Tichys Einblick
Vergangenheit, die nicht vergeht

30 Jahre Tiananmen

Vor 30 Jahren schlugen die Machthaber die Demokratiebewegung in Peking gewaltsam nieder. Auch der Millionen, die unter Mao Zedong ums Leben kamen, wird nicht gedacht. Wie China seine diktatorische Vergangenheit aufarbeiten könnte, zeigt der Inselstaat Taiwan. Von Hubertus Knabe.

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Leblos liegt der alte Mann in seinem Schneewittchensarg, das Haar ist schütter, die Stirn kahl. Seine Arme sind unter einem roten Tuch verborgen, das von einem mächtigen gelben Hammer-und-Sichel-Emblem geziert wird. Die spartanisch eingerichtete Halle, in der der Glassarg steht, erinnert mit ihren holzgetäfelten Wänden und den schütteren Grünpflanzen an einen Konferenzsaal desStaatssicherheitsdienstes der DDR. Seit mehr als 40 Jahren defilieren hier jeden Tag Hunderte Chinesen stumm an dem einbalsamierten Toten vorbei, um Mao Zedong, dem Gründer der Volksrepublik China und Dauer-Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Chinas, ihre Reverenz zu erweisen.

Huldigung gegenüber einem Massenmörder – Glassarg mit dem chinesischen Kommunistenführer Mao Zedong

Das halbreligiöse Ritual in der Pekinger „Gedenkhalle für den Vorsitzenden Mao“ gilt dem größten Massenmörders des 20. Jahrhunderts. Rund 70 Millionen Menschen kamen durch sein Regime ums Leben, mehr als unter Hitler oder Stalin. Schon auf dem Weg zur Macht zeichnete sich der Sohn wohlhabender Bauern durch ungewöhnliche Brutalität aus. Als er ab 1949 das Reich der Mitte regierte, verschwanden bis zu zehn Millionen Chinesen in Lagern und Gefängnissen. Beim „Großen Sprung nach vorn“, mit dem Mao die Volksrepublik China zum Industrieland machen wollte, verhungerten schätzungsweise weitere 38 Millionen. Im Zuge der „Kulturrevolution“, die er 1966 unter dem Beifall westlicher Studenten ausrief, kamen noch einmal über 1,5 Millionen Menschen ums Leben.

An die Opfer Maos darf in China bis heute öffentlich nicht erinnert werden. An keinem der zahlreichen Haftorte wird der dort ums Leben Gekommenen gedacht. Viele der Lager sind sogar immer noch in Benutzung, weil Maos System der „Umerziehung durch Arbeit“ auch unter seinen Nachfolgern beibehalten wurde.

„Umerziehung durch Arbeit“ – Mao Zedong (3.v.l.) und Walter Ulbricht (2.v.r.) bei Stalins 70. Geburtstag 1949

Vor 30 Jahren, im Frühjahr 1989, schien es, als ob China mit seiner mörderischen Geschichte brechen könnte. Fasziniert schauten viele chinesische Intellektuelle und Studenten auf die Sowjetunion, in der Parteichef Michail Gorbatschow vor dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei verkündet hatte: „Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen.“

Seit April 1989 ging in Peking eine wachsende Zahl von Menschen auf die Straße, um gegen die grassierende Korruption und für mehr Demokratie zu demonstrieren. Im Mai versammelten sich auf dem Platz des Himmlischen Friedens fast täglich über einhunderttausend Menschen. Hunderte Studenten traten schließlich in einen Hungerstreik, um die Regierung zu einem Dialog zu bewegen. Zeitgleich legten auch die Beschäftigten mehrere Großbetriebe die Arbeit nieder und gründeten eine unabhängige Gewerkschaft. Als Gorbatschow am 15. Mai zum Staatsbesuch nach Peking kam, musste er durch einen Seiteneingang in die Große Halle des Volkes gehen, weil der Platz davor voller Demonstranten war, die ihn auf Plakaten feierten.

„Wir brauchen Demokratie wie die Luft zum Atmen“ – Michail Gorbatschow auf dem XI. Parteitag der SED 1986 (1)

Doch der Pekinger Frühling währte nur wenige Wochen. Maos ehemaliger Mitstreiter Deng Xiaoping sorgte dafür, dass der abwartend reagierende Parteichef Zhao Ziyang abgesetzt und über der Hauptstadt der Ausnahmezustand verhängt wurde. Gegen massiven Widerstand der Bevölkerung rückten am Abend des 3. Juni Soldaten mit Panzern in die Innenstadt vor und räumten den Tian’anmen-Platz. Bei der Niederschlagung der Proteste kam es zu einem regelrechten Massaker mit vermutlich mehreren tausend Opfern. Zahllose Demonstranten wurden verhaftet, mindestens 49 hingerichtet. Rigoros gehen die chinesischen Behörden seitdem gegen Menschenrechtsaktivisten und ethnische Minderheiten vor.

Massaker mit zahllosen Opfern – Eingang zur verbotenen Stadt auf dem Platz des Himmlischen Friedens (2)

Wer wissen will, wie eine Aufarbeitung der Vergangenheit im Reich der Mitte aussehen könnte, kann dies vor der chinesischen Küste auf der Insel Taiwan studieren. Die 23 Millionen Einwohner des Staates von der Größe Hollands machen dem Riesen auf dem Festland vor, wie man auch in Asien erfolgreich Diktaturen bewältigen kann.

Nach dem sich Mao Zedongs Gegenspieler Chiang Kai-Shek 1949 mit seinen Truppen nach Taiwan abgesetzt hatte, herrschte nämlich auch dort jahrzehntelang ein brutales Militärregime. Bis 1987 galt der Ausnahmezustand, den der selbst ernannte Generalissimus aus Furcht vor kommunistischen Umsturzversuchen sofort verhängt hatte. Erst in den 1990-er Jahren wurden das Parlament und das Staatsoberhaupt erstmals freigewählt. Ein Besuch in der Republik China, wie sich das Land offiziell nennt, gleicht einer Reise mit der Zeitmaschine in ein mögliches China der Zukunft. Denn während die Führung in Peking vor 30 Jahren eine Demokratisierung verhinderte, wurde sie in Taiwan fast zur selben Zeit erfolgreich umgesetzt.

Das Massaker vom 28. Februar

Was in China der Platz des Himmlischen Friedens ist, ist in Taiwan die Straße vor dem Regierungssitz in Taipei. Hier versammelten sich am 28. Februar 1947 Hunderte Einwohner, um gegen das kolonialherrenhafte Gebaren der chinesischen Zentralregierung zu demonstrieren. Ein Polizist hatte am Vorabend bei einem Handgemenge mit einer Straßenverkäuferin einen Passanten erschossen. Eine empörte Menge kam daraufhin vor dem Regierungssitz zusammen. Als Sicherheitskräfte das Feuer auf sie eröffneten, drang ein Teil der Demonstranten in den nahegelegenen Radiosender ein und machte die Vorgänge publik.

Maos Gegenspieler – der taiwanesische Diktator Chiang Kai-Shek bei einer Parade im Oktober 1966

In der Folge kam es auf der ganzen Insel zu Demonstrationen und gewaltsamen Auseinandersetzungen. Ein Komitee aus lokalen Politikern, das den Konflikt schlichten wollte, forderte die Regierung auf, das Feuer auf die Demonstranten einzustellen und freie Wahlen zuzulassen. Der Militärgouverneur ging scheinbar darauf ein, doch heimlich beorderte er zusätzliche Truppen auf die Insel, die Taiwan ab dem 8. März in einem blutigen Kampf unter ihre Kontrolle brachten. Die chinesische Regierung verhängte das Kriegsrecht, führte überall im Lande Razzien durch und verbot alle ungenehmigten Organisationen. Zwischen 18 000 und 28 000 Personen, überwiegend Angehörige der taiwanischen Oberschicht, fielen dem „Weißen Terror“ zum Opfer, über den zu sprechen jahrzehntelang verboten war.

Der 28. Februar ist in Taiwan heute gesetzlicher Feiertag. Der frei gewählte Präsident Lee Teng-hui von der ehemaligen Staatspartei Kuomintang entschuldigte sich 1995 für das Vorgehen der früheren Regierung. Die Verurteilten wurden rehabilitiert und eine Stiftung zahlte umgerechnet gut 217 Millionen US-Dollar Entschädigung an mehr als 9000 Betroffene oder deren Angehörige aus. Im ganzen Land wurden Denkmäler errichtet, die an die Opfer des Massakers erinnern.

217 Millionen US-Dollar für die Opfer des Weißen Terrors – 228-Museum in der ehemaligen Radiostation von Taipei

Im einst gestürmten Radiogebäude befindet sich heute das „228-Museum“ der Stadt Taipei. Ein weiteres, nationales Museum in der Hauptstadt widmet sich noch ausführlicher den damaligen Vorgängen. Die Ereignisse bilden einen zentralen Bezugspunkt für die nationale Identität. Selbst junge Taiwanesen können in der Regel genau sagen, was sich vor mehr als 70 Jahren zugetragen hat.

Das Umerziehungslager

Die Überfahrt auf die Grüne Insel, wie die Taiwanesen das 35 Kilometer vor ihrer Küste liegende Eiland nennen, gleicht selbst bei ruhigem Wetter einer Achterbahnfahrt. Die Fähre schaukelt wie eine Nussschale auf dem Wasser, so dass die meisten Passagiere irgendwann mit bleichen Gesichtern zu den weißen Tüten greifen, die griffbereit an jedem Sitz hängen. Hier, mitten im Pazifischen Ozean, kerkerte die Kuomintang jahrzehntelang ihre politischen Häftlinge ein.

Mitten im Pazifischen Ozean – Modell des Umerziehungslagers „Neues Leben“ auf Green Island

Das größte Gefangenenlager trug den programmatischen Namen „Neues Leben“. Es lag in einer durch mächtige Felsen abgeschlossenen Bucht, aus der eine Flucht schon aufgrund der natürlichen Gegebenheiten kaum möglich war. 1951 wurde es auf den Resten eines japanischen Haftlagers angelegt und war bis 1965 in Betrieb. Durch schwere körperliche Arbeit und geistige Umerziehung sollten die Häftlinge hier zu neuen Menschen gemacht werden.

In dem Lager lebten bis zu 2.000 Gefangene, die in 12 Kompanien aufgeteilt waren. Ein Teil arbeitete als Holzfäller, andere mussten in der Brandung Felsen brechen, um daraus Hunderte kleiner Häuser zu errichten: Schweineställe, Getreidelager, Werkzeugschuppen und so weiter. Wieder andere befassten sich mit dem Anbau von Gemüse oder der Schweinezucht. Die Baracken waren hoffnungslos überfüllt und essen durften die Häftlinge nur in der Hocke auf dem Sand.

Felsen brechen in der Brandung – Inszenierung im Lagermuseum auf Green Island

Das Perfide war aber nicht der harte Lageralltag, sondern die systematische Indoktrination. Auf den Berghängen prangten riesige Losungen wie „Anstand“, „Gerechtigkeit“, „Rechtschaffenheit“ oder „Ehre“. Manche Häftlinge mussten sich Slogans wie „Den Kommunisten entgegenstellen, den Russen widerstehen“ eintätowieren. Vor allem aber erfolgte die Gehirnwäsche während des regelmäßigen „Unterrichts“, an dem die Häftlinge teilnehmen mussten. Gelang die Umerziehung nicht, kam der Gefangene zur Zwangsarbeit auf eine andere Insel – oder wurde wie 14 Häftlinge im Jahr 1953 kurzerhand hingerichtet.

In der Volksrepublik China werden vergleichbare Methoden bis heute angewandt. Die unter Mao eingeführten Arbeitslager wurden zwar umbenannt, an der Praxis der „Umerziehung durch Arbeit“ (Laojiao) und der „Reform durch Arbeit“ (Laogai), wie sich die beiden Gefängnistypen nannten, hat sich jedoch nur wenig geändert. Noch immer müssen die meisten der rund 1,6 Millionen Häftlinge in China Zwangsarbeit leisten.

„Um die Verbrecher wirksam umzuerziehen, muss im Zuge der Vollstreckung der Strafe am Prinzip der Verbindung der Erziehung mit der körperlichen Arbeit festgehalten werden,“ heißt es auf einer chinesischen Website, in der das 1994 reformierte Gefängnisgesetz als besonders fortschrittlich präsentiert wird. Katastrophale Arbeitsbedingungen, Erniedrigungen und Misshandlungen bestimmen dabei den Alltag der Gefangenen. In speziellen Unterrichtseinheiten wird ihnen eingebläut, wie ein rechtschaffener Chinese zu leben hat. Die Losungen, die sie dabei Tag für Tag laut wiederholen müssen, unterscheiden sich kaum von denen, die die Häftlinge früher auch in Taiwan lernen mussten.

Unterricht zur Umerziehung – Inszenierung im Lagermuseum auf Green Island

Doch im Unterschied zu den chinesischen Haftorten ist das Lager „Neues Leben“ heute ein Museum. Die Parolen auf dem Berg sind verblasst, nur für die Touristen werden sie hin und wieder aufgefrischt. Außer einem verwitterten Wachturm, einem alten Häftlingsbau und den Resten der Gefängnisküche ist von dem Lager nicht mehr viel übriggeblieben. Das Eingangstor, das die Neuankömmlinge passieren mussten, musste nachträglich wieder aufgebaut wurde, ebenso das Ausgangstor, aus dem sie am Ende geläutert entlassen wurden.

In den rekonstruierten Baracken erzählt jetzt eine aufwändig gemachte Ausstellung die Geschichte des Lagers. In Dioramen und lebensgroßen Nachbauten ist dort zu sehen, wie die Häftlinge die Felsen brechen, in Zweierreihen marschieren oder auf kleinen Holzbänken hocken mussten, um die Umerziehung über sich ergehen zu lassen. Eine Baracke mit Doppelstockpritschen wurde sogar vollständig rekonstruiert – so authentisch, dass man nach dem Betreten erst einmal innehalten muss, denn auch die einstigen Insassen sind dort aus Wachs originalgetreu nachgebildet worden.

Originalgetreu nachgebildet – Häftlinge in einer rekonstruierten Baracke des Lagers „Neues Leben“ auf Green Island

Villa Oasis

Das Lagermuseum ist Teil des Menschenrechtserinnerungspark, der 2002 auf der Insel eingerichtet wurde. Zu ihm gehört noch ein weiterer ehemaliger Haftort, der im Gegensatz zum alten Lager fast unversehrt erhalten geblieben ist. Von 1972 bis 1987 diente er dem Ministerium für Nationale Verteidigung als sogenanntes Reform- und Umerziehungsgefängnis. Der Begriff Reform ist dabei nicht im westlichen Sinne zu verstehen, sondern nur eine euphemistische Bezeichnung für Indoktrination und Gehirnwäsche. Noch heute bezeichnet man in China das System der Umerziehung als „Gedankenreform“.

Indoktrination und Gehirnwäsche – Freiganghof im Reform- und Umerziehungsgefängnis auf Green Island

Die von hohen Mauern und Wachtürmen umgebene Haftanstalt war nach einer Gefängnisrevolte auf dem Fenstland direkt neben dem leer stehenden Lager errichtet worden. Sie verfügte über mehr als 200 Zellen, die auf zwei Etagen in sternförmigen Flügeln lagen, sodass die Wachmannschaften alle Flure von einem Punkt aus beobachten konnten. Politische Häftlinge aus verschiedenen Gefängnissen wurden hierhin gebracht, um sie besser unter Kontrolle zu haben. Unter ihnen befanden sich neben Kommunisten und angeblichen Spionen auch zahlreiche Menschenrechtsaktivisten und Vertreter der Unabhängigkeitsbewegung, die damals – wie heute in der Volksrepublik China – rigoros verfolgt wurden.

Die Haftanstalt trug den zynischen Namen „Villa Oasis“. Auf dem Gefängnistor sind noch heute die Losungen zur Umerziehung zu lesen: „Verjüngen wir die Nation durch engagierte Arbeit!“, „Lasst uns die Regierung unterstützen!“ oder „Lasst uns mit absoluter Aufrichtigkeit zusammenarbeiten!“. Auch auf den vier Gefängnishöfen, wo die Häftlinge zweimal am Tag 20 bis 30 Minuten lang frische Luft schnappen durften, prangen solche Parolen: „Schätze das Gesetz!“, „Sei aufrichtig!“ oder „Halte die Gesetze ein!“ steht dort in großen chinesischen Schriftzeichen.

„Lasst uns die Regierung unterstützen“ – Tor zum ehemaligen Reform- und Umerziehungsgefängnis

Wenn man die langen Gefängnisflure durchschreitet, fällt es schwer, sich vorzustellen, wie es war, als sich noch die Häftlinge in den Zellen drängten. Alles geschah hier öffentlich, selbst die Benutzung der Toilette, die sich in einer kniehoch gefliesten Wanne befand. Um ein Gefühl für die räumliche Enge zu vermitteln, sind in einer Zelle Fotos montiert, die einstige Gefangene darstellen. Auch die Gummizelle und der Besucherraum können besichtigt werden. Eine Ahnung von der Brutalität der Kuomintang-Diktatur vermitteln aber nur die Skizzen der Folterszenen, die im Eingangsbereich des Gefängnisses ausgestellt sind.

„Villa Oasis“ – Folterszene aus dem Museum im ehemaligen Umerziehungsgefängnis auf Green Island

Das Militärgericht

Bei der Verurteilung von Oppositionellen spielte in den 1970-er und 1980-er Jahren das Militärgericht in Taipei eine Schlüsselrolle. Es tagte auf einem abgeschlossenen Gelände im Stadtteil Jing-Mei, zu dem auch eine Haftanstalt gehörte. Dadurch war es möglich, die politischen Gefangenen zu inhaftieren, anzuklagen und abzuurteilen, ohne dass man sie verlegen musste. Im Frühjahr 1980 fand hier auch der Prozess wegen des sogenannten Formosa-Vorfalls statt. Er gilt als Wendepunkt in der Geschichte Taiwans auf dem Weg zur Demokratie.

Führende Bürgerrechtler hatten im Sommer 1979 die Zeitschrift „Formosa Magazin“ gegründet. Ermutigt durch das Stillhalten der Behörden luden sie für den Tag der Menschenrechte am 10. Dezember zu einer Kundgebung ein. Dabei kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, weil – wie sich später herausstellte – als Zivilisten verkleidete Polizisten gezielt auf die anrückende Militärpolizei einschlugen. Die Regierung nahm die Ereignisse als Vorwand, um sämtliche bekannten Oppositionellen zu inhaftieren.

Im Gefängnis wurden die Verhafteten massiv unter Druck gesetzt, vorgefertigte Geständnisse zu unterschreiben. Acht von ihnen verurteilte das Militärgericht in Taipei zu Haftstrafen zwischen zwölf Jahren und lebenslänglich. Unter ihnen befanden sich auch die Frauenrechtlerin Lu Hsiu-lien und der parteilose Abgeordnete Huang Shin-chieh.

Haftstrafen zwischen 12 Jahren und lebenslänglich – Verhandlungssaal des Militärgerichtes in Taipei

Das Gebäude des Militärgerichts gehört heute zum Nationalen Menschenrechtsmuseum. Die Verurteilten wurden 1987 freigelassen, als die Regierung das Kriegsrecht aufhob. Der Bürgerrechtler Huang Shin-chieh wurde bald darauf Vorsitzender der oppositionellen Demokratischen Fortschrittspartei, die gegenwärtig die Präsidentin Taiwans stellt. Die Frauenrechtlerin Lu Hsiu-lien wurde im Jahr 2000 zur Vizepräsidentin gewählt. Auch andere damals Verurteilte bekleideten später hohe politische Ämter.

Der Gerichtssaal, in dem der Prozess stattfand, sieht immer noch so aus wie damals. Besucher können nicht nur den schweren Richtertisch in Augenschein nehmen, auf dem das Urteil gefällt wurde, sondern auch die Zellen der damals Inhaftierten. Denn das Gefängnis wurde 1991 geschlossen und auf Vorschlag von Vizepräsidentin Lu 16 Jahre später zur Gedenkstätte. Das Menschenrechtsmuseum entwickelt es derzeit Schritt für Schritt in ein Ausstellungsgelände zur Erinnerung an den Weißen Terror.

Erinnerung an den Weißen Terror – Eingang zum ehemaligen Militärgefängnis in Taipei

Das Gefängnis hat sich seit seiner Schließung kaum verändert. Wachtürme ragen düster in den grauen Himmel, die Zellengänge mit den grün gestrichenen Türen scheinen sich endlos hinzuziehen. Auf dem ehemaligen Gefängnishof herrscht beklemmende Stille. Nur die inzwischen in die Höhe geschossenen Pflanzen verleihen dem Ganzen etwas Friedliches.

In einem Raum stehen braune Holztische mit vorsintflutlichen Tonbandgeräten, die früher vom taiwanesischen Staatssicherheitsdienst genutzt wurden. In einem anderen stehen Näpfe mit nachgebildetem Essen auf einem Dutzend Tischen, an denen früher die Gefangenen aßen. Der Museumsdirektor ist im vergangenen Jahr eigens nach Deutschland gereist, um sich anzusehen, wie im früheren Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen die Geschichte vermittelt wird.

Beklemmende Stille – Speiseraum mit nachgebildetem Häftlingsessen im Nationalen Menschenrechtsmuseum

Erinnerung an den Diktator

Das Gesetz zur Bildung des Museums ist erst im vergangenen Jahr in Kraft getreten. Die regierende Demokratische Fortschrittspartei misst der Aufarbeitung der diktatorischen Vergangenheit große Bedeutung zu. Sie möchte auch die zahlreichen Denkmäler für Chiang Kai-Shek beseitigen und möglichst auch das Vermögen der ehemaligen Staatspartei enteignen. Aber die Widerstände sind groß, denn die Kuomintang, die in Taiwan 38 Jahre mit Hilfe des Kriegsrechtes herrschte, wurde niemals aufgelöst. Bei den Lokal- und Regionalwahlen im November 2018 erreichte sie sogar eine absolute Mehrheit.

Wie groß die Widerstände sein müssen, kann man vor allem an einem Ohr studieren – in der Chiang Kai-Shek-Gedächtnishalle. Das bombastische Gebäude im Herzen von Taipei wurde 1980, fünf Jahre nach dem Tod des Diktators, feierlich eingeweiht. Chiang Kai-Shek wurde zwar nicht mumifiziert und in einen Glassarg gelegt, doch vor seiner riesigen Statue im Innern der Halle halten immer noch Soldaten Ehrenwache. Mancher seiner Anhänger entrichtet ihm bis heute den traditionellen chinesischen Kotau.

38 Jahre Kriegsrecht – Ehrenwache vor dem Denkmal des Diktators in der Chiang Kai-Shek-Gedächtnishalle

Eine 2.000 Quadratmeter große Ausstellung mit Gegenständen aus seinem Nachlass erwähnt die Lager und Gefängnisse der Militärdiktatur mit keinem Wort. Stattdessen wird der Diktator als Modernisierer gefeiert, dessen politisches Denken auf den „drei Volksprinzipien“ Ethik, Demokratie und Wissenschaft beruht hätte. Der Versuch der Regierung, der Halle wenigstens einen anderen Namen zu geben, scheiterte am Widerstand seiner Anhänger. Sollte es in China eines Tages zu einer Aufarbeitung der kommunistischen Verbrechen kommen, wird deshalb vielleicht auch dort die Gedenkhalle für den Vorsitzenden Mao das Ende der von ihm geschaffenen Diktatur überdauern.

Erfahrungsaustausch – der taiwanesische Museumschef Chen Chun-hung (re.) mit dem Historiker Hubertus Knabe in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen


(1) Bundesarchiv, Bild 183-1986-0424-315 / Zimmermann, Peter / CC-BY-SA 3.0
(2) https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Commuting_to_Work.jpg


Der Beitrag von Hubertus Knabe ist zuerst hier erschienen.

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