Die – vermeintliche – Katastrophe ist ausgeblieben. Die bösen „Populisten“ haben bei den EU-Wahlen keinen durchschlagenden Erfolg errungen, mit dem freilich bei nüchterner Betrachtung wohl auch nicht so recht zu rechnen war, da hätte das Zentrum für politische Schönheit gar nicht unbedingt nachhelfen müssen. Dafür ist die Wahlbeteiligung gestiegen, was im übrigen namentlich in Ländern wie in Deutschland eben diesen „Populisten“ mit zu verdanken sein dürfte, weil so zum ersten Mal seit Jahrzehnten bei Europawahlen ein echter Wahlkampf stattfand, bei dem es nicht nur um nationale Politik, sondern auch um die EU selber ging. Allerdings begnügten sich die EU-treuen Parteien meist damit, einfach nur zum Kampf gegen das Böse schlechthin aufzurufen, statt die wirklichen Probleme der EU, zu denen auch ein fundamentales Legitimationsdefizit gehört, zu thematisieren.
Sieht es in EU-Europa so viel anders aus? In der Vergangenheit war die europäische Volkspartei, der die CDU/CSU als stärkste Gruppierung angehört, in den meisten größeren Ländern stark verankert, das galt besonders für die wichtigen großen Gründungsstaaten der EWG, Deutschland, Frankreich und Italien. Das ist jetzt nicht mehr der Fall, die französischen Konservativen stellen nur noch 8 der jetzt voraussichtlich (mit der ungarischen Fidesz) ca. 180 Abgeordneten der EVP und die Forza Italia aus Italien auch nur 8. Diese beiden Länder spielen also in der EVP eigentlich keine größere Rolle mehr, statt dessen besitzen die Vertreter Polens und Rumäniens und – wenn Orbans Fidesz doch bei der EVP bleiben sollte – Ungarns ein zahlenmäßig noch relativ großes Gewicht. Als einzige größere Partei aus West- oder Südeuropa ist die spanische Volkspartei mit 12 Abgeordneten vertreten.
Ein fragmentiertes Parlament
Auf Grund dieser Verschiebungen werden die Interessenkonflikte zwischen den unterschiedlichen europäischen Nationen auch die Arbeit im Parlament stärker prägen als in der Vergangenheit. Jedenfalls wird ein möglicher Konflikt zwischen Links und Rechts die nationalen Interessengegensätze nur schwer neutralisieren können, weil es kaum noch Parteiengruppierungen gibt, die für sich in Anspruch erheben können, für ein politisches Lager zu sprechen, das in allen größeren Ländern der EU von zentraler Bedeutung ist. Besonders paradox ist dabei der Umstand, dass die Grünen im Parlament der EU die deutscheste von allen Fraktionen bilden. Fast erscheint die Grüne Fraktion in Brüssel wie eine EU-Dependance der Bundestagsfraktion der Grünen, obwohl doch die Grünen hierzulande eigentlich alles Nationale fundamental ablehnen und den Nationalstaat lieber heute als morgen abschaffen würden. Aber den Rest EU-Europas mit deutschen Plänen für die Errettung der Welt beglücken, das will man dann eben doch.
Die meisten Deutschen glauben die offiziellen Legitimationsnarrative, dass die EU eine tausendjährige Epoche unaufhörlicher Kriege in Europa plötzlich beendet habe und die Deutschen ihren Wohlstand vor allem der europäischen Einigung und dem Euro verdanken. Namentlich jüngere Wähler lehnen es kategorisch ab, über wirtschaftliche Zusammenhänge etwa zwischen den rapide steigenden Immobilienpreisen und der Niedrigzinspolitik der EZB nachzudenken.
Die EU als nicht lernfähiges politisches System: Ein ewiges „Mehr Europa“ als Maxime
Das wird allerdings den Trend zu einer weiteren Zentralisierung in der EU in vielen Bereichen trotzdem nicht aufhalten können. Dieser Trend gehört zur DNA der EU, die bislang noch nie in der Lage war, aus Fehlern der Vergangenheit irgendetwas zu lernen. Das gilt für die Schwächen der Währungsunion genauso wie für die Unfähigkeit der EU-Kommission unter Juncker, den Brexit zu verhindern. Warum sollte man auch lernen? Selbst starker Widerstand gegen die Zentralisierungspolitik Brüssels in einzelnen Nationalstaaten verpufft im Parlament der EU am Ende doch.
Allerdings werden dazu vermutlich noch mehr faule und dysfunktionale Kompromisse notwendig sein, als bisher, und diese reinen Formelkompromisse werden die Tendenz der EU, Vorschriften und Regelwerke zu produzieren, die sich in der Praxis nicht oder kaum sinnvoll und wirksam anwenden, aber eben auch nicht mehr korrigieren oder kassieren lassen, verstärken.
Dazu kommt ein Weiteres. Der sogenannte EuGH als zentraler Motor der Zentralisierung der EU ist nicht auf demokratische Legitimation angewiesen, wenn er auch ohne politisches Mandat durch reines Richterrecht die nationalen Rechtstraditionen gewaltsam homogenisiert. Zusätzlich wird in den nächsten 5 Jahren die Umweltpolitik benutzt werden, um nationale Kompetenzen auszuhebeln. Viele nationale Regierungen werden das sogar forcieren, weil man auf diese Weise unpopuläre Entscheidungen wie die Einschränkung des Individualverkehrs, die Abschaffung des Verbrennungsmotors oder vielleicht auch die Einführung einer CO 2-Steuer nach Brüssel auslagern kann.
Die EU wird also trotz aller Probleme in den nächsten fünf Jahren vermutlich einen Kurs des „Jetzt erst Recht“ einschlagen und versuchen, noch mehr Kompetenzen nach Brüssel zu verlagern, und sie wird damit, solange es nicht um zentrale Bereiche wie die Steuerhoheit an sich oder die Sozialpolitik geht – hier werden die nationalen Widerstände zu groß sein – auch immer wieder in vielen Einzelbereichen erfolgreich sein. Auf Widerstand wird sie am ehesten in Ländern wie Italien, Polen und Ungarn stoßen, wo stark national orientierte Parteien an der Regierung sind, die finanzielle Transfers aus Brüssel oder die Bereitschaft der EZB, ihren Staatshaushalt unbegrenzt über Anleihenkäufe zu finanzieren, freilich dennoch zu schätzen wissen.
Der deutsche Wähler hingegen zweifelt mehrheitlich an der Existenzberechtigung des eigenen Staates und wird daher die weitere Zentralisierung in Namen des Friedens und des Kampfes gegen die Klimakatastrophe mittragen oder hinnehmen, solange er die negativen Folgen nicht allzu deutlich persönlich spürt. Die Frage ist allerdings, wie dieselben Wähler reagieren, wenn hier dank des Zusammenbruchs der Autoindustrie massiv Arbeitsplätze verloren gehen und die Steuereinnahmen wegbrechen, so dass Sozialleistungen gekürzt werden müssen. Ob die Welle der Begeisterung, auf der die Grünen jetzt schwimmen, dann noch Kraft haben wird, und ob man dann immer noch so unkritisch reagiert auf alles, was aus Brüssel kommt, das bliebe dann doch abzuwarten.