Im Jahr 1968 machte ein Plakat des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) mit den Konterfeis von Marx, Engels und Lenin, unterlegt mit dem Slogan Alle reden vom Wetter, wir nicht, öffentlich Furore. Der Slogan stammte von der Deutschen Bundesbahn, die ihn zwei Jahre zuvor auf einem Werbeplakat, freilich ohne die drei Idole linker Revolutionsromantiker, verwendet hatte. Er wurde dank zweier SDS-Studenten der Stuttgarter Kunstakademie zu einer Art Markenzeichen der Außerparlamentarischen Opposition (APO) der späten sechziger und frühen siebziger Jahre und gilt bis heute in Fachkreisen als ein Beispiel gut gelungener politischer PR. Manche Grüne älteren Semesters werden sich vielleicht noch an diese Zeiten erinnern, in denen sie Politik ausdrücklich als eine Aktivität verstanden, die nicht vom Wetter, sondern von anderen Dingen handelt.
Fünfzig Jahre später hat nun eine in den alten Bundesländern zur Klimaabstimmung mutierte Wahl zum EU-Parlament stattgefunden, deren größte Gewinner, neben der AfD in den neuen Bundesländern, die Grünen sind. Folgt man den Erklärungen der Grünen und den sie unterstützenden Leitmedien für diesen Erfolg insbesondere bei jüngeren Wählern, dann lautete der heimliche Wahlslogan der grünen Partei im Jahr 2019: Keiner redet vom Wetter, nur wir. Ausdrücklich verwiesen wird bei der Ursachenforschung nicht nur auf eine drohende Klimakatastrophe in naher Zukunft, sondern auch auf den heißen Sommer des Jahres 2018, der ein Vorbote dieser Katastrophe sei. Beides sei wissenschaftlich zweifelsfrei belegt, werde aber von den derzeitigen Regierungsparteien nicht ausreichend ernst genommen. Opfer dieser Ignoranz sei vor allem die jüngere Generation, der immer heißere Sommer und immer mehr Waldbrände, Stürme und Überflutungen drohten.
Der Youtuber Rezo befeuerte wenige Tage vor der EU-Wahl mit seinem Video zur Zerstörung der CDU höchst erfolgreich und wahlwirksam diese Drohkulisse, die zum festen Bestandteil der politischen Ideologie einer neuen außerparlamentarischen Jugendbewegung mit bourgoisem Weltrettungsanspruch geworden ist. Im Unterschied zur alten APO muß diese neue APO sich jedoch nicht ihr parlamentarisches Standbein erst noch verschaffen, sondern verfügt längst über ein solches in Gestalt der Grünen. Ihnen ist mit Hilfe einer schwedischen Schülerin das gelungen, was Sarah Wagenknecht mit ihrer Aufstehen-Initiative nicht gelang: die Ingangsetzung einer sozialen Bewegung zur Unterstützung der Ziele der eigenen, parlamentarisch etablierten Partei.
Zu ihrem Markenkern zählt die Überzeugung, die Erderwärmung sei in der Hauptsache von der mit der Industrialisierung und der Massenproduktion einhergehenden Kohlendioxid-Erzeugung verursacht und lasse sich durch einen Verzicht auf fossile Brennstoffe stoppen. Da die Erderwärmung bislang aber angeblich weiter voranschreitet, radikalisieren die Jugendlichen ihren Protest nun durch klimapolitische Forderungen nach kürzeren Fristsetzungen für Ausstiege aus der fossilen Energieerzeugung, strengeren gesetzlichen Verboten und Sanktionierungen sowie verstärkten planerischen Eingriffen in das wirtschaftliche Geschehen und private Konsumverhalten.
Ihre durchschlagende Wirkung erzielt diese Radikalisierung vor allem durch den Umstand, dass CDU/CSU und SPD die politische Ideologie der Grünen in ihren wesentlichen Pämissen teilen und deren klima- und energiepolitischen Ziele übernommen haben, gleichzeitig aber aus mehreren Gründen nicht in der Lage sind, die abgegebenen Versprechen und gesetzten Ziele zu realisieren. So befördert beispielsweise der Ausstieg aus der Atomenergie die Kohlendioxyd-Erzeugung ebenso wie der durch das Diesel-Verbot verordnete Umstieg vieler Autofahrer auf Benzin-Motoren. Die derzeitigen Regierungsparteien sitzen damit in einer klima- und energiepolitischen Falle, die sie sich selbst geschaffen haben. Sie bildet den eigentlichen Nährboden für die Radikalisierung der neuen Jugendbewegung, die den Regierungsparteien ihr offenkundiges Versagen bei der Realisierung der selbst proklamierten klimapolitischen Ziele vorhält und eine Forcierung grüner Verbotspolitik sowie planwirtschaftlicher Eingriffe fordert.
CDU/CSU und SPD stehen diesem Angriff auf ihre Politik völlig hilflos gegenüber und versuchen nun, ihm dadurch zu begegnen, dass sie den Wählern der Grünen mit devotem Gestus Läuterung und Besserung versprechen. Das wird sie aller Voraussicht nach aber nicht aus der selbst geschaffenen Falle befreien, sondern sie noch mehr als bislang zu Gefangenen der klimapolitischen Ideologie der Grünen und ihrer Weltuntergangs-Propheten machen. Die grüne Partei selbst ist nicht nur Nutznießer der politischen Radikalisierung ihrer Anhänger und Wähler, sondern befördert sie aus ihrer oppositionellen Rolle auf Bundesebene heraus auch nach Kräften, indem sie sich der Öffentlichkeit als Weltenretter nach Art der Scientology Kirche präsentiert. Diese Hybris wird ihr ab dem Moment auf die Füße fallen, ab dem sie selbst (wieder) die Verantwortung für Klima- und Energiepolitik übernehmen sollte und sich an der schwer zu bewerkstelligenden Realisierung ihrer eigenen, hochgesteckten Versprechen und Ziele messen lassen muss.
Möglicherweise weiß das auch der neue Vorsitzende der Grünen, Robert Habeck, der den Wahlerfolg seiner Partei in den letzten Tagen betont demütig kommentierte. Sicher ist in diesem Zusammenhang schon jetzt, dass der Verzicht auf fossile Energieerzeugung allein in Deutschland die Erderwärmung nicht stoppen wird. Doch selbst wenn die ganze Welt darauf verzichten sollte, wissen wir im Moment nicht, ob die Erde sich dadurch wieder abkühlt. Gut möglich, dass es diesbezüglich nicht nur in Deutschland noch ein böses Erwachen gibt und die einschlägigen Klimaforscher ihre hochkomplexen Modelle und deren Annahmen revidieren müssen. Vielleicht kommt selbst bei den Grünen dann aber auch wieder der alte Bahn-Slogan zum Zuge: Alle reden vom Wetter, wir nicht.