Erlauben wir uns in diesen Zeiten einen richtigen, einen unfassbaren Luxus: Versuchen wir einen Sachverhalt systematisch zu verstehen – das macht manches einfacher: Marken ordnen den Markt zu Kundschaften. Parteien ordnen Wähler zu Ideen-Gemeinschaften. Die Lebenserfahrung weiß: Alles, was Ordnung signalisiert, setzt sich durch, als Gruppeninteresse, oder auch als ökonomischer Akteur. Aber: Ein Optimum an Ordnung ist niemals ein Maximum (Im Gegensatz zur Idee des amerikanischen Benchmarkings). Optimum meint immer das aus der Geschichts- und Leistungsspezifik einer Organisation heraus maximierte Qualitative. Das liest sich kompliziert, ist aber simpel: Alles sein wollen, schwächt über lange Zeit. Das Selbst-sein-wollen stärkt (aber beschränkt die Ausdehnung). Schwere Gedanken in Zeit der warenwitschaftlichen und gedanklichen Maximal-Expansion …
Das bedeutet:
1. Menschen mögen Ordnung.
2. Ordnung heißt, das konsequent zu tun, was einem wichtig ist.
3. Das Wichtige über die Zeit durchzuhalten.
Was bedeutet dies für einen politischen Akteur?
Eine Partei ist weit mehr als die an Zeichen gebundene Darstellung eines Vorsitzenden und seiner Mannschaft in der Öffentlichkeit. Die Partei ist, soziologisch betrachtet, ein komplexes Energie-System, das aus zwei Teilsystemen und deren Interaktion besteht:
- Das erste Teilsystem umfasst die gesamte Leistungsstruktur der Partei (Positionen, Leitideen, Entscheider, historische Erfahrungen, PR und Werbung etc.).
- Das zweite Teilsystem stellt die Öffentlichkeit dar. In ihr baut sich durch Leistungstransfer der Partei die Marken-Energie, d.h. Erwartungshaltungen und Erfahrungen, kurz: Kollektive Vorurteile durch die im ersten Teilsystem erbrachten Leistungen auf.
Verbunden sind beide Teilsysteme über alle markenspezifischen Zeichen, die eine Wiedererkennung der Organisation ermöglichen (Personen, Name, Logo, Farbcode etc.). Sie sind die Speicherplätze der gesamten Leistungsstruktur im Publikum. Die Marken-Energie ist also in der Öffentlichkeit gespeichert – nicht in der Partei selbst! Dies gelingt allerdings nur durch Positionsstabilität: Parteientreue beginnt in den Parteien – nicht beim Wähler.
Parteien sind erfolgreich, weil sie sich selber treu bleiben. Und treu bleibt man dem, der sich selber treu bleibt. Das gilt im privaten Leben ebenso wie auch im Verhältnis, das wir als Wähler zu einer Partei haben.
Parteienwerbung Prolitüde
Diese Gedanken vorausgesetzt, lohnt ein kurzer Blick auf die Parteienwerbung zur EU-Wahl 2019: Trotz der detailreichsten Analyse der „Subjekts Wähler“ seit Anbeginn der Neuzeit, trotz feinmaschigster digitaler Wählerclusterung in den Algorithmen-Auswertungen der New Economy, trotz der Einbindung der profundesten (und teuersten) Werbe- und Kommunikationsexperten dies- und jenseits der Loftbüros vom Prenzlauer Berg und der Hafencity und einem Zeitalter, in dem sowieso jeder alles weiß, weil er weiß, dass keiner etwas weiß, entstand mit Blick auf die EU-Wahl parteiübergreifend und ausnahmslos Wahlwerbung, die sich mit wenigen Worten folgendermaßen zusammenfassen lässt: Kommod. Sie ist da und wäre sie nicht da, so hätten wir auch kein Problem. Übergreifend. Für alle. Tja, die Menschheit hatte wahrscheinlich, seitdem sie als Neandertaler in einer Höhle saß, nicht so viel gemeinsam wie heute. Mass-Customization nennt dies die spätmoderne Sozioökonomie. Bedeutet, dass erfolgreiche Unternehmen der Öffentlichkeit nicht mehr nur uniforme Massenprodukte anbieten, sondern über die Vorstellung persönlicher Identifikation Individualität vermitteln, authentisch sein wollen: gleichwohl als riesengroße Vorratspackung. Das gilt für Produkte und Dienstleistungen, aber – und hier muss eine Werbeanalyse ansetzen – auch als Kommunikationsstrategie. Ein Proletariat der Wünsche.
Kapuzen-Pullover machen „echt sympathisch“
Es hat sich in den letzten Jahren der Parteienkommunikation durchgesetzt, möglichst „authentisch“ zu werben. Von Menschen für Menschen. In Hoody-Pullovern, mit offenem Hemde und am besten ausgelatschten Chuck-Sportschuhen an den Füßen: Mein Politiker als Mensch von nebenan. Barrieren und Distanzen niederreißen, damit wir uns nicht als Funktionsträger, als Fremde begegnen, sondern das Gemeinschaftliche als intuitives Verstehen voranstellen. Gemeinschaften kennen kein richtig oder falsch. Dort herrschen gelernte Logiken – jede Familie hat ihre Rituale, Ansprachen und Gewohnheiten; keine dieser Eigenschaften ist „richtiger“. Diese Muster nutzt die moderne Form der Parteien-Kommunikation. Sie zeigt uns Personen, aber eben keine Politik.
Zahlreiche ambitionierte Wissenschaftler von links bis rechts haben diesen Zusammenhang fundiert herausgearbeitet und die „großen“ Polit-Strategien davon ausgehend entwickelt. Denn die Betonung des Menschen enthebt die Politik einer faktischen Verantwortung. Sofern ich einen Menschen sympathisch erlebe und positioniere, lässt sich sein Erfolg als politischer Akteur nicht messen. Schließlich sind die Parameter ausschließlich „gefühlte“: Der Gewählte ist entscheidender Maßstab … als Person. Das mag als durchdachte Strategie funktionieren, sofern nicht alle Akteure auf diese Form der Überzeugungsarbeit setzen. Schließlich wird nämlich der politische Kampf um die Position zum Kampf um die passendste „emotionale Ansprache“. Und deshalb versuchten uns in den vergangenen Wochen rauschende Klangteppiche, Sonnenauf- und Sonnenuntergänge, spielende Kinder, lächelnde Alte und versonnene Pärchen, für eine Partei zu gewinnen. Emotionen sind so schön … und (leider Gottes) so austauschbar. Oder können Sie sich noch an eine, nur eine einzige konkrete Leistungsaussage der politischen Parteien im Rahmen der Europawahlwerbung erinnern?
Total verpennt durch’s Schlaraffenland der Werbung
Kostenlose, Primetime Sendeplätze im Fernsehen, Spots im Radio, Stellschilder und Plakatwände an eigens aufgestellten Bestlagen sind für jeden Werbeprofi Rom, Mekka und Jerusalem an einem Ort und doch blieb es wie stets: Aussage Null. Nun mag man dieses Fazit als reale Beschreibung des inhaltlichen Zustands der Politik betrachten. Null bleibt Null, auch wenn es hübsch verpackt sein sollte, aber desgleichen hier gilt wieder nur, dass noch nicht einmal Strategie und Verpackung stimmten. Oder: Neue Kanäle machen noch keine Kommunikation. Nur weil jede Partei (ganz geheim) die Trump-Micro-Targeting-Strategie in dilletantistischer Weise nachahmt und irgendwelche Schnipsel per Soziale Netzwerke hochlädt, wird Überzeugungswirkung nicht besser. Im Grunde haben die Parteien die „Konterfei-Parade der Straßenstellwände“ ins Internet transferiert, et voilà. Aber Achtung – noch schlimmer: liken ist nicht wählen.
Es ist für die vereinte Kommunikations- und Werbekaste im Glorienschein ihrer Stellung als Kreativ-Avantgarde, aber auch ihre Auftraggeber ein putziges Ergebnis , dass man in den letzten 40 Jahren nichts, aber auch wirklich nichts an Neuartigem oder auch Bewährtem im Überzeugungswettbewerb entwickelt hat. Noch nicht einmal der Wert von Politikwerbung ist bekannt. Bis heute gibt es keine Erhebungen darüber, ob das Aufstellen von Plakatwänden irgendwelche positiven Auswirkungen auf das Wahlergebnis hat. Augenscheinlich ist jedoch, dass die Wahlwerbung der 1960er und 1970er Jahre tatsächlich Positionen bezog – sie war hochgradig exklusiv. Zog an oder stieß ab. Bot die Möglichkeit der Übereinstimmung und Ablehnung, die heute zugunsten von Frieden und Freude und Mehlspreisen und Solidarität … und guter Busse und Bahnen … und dem Wohlergehen der Bienen, Eichhörnchen, Meisen und Meerschweinchen verschwunden ist. Gewollt, um eben nicht anzuecken und für jeden sympathisch und damit wählbar zu sein. Und damit eigentlich für niemanden. Vielleicht weil es eine sorgsam durchdachte Marketingtheorie ist, vielleicht aber auch nur, weil es nichts mehr zu erzählen gibt …
Wie heißt es doch so wahr bei Oscar Wilde: Nur der Schein trügt nie.
Erstaunlich, wie gut das alles noch funktioniert.