Seit Ende 2013 kann man – von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt – im Internet einen Gesetzesvorschlag unter der Überschrift „Europäische Rahmenrichtlinie Länderstatut zur Förderung der Toleranz“ (A EUROPEAN FRAMEWORK NATIONAL STATUTE FOR THE PROMOTION OF TOLERANCE) abrufen.
Ausgearbeitet wurde die Vorlage von der Nichtregierungsorganisation „Europäischer Rat für Toleranz und Versöhnung“( THE EUROPEAN COUNCIL ON TOLERANCE AND RECONCILIATION = ECTR), einer beratenden Instanz des EU-Parlaments. Zu ihren Gründern und Mitgliedern gehören so illustre Persönlichkeiten wie der Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses Wjatscheslaw Mosche Kantor, der ehemalige Premierminister von Spanien José Maria Aznar, Erhard Busek, vormals Vizekanzler von Österreich, sowie weitere frühere Kanzler, Premierminister und Minister verschiedener europäischer Länder, unter ihnen die ehemalige Familienministerin und spätere Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth.
Ziel der Gesetzesvorlage ist die Förderung von Toleranz
Förderung von Toleranz. Klingt doch gut, möchte man meinen. Der Begriff schwirrt ja in letzter Zeit auffällig oft durch unsere Medien. Ende 2014 widmete die ARD dem Thema eine ganze Woche. Ich bin neugierig darauf, was im Einzelnen an Forderungen und Maßnahmen hinter den neun Abschnitten der Gesetzesvorlage mit dem Motto „Keine Toleranz den Intoleranten!“ stecken mag.
In der Einleitung wird die Akzeptanz und Tolerierung menschlicher Vielfalt und jeder Form von unterschiedlicher Lebensführung als Vorbedingung für ein erfolgreiches Zusammenleben von diversen religiös, ethnisch, kulturell, sexuell oder anderweitig definierten Gruppen innerhalb einer Nation ausgeführt. Auf diese Weise soll Gleichstellung gesichert und Diskriminierung jeder Art ausgeschlossen werden.
Nachdem in den ersten fünf Abschnitten die Grundlagen für die oben genannten Forderungen beschrieben sind, beschäftigt sich Abschnitt sechs mit der Verwirklichung der Vorstellungen des ECTR-Papiers in der Realität. Ich stutze ein wenig bei Abschnitt 6 (a), wo gleich zu Anfang betont wird, dass „der besondere Schutz, den Mitglieder gefährdeter und benachteiligter Gruppen genießen, eine besondere Behandlung beinhalten kann. Genau genommen geht diese bevorzugte Behandlung über den bloßen Respekt und die Akzeptanz, die der Toleranz zugrunde liegen, hinaus.“ Verwirrend. Plötzlich soll die „Gleichbehandlung“ ausgesetzt werden? Es würde mich interessieren, welche Gruppen hiermit genau gemeint sind. Im Text heißt es, dies sei von Land zu Land verschieden. Auch nicht erhellender.
Implementierung und offene Fragen
Zum Zweck der Implementierung soll jeder der 28 EU-Mitgliedsstaaten eine eigene Dienststelle einrichten, die die Einhaltung der Richtlinien im Kampf gegen Vorurteile, Rassismus, ethnische Diskriminierung, religiöse Intoleranz, totalitäre Ideologien, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Antifeminismus, Islamophobie und Homophobie überwacht. Die Behörde soll vorzugsweise innerhalb des Justizministeriums, ggf. auch des Innenministeriums operieren. Eine unabhängige Kommission aus bedeutenden Persönlichkeiten, die nicht im Dienst des Staates stehen, soll die Umsetzung der Richtlinie überwachen.
In Abschnitt 7 – „Strafmaßnahmen“ – werden u.a. folgende Handlungen als schwere Straftaten aufgeführt: Diffamierende Äußerungen gegenüber einer Gruppe und ihrer Mitglieder, die zu Verleumdung und Gewalt anstiften, die Mitglieder dieser Gruppe der Lächerlichkeit preisgeben oder falschen Anschuldigungen aussetzen. Als „Falsche Beschuldigungen“ gelten beispielweise „Zigeuner sind Diebe“ oder „Moslems sind Terroristen“. Jugendliche, die eines solcher Vergehen für schuldig befunden werden, sollen ein Rehabilitationsprogramm durchlaufen, in dem ihnen eine „Kultur der Toleranz“ anerzogen werden soll.
Zudem hat jede Regierung sicherzustellen, dass Schulen, von der Primarstufe aufwärts, Kurse einrichten, die die Schüler ermutigen sollen, Vielfalt zu akzeptieren und ein Klima der Toleranz gegenüber den Eigenarten und Kulturen anderer herzustellen. Absatz 8 (a). Ähnliche Schulungen sollen auch in die Ausbildung von Militärs, Strafverfolgungsbehörden und anderen „professional groups“ eingebunden werden. 8 (b)(c).Entsprechendes Lehrmaterial wird vom Bildungsministerium bereitgestellt. (d) Ein Klima der Toleranz soll hinfort auch die Welt der Bücher, Theaterstücke, Zeitungsreportagen, Magazine, Dokumentationen, Spielfilme und Fernsehprogramme durchdringen.
Öffentlich-rechtliche und private Massenmedien sollen einen vorgeschriebenen Prozentsatz ihrer Programme der Verbreitung eines solchen Klimas widmen. Ähnliches soll für das Internet gelten. In den „Erklärungen“ wird zwar angemerkt, dass dies eine heikle Angelegenheit – „a delicate matter“ – sei, weil man ja doch Medien auf keinen Fall zensieren wolle. Eine aus unabhängigen Mitgliedern bestehende „media complaints commission“ gewährleiste jedoch deren Unabhängigkeit. Ende des Gesetzesentwurfs, den es bis jetzt anscheinend nur auf Englisch gibt.
Mein Kopf raucht und ich bleibe mit dem irritierenden Gefühl zurück, dass mir vieles unklar geblieben ist. Eins ist aber nicht zu übersehen: Das Gesetz erscheint wie gemacht für die Situation, die wir derzeit mit den Flüchtlingen, Migranten, oder wie sie auch immer genannt werden, haben. Beim Durchlesen kommen mir unweigerlich die Bilder unserer sich stetig verändernden Einwanderungsgesellschaft in den Kopf, deren zunehmende Problematik mit diesem Gesetz „gelöst“ werden soll. Wie die Umsetzung von Schulung zur Toleranz in den Bildungsinstitutionen, in Justizbehörden, beim Militär und in den Massenmedien im Einzelnen aussehen soll, wird nicht ausgeführt.
Kann Toleranz durch ein Gesetz „verordnet“ werden? Erkenntnisse der Forschung
Der Mensch scheint in der Vorstellung der Autoren des Gesetzes wie eine Maschine zu funktionieren, die man zur Produktion von „Toleranz“ ein- und ausschalten kann, und die, wenn sie einmal nicht ordnungsgemäß arbeitet – in diesem Fall keine „Toleranz“ produziert – repariert oder zur Not aussortiert werden muss. Wie jedes Gesetz mit ideologischem Hintergrund lässt auch dieses die komplexe Natur des Menschen völlig außer Acht. Es fragt gar nicht erst nach seiner Entwicklungsgeschichte, bezieht nicht die diesbezügliche mannigfaltige Forschung mit ein.
Besonders die Hirnforschung hat in letzter Zeit einiges Neue zu den „Großen Fragen“ der Menschheit beigetragen: Wie wir denken, wie Bewusstsein entsteht, wo Gefühle herkommen, ob es so etwas wie den „freien Willen“ gibt. Welcher Stellenwert „Toleranz“ in diesem Zusammenhang zukommt. Entgegen früherer Erkenntnisse wird in den Neurowissenschaften heute die Macht der Gefühle betont, denen – gerade bei wichtigen Entscheidungen – Vernunft, Verstand und Logik oft weichen müssen. Der Neurophysiologe Wolf Singer schreibt in seinem lesenswerten FAZ-Artikel „Keiner kann anders als er ist“:
„Kleine Kinder erwerben Wissen über die Welt, haben aber keine bewusste Erinnerung an den Lernvorgang. Wir sprechen von frühkindlicher Amnesie. Und so kommt es, dass nicht nur angeborenes Wissen, sondern auch ein wesentlicher Anteil des durch Erziehung tradierten Kulturwissens den Charakter absoluter, unhinterfragbarer Vorgaben erhält, von Wahrheiten und unumstößlichen Überzeugungen, die keiner Relativierung unterworfen werden können. Zu diesem impliziten Wissensgut zählen angeborene und anerzogene Denkmuster und Verhaltensstrategien ebenso wie Wertesysteme und religiöse Überzeugungen.“
Singer folgert daraus, dass, da unsere jeweiligen Wertesysteme tief und „unhinterfragbar“ in uns verankert sind, Toleranz für andere Wertvorstellungen für uns ein unendlich mühsamer, langwieriger und nicht immer gelingender Prozess ist, der nicht so ohne Weiteres mal eben abgerufen und bei Nichtgelingen sanktioniert werden kann.
Wir Menschen tendieren überdies seit jeher zu Gruppenbildungen mit Abgrenzungen: Preußen-Bayern; Oldenburger-Ostfriesen; meine Familie – deine Familie; mein Fußballverein – dein Fußballverein. Man kann das endlos fortsetzen. Damit drückt sich ein starkes Bedürfnis des Menschen aus, „dazu zu gehören“, sich abzugrenzen und sich damit gleichzeitig einer anderen Gruppe überlegen zu fühlen. Der Soziologe Max Weber spricht von einem „subjektiven Gemeinsamkeitsglauben“, indem Menschen sich zusammenschließen und dabei das Gefühl einer objektiven Gegebenheit haben, auch wenn dies einer objektiven Prüfung nicht standhält. Was uns wiederum auf die Theorie von Wolf Singer und auf das subjektive Gefühl von „unhinterfragbaren“, weil unbewusst aufgenommenen Wertesystemen zurückführt. Schon Albert Einstein wusste: „Es ist schwieriger, eine vorgefasste Meinung zu zertrümmern als ein Atom.“
Solcherlei zutiefst in unserem Menschsein gründende Überlegungen scheinen in dem Gesetz keinen Platz zu haben. Die entscheidende Frage, wie man es überhaupt fertig bringen will, auf staatlicher Ebene den Menschen „Toleranz“ abzuverlangen und sie bei Missachtung der entsprechenden Gesetze angemessen zu bestrafen, wird nicht beantwortet.
Kritische Gedanken und weitere drängende Fragen
So übt denn auch die in Brüssel ansässige gemeinnützige Nichtregierungs-Organisation „European Dignity Watch“ heftige Kritik an der Gesetzesvorlage, indem sie befürchtet, dass die vage Definition von zentralen Begriffen wie z.B. „Gleichbehandlung“ und „Diskriminierung“ zu einer juristischen Zwangsjacke auf Kosten der Meinungsfreiheit werden kann. Es fordere zu einer Überwachung einer – vorausgesetzten – intoleranten Haltung von Bürgern und Bürgerinnen und von Gruppen durch staatliche Behörden auf. Zitat: „Konfessionelle Gruppen und Schulen, Angehörige einer bestimmten Religion oder auch nur einfach Eltern, die ihren Kindern bestimmte Werte vermitteln wollen, werden so unter den Generalverdacht gestellt, intolerant zu sein. “
Etwas später heißt es:„Die erschreckende Folge davon wäre ein dramatisches Abnehmen (und das mögliche Verschwinden) des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung. Individuen und Gruppen würden sich selbst einer Zensur unterwerfen aus Angst, bestraft zu werden, wenn sie ihre persönlichen Wertevorstellungen äußern.“
Wohin haben wir uns da inzwischen verirrt, fragt man sich. Rumänien hat das Gesetz als erstes EU-Land bereits eingeführt. Wie lange wird es dauern, bis es bei uns ratifiziert wird? Welche Auswirkungen wird das haben? Unter religiöse Intoleranz fallen auch „Islamophobie“ und die Wortschöpfung „anti-Christianity“, Abschnitt 2. Werden wir uns in Zukunft jeglicher Kritik an fundamentalistischen Christen, an Sekten, am politischen Islam, an der Scharia usw. enthalten müssen? Wird jede ironische Distanzierung, jede Satire und Karikatur strafbar sein? Werden wir uns in langwierige juristische Spitzfindigkeiten verwickeln? Werden wir unter dem Deckmantel unrealistischer Toleranzvorstellungen von Harmonie-Beschwörern vom Kindergarten an unter Beobachtung stehen? Das wäre nicht nur ein signifikanter Rückschritt, so „European Dignity Watch“, sondern „die länderübergreifende Überwachung, die hier nahegelegt wird, würde sicherlich einen schwarzen Tag für die Demokratie in Europa bedeuten.“
Eine kleine Fußnote: Während man in Deutschland 2013 damit beschäftigt war, sich über die Ausspionierung der EU und seiner Bürger durch den US-Geheimdienst NSA zu empören, wurde im EU-Parlament über ein Papier beraten, das die Überwachung seiner Bürger in den Mittelpunkt stellt.
Ingrid Ansari, Mutter eines Sohnes, führte ihr Weg vom Abitur in Oldenburg über die Ausbildung zur Fremdsprachen-Korrespondentin an der Berlitz-School, Bremen, dem Studienabschluss Diplom-Übersetzerin (Englisch und Französisch) am Auslands- und Dolmetscherinstitut der Universität Mainz in Germersheim zur Dozentin am Goethe-Institut bis zur Verrentung 2002.