Tichys Einblick
METZGERS ORDNUNGSRUF 22-2019

Wer glaubt noch an Haushaltsdisziplin in der EU?

Noch nie wurden Schuldensünder mit Bußgeldern bestraft. Und jetzt soll Italiens Finanzpolitik von Brüssel sanktioniert werden? Wer's glaubt, wird selig.

ARIS OIKONOMOU/AFP/Getty Images

Weil Matteo Salvini, der italienische Innenminister und Chef der Lega Nord, mit seinen groben EU-Attacken auch bei den Wahlen zum EU-Paparlament sehr erfolgreich Stimmen sammelte, scheint es der EU-Kommission plötzlich opportun, ein Sanktionsverfahren gegen Italiens Harakiri-Finanzpolitik vorzuschlagen. Was am Mittwoch Schlagzeilen machte, erklärt sich vor allem dadurch, dass in Italien in den Augen der EU-Eliten die falschen, nämlich die „Rechtspopulisten” regieren. Auch die linksliberalen Medien im Land, die ansonsten kaum Probleme mit schuldenfinanzierter Wohlfahrt haben, delektieren sich am Brüsseler Gegenwind für die italienische Rechte, in deren Regierungsbündnis es derzeit ohnehin mächtig knirscht. Theoretisch könnten am Ende eines langen Defizitverfahrens, das aus insgesamt 17 (!) Schritten besteht, Bußgelder in Höhe von 0,2 Prozent des Bruttoin-landsprodukts gegen Italien verhängt werden. Das wären Milliardensummen, wie die Schlagzeilen suggerieren.

Doch gemach! Da läuft noch viel Wasser den Po runter, ehe solche Konsequenzen auf Italien zukämen. Denn alle eingeleiteten Sanktionsverfahren in der zwanzigjährigen Geschichte des Euro sind im Sand verlaufen. Bußgelder wurden noch nie verhängt. Manche Verfahren, auch gegen Deutschland oder Frankreich, wurden förmlich eingestellt oder auch stillschweigend ausgesetzt. Gerade Frankreich ist ein chronischer Defizitsünder, mit dem sich aber ernsthaft weder die EU-Kommission noch der Ministerrat der nationalen Regierungen je anlegen wollten. Auch im Beipack des Italien angedrohten Disziplinarverfahrens spielen andere Sün-der eine Rolle: neben Zypern und Belgien vor allem wieder Frankreich. Die zweitgrößte Volkswirtschaft weist mit 56 Prozent nach wie vor die höchste öffentliche Ausgabenquote im EU-Vergleich auf. Frankreichs gesamtstaatliches Defizit steigt 2019 voraussichtlich auf über 99 Prozent an, was im Vergleich zu den rund 134 Prozent Italiens zwar bescheiden wirkt, angesichts des Maastricht-Referenzwerts von 60 Prozent aber eine Zwei-Drittel-Überschreitung signalisiert.

„Weil es Frankreich ist“, erklärte der scheidende EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vor drei Jahren das Nicht-Tätigwerden der Kommission, als sie ein eigentlich notwendiges Defizitverfahren gegen Frankreich penetrant vermied. Egal, wer Juncker im Amt folgen wird, an diesem Erklärungsmuster dürfte sich so schnell nichts ändern. Weil Frankreichs Sünden toleriert werden, wird auch Italiens Fiskalpolitik mittelfristig wieder mit der Rosa Brille bewertet werden. Das Schuldnerland Italien hält Euroland im Griff.

Denn einen Staatsbankrott Italiens als Folge weiter steigender Risikoaufschläge auf seine Staatsanleihen meiden die meisten Euro-Länder wie der Teufel das Weihwasser. Da schwingt noch das alte, aber fatale Mantra der deutschen Kanzlerin aus den Anfängen der Euro-Krise mit: „Scheitert der Euro, scheitert Europa!“ Also werden sie mit Hilfe der Europäischen Zentralbank Mario Draghis „whatever it takes“-Politik fortsetzen, selbst wenn sein Nachfolger Jens Weidmann heißen sollte. Denn eines muss man sich bewusst machen: Die alten südeuropäischen Weichwährungsländer werden im EZB-Rat auch einen deutschen Präsidenten jeder-zeit überstimmen können, so wie es Weidmann als einfaches Ratsmitglied in den vergangenen Jahren schon immer wieder erleben musste.

Für den Rat der Regierungschefs gilt nach dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU das gleiche. Frankreich kann künftig mit den Südländern bei Bedarf Deutschland in der EU ausbremsen. Auch wenn derzeit die politische Chemie zwischen Frankreich und Italien gestört scheint. Diese Chance zur strategischen Mehrheitsbildung werden sich weder die Italiener noch die Franzosen entgehen lassen. Das verheißt für das Defizitverfahren gegen Italien nichts Gutes. Denn Frankreich wird sich im Zweifelsfall italophil zeigen. Weil eine Krähe der anderen bekanntlich kein Auge aushackt, wird auch das objektiv fällige Sanktionsverfahren gegen Italien in Sachen fehlender Haushaltsdisziplin im Sand verlaufen.

Die mobile Version verlassen