung durch einen höheren Verteidigungsetat werden versprochen. Der Ausbau der europäischen Verteidigungsunion wurde mit PESCO (Permanent Structured Cooperation / Ständige strukturierte Zusammenarbeit) in Aussicht gestellt, ein europäischer Verteidigungsfond sowie Schritte auf dem Weg zu einer »Armee der Europäer« angepeilt.
Dass sich CDU/CSU und SPD zu nicht mehr als drei Seiten bereitfanden, verwundert. Denn die eigentlichen Anti-Bundeswehr-Parteien sind die Grünen und die Links-Partei. Dafür gibt es viele Belege: Als die »Rühe-Kommission« tagte, um das Prinzip Parlamentsarmee fortzuschreiben, nahmen die Fraktionen der Links-Partei und der Grünen erst gar nicht teil. Ein Wandel kam zwar mit Joschka Fischer zustande (unter anderem wurden die Auslandseinsätze auf dem Balkan und in Afghanistan mitgetragen), aber in der Grundausrichtung blieben die Grünen pazifistisch. Namhafte Fachleute wie Winfried Nachtwei (Bündnis 90/Die Grünen, MdB von 1994 bis 2009 und Experte für Friedens- und Sicherheitspolitik) verbinden Pazifismus immerhin mit einer gehörigen Portion Realismus.
Die andere sich pazifistisch gebende Partei ist Die Linke, die 2007 durch Verschmelzung der SPD-Abspaltung WASG und der PDS bzw. vormaligen SED entstanden ist. Sie geriert sich seit Jahr und Tag als Anti-Bundeswehr-Partei und lehnt Auslandseinsätze der Bundeswehr generell ab. Wenn es nach ihr geht, ist die NATO aufzulösen und durch ein kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands zu ersetzen. Die Linkspartei setzt in Fragen der Sicherheit auf zivile Konfliktlösung und Kooperation. Und die SPD? Zusammen mit Grünen und Linken lehnt auch die SPD das Zwei-Prozent-Ziel (zwei Prozent vom BIP für Verteidigung und Rüstung) mittlerweile ab, obwohl sie dem Ziel 2014 als Koalitionspartner zugestimmt hat. CDU/CSU und FDP halten kaum dagegen, sie wollen eine tendenziell pazifistische Öffentlichkeit offenbar nicht vergraulen. (…)
Bundeswehr und »Krieg«
Die Bundeswehr und deren Spitze ist vor diesem Treiben oft genug eingeknickt. Zu lange hat sie so getan, als sei »Soldat« ein Beruf wie jeder andere, mit flexiblen Arbeitszeiten, Personalvertretungen, Kinderbetreuungsplätzen und anderem mehr. Zum Beispiel mit dem »Gesetz zur Steigerung der Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr« vom Mai 2015. Die Bundeswehr als ganz normaler Arbeitgeber? Das Ergebnis sind pazifizierende Ablenkungen in Werbekampagnen: »Nicht jeder bei uns trägt Uniform«; »Studieren bei vollem Gehalt«. In der Folge sind zwischen 62 (2015) und 68 Prozent (2016) der Bevölkerung der Auffassung, die Bundeswehr sei ein attraktiver Arbeitgeber für junge Menschen.
Als der erste Soldat der Bundeswehr im Ausland ums Leben kam, waren die Begriffe »Krieg« und »gefallen« noch Tabu. Das war erstmals am 14. Oktober 1993 geschehen, als ein Bundeswehrsoldat im Rahmen des Sanitätseinsatzes bei einem Attentat in Kambodscha ums Leben gekommen war. Erst bei der Trauerfeier für zwei in Afghanistan gefallene Soldaten sagte Verteidigungsminister Franz Josef Jung am 24. Oktober 2008 in der Zweibrücker Alexanderkirche, er verneige sich »in Dankbarkeit und Anerkennung vor den Toten, die für unser Land im Einsatz für den Frieden gefallen sind«. »Verunglückt« lautete zuvor die Sprachregelung, die viele Kameraden traurig oder wütend machte.
Gleichwohl war der Begriff »Krieg« immer noch tabu. Am 12. Mai 2009 sagte Jung in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau: »Ich halte es für falsch, von einem Krieg zu sprechen … In Afghanistan ist kein Krieg.« »Stabilisierungseinsatz« und »Friedenseinsatz« waren die Worte der Wahl. Jungs Nachfolger zu Guttenberg sprach im November 2009 immerhin von »kriegsähnlichen Zuständen«; sein Kabinettskollege Westerwelle 2010 von »bewaffneten Konflikten«.
Bestenfalls »freundliches Desinteresse«?
»Das Bild, das die Deutschen von der Bundeswehr haben, ist bedenklich«, sagte Professor Klaus Schweinsberg, Geschäftsführer des Centrums für Strategie und Höhere Führung, im Februar 2018, »nur 22 Prozent halten die Truppe für einsatzfähig und gut ausgerüstet, nur noch 45 Prozent haben Vertrauen in die Bundeswehr und eine deutliche Mehrheit lehnt weitere Investitionen ins Militär ab. Die Bundeswehr hat ein massives Imageproblem.« Das ist das Problem. Anlässlich der Münchner Sicherheitskonferenzen (MSC) demonstrieren Gruppierungen wie Attac, Blockupy, Die Linke, die Gewerkschaften Erziehung und Wissenschaft (GEW) und Verdi, das Münchner Friedensbündnis, das Bündnis gegen Krieg und Rassismus, Pax Christi und viele mehr. Sie rufen damit stets 4000 Polizisten auf den Plan.
Solche Entwicklungen sind einerseits Symptom, andererseits Verstärker einer eigenartigen Entwicklung. Die Einstellungs- und Meinungsforschung ist zwar hier nicht einhellig, aber die Tendenz ist klar: Das Ansehen der Bundeswehr und das Interesse an ihr nehmen ab. 2008 etwa war nach einer Umfrage des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr die Zustimmung auf 64 Prozent gestiegen. Ob das die Bewertung rechtfertigt, das Ansehen der Bundeswehr sei besser als vermutet? Auf die Frage »Sollten die Ausgaben für die Verteidigung in Zukunft erhöht werden, sollten diese verringert werden oder sollten sie gleichbleiben?« antworteten die Befragten offenbar ohne dauerhaft festen Standpunkt. Der 11. September 2001 und die Ukraine-Krise 2014 hatten offensichtlich Auswirkungen auf das Bedrohungsgefühl.
Tendenziell ähnlich waren die Ergebnisse der Befragung von 2464 zufällig ausgewählten Bürgern durch das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften« (ZMSBw) Mitte 2018: Rund 80 Prozent würden die Bundeswehr zwar positiv bewerten. Emotionale Bekenntnisse seien freilich seltener. Bevorzugt werden von der Bevölkerung Hilfseinsätze der Bundeswehr und Einsätze gegen den Terrorismus. Maßnahmen im Rahmen der Bündnisverteidigung wie etwa die Luftraumüberwachung im Baltikum oder die Beteiligung an der multinationalen Kampftruppe in Litauen dagegen genießen mit 32 beziehungsweise 33 Prozent weniger Zustimmung.
Allerdings dürfen an der Aussagekraft von Umfragen Zweifel gehegt werden. Als FORSA im August 2018 die Frage stellte: »Wofür Soldaten der Bundeswehr eingesetzt werden sollen«, gab es folgende Antwortquoten:
Die Antworten förderten – differenziert nach parteipolitischer Affinität – kaum Unterschiede zu Tage. Mit einer Ausnahme: AfD-Wähler messen allen Zwecken außer der Landesverteidigung signifikant weniger Bedeutung bei als die Wähler der anderen Parteien.
Ebenfalls 2018 haben das Institut für Demoskopie Allensbach und die Beratungsgesellschaft Centrum für Strategie und Höhere Führung in ihrem »Sicherheitsreport 2018« eruiert: Das Vertrauen in die Bundeswehr ist stark zurückgegangen – von 53 Prozent im Jahr 2011 auf nur noch 45 Prozent im Januar 2018. Die Bevölkerung ist zudem nicht bereit, mehr Geld für die Bundeswehr auszugeben: Nur 27 Prozent sprechen sich dafür aus. Von Forsa wird diese Tendenz im Januar 2019 bestätigt: Danach vertrauen der Bundeswehr nur 40 Prozent der Bundesbürger; das ist laut Forsa gegenüber 2018 ein Minus von 13 Prozent.
Zugleich ist festzustellen, dass diese Haltungen, Einstellungen, Bewertungen oft aus dem sprichwörtlich hohlen Bauch kommen. Denn das Wissen breiter Bevölkerungsschichten um die Bundeswehr ist miserabel. Die Zahl der Soldaten im Auslandseinsatz wird nur von 17 Prozent der Befragten näherungsweise richtig eingeschätzt, die Zahl der Soldaten der Bundeswehr insgesamt nur von 11 Prozent. Man könnte auch sagen: Wenig Wissen, aber viel Meinung! Woher dieses – etwas verharmlosend von Horst Köhler so genannte – »freundliche Desinteresse« kommt? Neben den genannten Ursachen (u. a. Schlingern der Parteien, verbreitete pazifistische Einstellung) spielt eine große Rolle, dass die Bundeswehr nach dem Aussetzen der Wehrpflicht im Alltag, in den Familien und in gesellschaftlichen Gruppierungen kaum noch präsent ist. Die überzeichnete Skandalisierung von Einzelfällen durch die Medien spielt dabei auch eine Rolle.
Plädoyer für einen aufgeklärten Patriotismus
»Allein die Nation kann die innere Bereitschaft der Menschen wecken, sich solidarisch und selbstlos für das Gemeinwesen einzusetzen.« (Max Weber) Dieser Grundsatz gilt auch in
Zeiten von Globalisierung und Europäisierung. Er hat zudem mit der Einstellung einer Nation zur Wehrhaftigkeit zu tun. »In« ist freilich etwas anderes: »Der Staat soll alles Mögliche können, aber nichts mehr dürfen.« Der Staat soll innere und äußere Sicherheit sowie Chancen, Chancen und nochmals Chancen garantieren. Das Ganze aber möglichst mit Vollkaskogarantie ohne Eigenbeteiligung, zum Beispiel ohne Dienst- oder Wehrpflicht, so scheint es. Dabei wäre es des Nachdenkens wert, ob nicht eine allgemeine Dienstpflicht für beide Geschlechter sinnvoll wäre. Schließlich investiert das Gemeinwesen riesige Summen in Bildung, Studium und Ausbildung. Davon zehren die jungen Leute ein Leben lang. Warum also sollten sie nicht ihrerseits neun oder zwölf Monate in dieses Gemeinwesen investieren? Es hätte dies neben der Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts zudem einen großen erzieherischen Nutzen.
Ein aufgeklärter Patriotismus braucht auch kein Hinausposaunen. Vielmehr gehört zu ihm eine gewisse Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit. Mit einem unaufgeregten Patriotismus verhält es sich wie mit einem Skelett. Der Mensch braucht es, aber er muss nicht ständig seine Knochen zählen. George Bernard Shaw hatte diesen Gedanken bereits: »Eine gesunde Nation ist sich ihrer Nationalität so wenig bewusst wie ein gesunder Mensch seiner Knochen.« Ein aufgeklärter, unaufgeregter Patriotismus ist ferner die wirksamste Haltung, um Extremisten abzublocken. Ein patriotisches Bekenntnis wäre im Übrigen auch ein Bollwerk dagegen, dass unser Land in Parallelgesellschaften auseinanderdriftet.
Es ist aber ein Irrweg zu glauben, Patriotismus könne auf Verfassungspatriotismus reduziert werden. Denn Verfassungspatriotismus erfasst, so wertvoll er ist, nur das rationale Bekenntnis zu einem Rechtssystem, zu Bürger- und Menschenrechten. Damit aber sind keine emotionalen Bindungen gestiftet wie bei einer Liebe zum eigenen Land, zum Vaterland, zur Heimat – ohne nationale oder gar nationalistische Überheblichkeit, ohne »Hurra«, ohne Taumel und ohne Völkisches. Nur Verfassungspatriotismus wäre so, wie wenn man das Fußballspiel nur wegen seiner Regeln mögen dürfte.
Nicht umsonst sind Eid und feierliches Gelöbnis in Paragraph 9 Soldatengesetz (SG) wie folgt formuliert: »Ich schwöre (bei freiwillig Wehrdienstleistenden: ich gelobe), der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen …«, ggf. abgerundet mit der religiösen Beteuerung: »… so wahr mir Gott helfe.« Mit einer nach allen Seiten personell offenen, postpatriotischen Bundeswehr sind solche Loyalitäten nicht zu machen. Dann verkäme die Bundeswehr vollends zu einer Armee von Söldnern.
Auszug aus: Josef Kraus / Richard Drexl, Nicht einmal bedingt abwehrbereit. Die Bundeswehr zwischen Elitetruppe und Reformruine. Mit einem exklusiven Vorwort von Prof. Dr. Rupert Scholz, Verteidigungsminister a.D. Edition Tichys Einblick, 240 Seiten, 22,99 €.