Tichys Einblick

Ein Nachruf auf die SPD

Andrea Nahles' Festkrallen am Posten und Regieren nach dem Wahldebakel zeigt: Die SPD-Führung hat den Kontakt zur Realität endgültig verloren. Jede Minderheit scheint ihr mehr am Herzen zu liegen als ihre Stammwähler. Aber warum? Eine bestürzende Innenansicht aus einer scheintoten Partei.

imago images / Becker&Bredel

Nur Leonid Breschnew klebte besser: Es ist faszinierend, welche Pattex-gleichen Eigenschaften die aktuelle SPD-Spitze an den Tag legt, allen voran Andrea Nahles. Jeder, der sich zumindest noch ein wenig an alte Zeiten erinnert, in denen Politiker bei Misserfolgen noch Konsequenzen zogen (ja, die gab es tatsächlich), konnte von der Genossin Vorsitzenden erwarten, dass sie nach dem Desaster bei der EU-Wahl das Wort Rücktritt in den Mund nimmt. Das tat die Frau mit dem Charisma eines Polizei-Blaulichts dann auch. Aber ganz und gar nicht so, wie es zu erwarten war – zumindest von naiven Leuten, die ihren Glauben an eine gewisse Verantwortung in der Politik noch nicht völlig im Zeitgeist ertränkt haben.

Die 49-jährige mit dem 20-Semester-Germanistik-Studium hat am Montag tatsächlich ihren Rücktritt …– nein, nicht etwa erklärt, sondern ausgeschlossen. Im ZDF, dem Sender, der jetzt ebenso wie die ARD mit den Grünen fremdgeht, sagte sie, ihr Ziel sei es, sowohl Partei- als auch Fraktionschefin zu bleiben. Die SPD brauche jetzt keine Personal- sondern Strategiedebatten. Sie wolle in dieser schwierigen Phase „die Klamotten nicht hinwerfen“.

Was für Aussagen! Das sitzt! Abgesehen davon, dass sich niemand, der noch bei Trost ist, wünschen könnte, Frau Nahles würde ihre Klamotten hinwerfen (der Satz war wohl als Drohung gemeint) – was für eine Realitäts-Resistenz! Dass nach einer SPON-Umfrage zwei Drittel der SPD-Anhänger für einen Rücktritt der Parteichefin sind? Pustekuchen!

Das Maß der Realitätsverweigerung in der SPD hat ein Ausmaß angenommen, das einem die Sprache verschlägt. Da rast eine Partei auf den Abgrund zu, und die Frau am Steuer drückt noch mal kräftig aufs Gas. Motto: „An meinem Fuß kann es nicht liegen!“ Für Außenstehende ist diese Resistenz gegen die Wirklichkeit kaum nachvollziehbar. Man muss die Partei wohl von innen kennen, um die Ursachen zu verstehen.

Ich war in tiefer Vergangenheit für wenige Jahre SPD-Mitglied – auf den Spuren meines Urgroßvaters, der schon zur Kaiserzeit und unter Hitler in der Partei war (meine 1902 geborene Großmutter klagte ihr Leben lang, wie selbst sie unter der „falschen Haltung“ ihres Vaters leiden musste, erst als Kind und dann als erwachsene Frau). In den 1950er Jahren trat mein Urgroßvater empört aus seiner geliebten SPD aus, weil damals, wie er beklagte, so viele Opportunisten und Nazi-Mitläufer eingetreten waren (wir scheinen ein Familien-Gen der Unangepasstheit zu haben, das auch in Tagen wie diesen wieder ein Fluch ist).

Es war die Generation Nahles, die ich damals, mit 16 Jahren, bei den Jusos erlebte – genau diejenigen, die heute an vorderster Front in der Partei stehen. Vieles und viele erkenne ich wieder. Ich kann mich erinnern, wie sie damals, hinter verschlossenen Türen, schwärmten, von der DDR. Nicht alle. Aber viele. Die DDR war für sie das bessere Deutschland. 1987, 1988, auch noch 1989. Dass sich DDR-Bürger gegen den Sozialismus erhoben, war ihnen ein Graus. Ebenso die Wiedervereinigung. Wo sie doch die Bundesrepublik an die DDR annähern wollten, und nicht umgekehrt. Ich trat 1990 aus der SPD aus. Viel schneller als mein Urgroßvater.

Die DDR-Nostalgie der Jusos hat sich gewandelt, auch wenn ich Ansätze ihrer Abneigung gegen die alte Bundesrepublik und ihr System auch heute noch wahrnehme – sie mag einer der Gründe für den Erfolg eines verkappten Kommunisten wie Kevin Kühnert sein. Die DDR-Nostalgie war schon damals ein Zeichen massiver Realitätsferne und des Drangs, die Welt durch eine ideologische Brille zu sehen bzw. zu verzerren. Wenn die Fakten nicht zu meiner Weltsicht passen? Umso schlechter für die Fakten. Wie sie sich als Jusos damals im Besitz der Wahrheit glaubten und den politischen Gegner dämonisierten, so tun es viele heute noch. Wer ihnen widerspricht, ist „rechts“, oder gleich Nazi. Sie sind die „Kämpfer für alles Gute“, und damit per Definition auf der richtigen Seite. Punkt.

Diese linken Revolutionäre waren damals, Ende der 1980er Jahre, eine Minderheit. Die Arbeiter und fest im Berufsleben verwurzelten Genossen der Buchbinder-SPD sahen sie als „linke Spinner“ und „Utopisten“. Sie nahmen sie nicht ernst. Was für ein Fehler! Hätten sie auch nur geahnt, dass diese „Utopisten“ die Partei später feindlich übernehmen würden! Nach dem Gang durch die (Partei-)Institutionen, verwandelt in Bürokraten, Akademiker und Berufsfunktionäre. Ist es wirklich weg, das Herzflimmern von damals, sobald das Wort „Lenin“ fiel? Ich weiß es nicht. Vielleicht wurde es ersetzt durch Herzflimmern beim Wort „Pensionsansprüche“. Oder beides. Schwer zu sagen.

Fakt ist: An der Spitze der SPD stehen heute Reihenweise Berufspolitiker, die in ihrem Leben nur rudimentäre Bezugspunkte zur normalen Arbeitswelt hatten, zum Geld-Erwirtschaften statt Geld-Verteilen, an denen sie ihre linke Ideologie hätten abschleifen können. Vielleicht wäre es auch mir so ergangen, hätte ich nicht 16 Jahre in Russland gelebt und gearbeitet, und dort fast täglich die dramatischen Folgen des linken Totalitarismus erlebt. Das führte zur Reifung und Immunisierung gegen. Gegen totalitäre Gedanken. Gegen den Glauben, im Besitz der Wahrheit zu sein. Und Angst vor solchen, die diesen Glauben haben. Und davon gibt es erschreckend viele in Deutschland 2019.

Heiko Maas, gepampert von Oskar Lafontaine, wurde mit 28 Jahren Landtagsabgeordneter, zwei Jahre, bevor er sein Studium abschloss (mit schlechter Note). Im Jahr des Studienabschlusses wurde er gleich Staatssekretär, also Regierungsmitglied. Die 1970 geborene Andrea Nahles saß schon im Bundestag, bevor sie ihr zehn Jahre zuvor begonnenes Studium 1999 abschloss. Generalsekretär Lars Klingbeil arbeitete zwar schon studienbegleitend – doch für die Partei, im Wahlkreisbüro von Gerhard Schröder. Nach dem Studium war er von 2004 bis 2005 Jugendbildungsreferent der SPD Nordrhein-Westfalen – und zog dann direkt in den Bundestag ein. Die Liste solcher Karrieren ließe sich lange fortsetzen.

Die SPD wurde von der Partei der Arbeiter zur Partei der Funktionäre. Von Männern wie Ralf Stegner, die in einer freien Wähler-Wildbahn ohne Listen-Schutz kaum politische Überlebenschancen hatte. Es hat sich eine eigene Kaste gebildet. Pfründejäger, die dem Wähler das Gefühl vermitteln, nicht die Partei ginge ihnen über alles – sondern alles ginge bei ihnen über die Partei. Ich-AGs mit dem Parteibuch als Karriere-Treibstoff. Wie Simon Vaut, der „Felix Krull“ von Brandenburg, ein politischer Ziehsohn von Sigmar Gabriel, der sich für die Chance auf ein Abgeordneten-Mandat einen Lebenslauf zusammenfälschte – und dafür sogar noch Applaus bekam (siehe hier). Was für eine Symbolik! Das ganze Elend der heutigen SPD in einem einzigen Fall. Viel tiefer kann eine Partei nicht mehr sinken.

Dabei denken die Genossen nicht nur an sich selbst. Auch Familienmitglieder werden immer wieder großzügig (mit-)versorgt mit Posten, wie etwa in Mecklenburg-Vorpommern. Es gibt ganze Biotope, mit haarsträubenden Zuständen, Liebesaffären, Gehaltszulagen und Kungelei, etwa in Hannover. Auch Genossen, die aus der Politik ausscheiden, fallen reihenweise sehr weich und werden finanziell üppig gepolstert – wie etwa Thorsten Schäfer-Gümbel. Wieder andere treten in den millonenschweren Dienst von Autokraten wie Gerhard Schröder oder wechseln in die Chefetage eines Unternehmens, in dessen Fusion sie zuvor als Minister eingebunden waren wie Sigmar Gabriel. Ja, auch andere Parteien versündigen sich in dieser Hinsicht. Aber bei der Partei des „kleinen Mannes“ wiegen solche Sünden besonders schwer.

Die SPD kann noch von Glück sagen, dass die Medien sie im Gegensatz zur Konkurrenz mehrheitlich nicht allzu heftig anfassen. Ein Schelm, wer dabei daran denkt, dass mehr als 50 Tageszeitungen mit einer täglichen Gesamtauflage von mehr als 2,3 Millionen Verbindungen zur SPD aufweisen. Viele werden vom RedaktionsNetzwerk Deutschland, RND, mit Artikeln beliefert; das ist eine Tochter des Madsack-Konzerns, dessen größte Kommanditistin die Deutsche Druck- und Verlagsgesellschaft ist, das Medienbeteiligungsunternehmen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD).

Zumindest kann man nicht behaupten, dass die SPD die Meistbegünstigungsklausel im öffentlich-rechtlichen Fernsehen hätte – die ist längst an die Grünen übergegangen. In den Tagesthemen der ARD empfahl Chefredakteur Rainald Becker höchst selbst einen grünen Kanzler („vielleicht ja gar nicht so schlecht für die Zukunft“) und empfahl sich damit wohl für (noch) höhere TV-Weihen.

Solche Absetzbewegungen selbst bei den Getreuen in den Funkhäusern sollten den Sozialdemokraten zu denken geben. Tun sie aber ganz offensichtlich nicht. Warum? Weil sie in einer anderen Welt leben. Zu diesem Schluss bringt mich nicht nur ihre Politik, die den Eindruck erweckt, dass die Funktionärselite dieser einst so großen und wichtigen Partei für jede noch so kleine Minderheit im Zweifelsfall mehr übrig hat als für ihre Stammklientel. Ja, dass sie diese insgeheim als latent AfD-gefährdet sogar verachtet. Stellen Sie sich mal Heiko Maas beim Bad in der Menge mit Stahlarbeitern vor. Oder Lars Klingbeil, wie er mit Bergleuten spricht. Das wirkt in etwa genauso schlüssig, wie wenn man sich Woody Allen auf dem Feld beim American Football oder im Wrestling-Ring vorstellt.

Auch ein persönliches Erlebnis hat mir das kürzlich drastisch vor Augen geführt, wie weit sich SPD-Funktionäre vom Lebensalltag ihrer (Nicht-Mehr-)Wähler entfernt haben. Da traf ich im Zug einen alten Bekannten, der seit vielen Jahren für die SPD im Bundestag sitzt (m/w/d – hier ist diese Gewalt gegen die Sprache ausnahmsweise mal ganz praktisch, um die Anonymität der/des Betroffenen/Betroffenin/Betroffenes zu schützen, im weiteren werde ich einfach „er“ schreiben, „es“ wäre zwar gleichstellungstechnisch vorzuziehen, klingt aber blöd).

Das weitere Gespräch hatte etwas von einem Sketch. Loriot hätte seine Freude daran gehabt. Ich gebe einen kurzen, aber typischen Ausschnitt nach bestem Wissen und Gewissen wieder, allenfalls leicht zugespitzt.

Ich versuchte immer wieder, den alten Bekannten – einen ausgesprochen freundlichen und liebenswerten Menschen – darauf anzusprechen, wie schlecht die SPD bei den Wählern ankomme, wie sehr die das Gefühl hätten, die Partei habe sich von ihnen entfernt.

„Ich weiß“, kam dann immer wieder leicht genervt als Antwort, und dann etwa: „Aber weißt Du, wie viel wir erreicht haben bei Gender Pay gap?“ – also der viel diskutieren Gehalts-Lücke zwischen Mann und Frau, die Kritiker für etwas übertrieben dargestellt fühlten (siehe hier).

„Siehst Du, genau das ist es, die Menschen haben andere Sorgen als den Gender Pay gap. Ich höre immer Themen wie Sicherheit und Migration, wenn ich mit den Menschen spreche“.

„Ja, aber wir haben da jetzt wirklich viel erreicht, und wenn erst mal die Quote auch für Vorstände von Aktiengesellschaften kommt …“

„… das bewegt die Menschen nicht, sie bewegt Sicherheit und Migration …“

„… ja, bei der Polizei müssen auch mehr Frauen in Führungspositionen“…

So in etwa lief es wie in einer Dauerschleife. Pingpong. Wir sprachen völlig aneinander vorbei. Wie Hund und Katz. Obwohl wir eine Sprache sprachen – ich glaube, mit einem Eskimo wäre ich mit Hand und Fuß wohl leichter auf einen besseren Nenner gekommen.

Es ging dann immer wieder um Funktionärs-Interna, wer mit wem, welche Gruppe gegen wen, wer was wie und wo.

Nach einer gefühlten Ewigkeit gab ich es auf.

Ich nickte nur noch. Und hörte fasziniert weiter zu. Fasziniert, dass wir in derselben Stadt leben, zumindest einen großen Teil unserer Zeit, und gleichzeitig in ganz anderen Welten. Ja – Universen. Er in seiner Bundestags-Welt, in seinem Bundestags-Wohnhaus, mit seiner Fahrbereitschaft und Business-Class. Und ich in Charlottengrad, mitten an der Multi-Kulti-Front, wo selbst Polizisten oft resigniert aufgeben und meine russischen, ukrainischen und jüdischen Freunde am Alltag in Deutschland verzweifeln (siehe hier, hier und hier).

Nach dem Gespräch waren meine letzten Zweifel beseitigt: Die Partei meines Urgroßvaters, für die ich mich in meiner Jugend begeistert hatte – es gibt sie nicht mehr. Sie existiert noch formal, aber sie hat aufgehört, zu leben, zu atmen.

Das Festkrallen von Nahles und Genossen an ihrer Ideologie sowie an ihren Ämtern und Pfründen belegt das allzu deutlich. Sie glauben selbst nicht mehr an ihre Partei – sonst wäre ihnen ein Wiederbelebungsversuch wichtiger als ihre Posten. Sonst würden sie ihre ideologischen Scheuklappen zur Seite legen und die Themen in Angriff nehmen, die ihre Stammwähler bewegen.

Mir liegt jede Schadenfreude fern. Im Gegenteil. Wir bräuchten jetzt eine SPD, die den Sachverstand und den Realitätssinn eines Helmut Schmidts aufbringen würde – der mit seinen kritischen Aussagen zur Migration in den Augen der heutigen Funktionärskaste wohl schon fast ein Nazi ist. Wir bräuchten einen Mann, der sich glasklar vom linken Totalitarismus abgrenzt wie Kurt Schumacher, der Stalins Kommunisten als „rot lackierte Nazis“ bezeichnete. Hätte der Mann geahnt, dass seine politischen Erben heute mit der umbenannten SED koalieren (unter der einst Sozialdemokraten in die alten Konzentrationslager eingesperrt wurden). Oder dass Partei-Lautsprecher wie Juso-Chef Kevin Kühnert kaum widersprochen kokettieren mit deren Methoden.

Wir bräuchten eine SPD, die sich auf den Grundsatz eines ihrer Gründer zurückbesinnt, auf Ferdinand Lassalle (1826 – 1864): „Alle große politische Aktion besteht in dem Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist.“

Lassalle konnte nicht ahnen, dass man seinen Spruch 150 Jahre später auf tragische Weise ummünzen müsste: „Das Ableben der SPD begann mit Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist.“

P.S.:
Am Schluss muss ich leider noch den Einstieg in diesen Artikel revidieren. Es war nicht nur Leonid Breschnew, der besser klebte (man verzeihe mir meinen Russland-Bezug, aber immerhin habe ich dort 16 Jahre gelebt – wahrscheinlich gibt es in vielen anderen Ländern auch viele Pattex-Politiker). Mindestens eine bekannte deutsche Politikerin außer Nahles klebt zumindest nicht schlechter.


Sie können dem Autor auch auf twitter, facebook oder reitschuster.de folgen.

In seiner Kolumne «Berlin extrem – Frontberichte aus Charlottengrad» lüftet Boris Reitschuster ironisch den Blick hinter die Kulissen der russisch-ukrainisch-jüdischen Diaspora an der Spree, deren Außeneinsichten oft ungewöhnliche Perspektiven eröffnen. Darüber hinaus spießt der Autor den Alltags-Wahnsinn in der Hauptstadt auf – ebenso wie die Absurditäten in der Parallelwelt des Berliner Politikbetriebs und deren Auswirkungen auf den bodenhaftenden Rest der Republik. Weitere Beiträge aus der Kolumne finden sie hier. Alltagsgeschichten aus Moskau von ihm sind auch in Buchform erhältlich: „Russki extrem im Quadrat“.

Die mobile Version verlassen