Tichys Einblick
Wochenrückblick

Rücktritt in Wien, sitzen bleiben in Berlin

Dem Vernehmen nach beabsichtigt Merkel, bis 2021 sitzen zu bleiben, um die Finsternis noch hinauszuzögern oder noch schnell den Grundlastausstieg durchzuziehen, wer weiß.

© Getty Images

Von dem Autor Frank Goosen stammt der Roman „Liegen lernen“, einer der vielen Romane über die achtziger Jahre in Westdeutschland, also die Zeit, in der praktisch nichts los war. Ein angemessener Roman über das spätmerkelistische Berlin sollte am besten „Sitzen bleiben“ heißen.

Wobei ihn weder Jana Hensel noch Julie Zeh oder eine andere verfassen wird, denn Zeitromane entstehen immer erst Jahre später. Und wie das Magazin von der Erregungsspitze eins in Hamburg uns mit einem schlecht ausgeleuchteten Foto Spätmerkels und der Zeile „Nach ihr die Finsternis“ lehrt,

steht sowieso eine finstere, schriftlose Zeit bevor. Vielleicht aber auch nur der Blackout, der schneller kommen kann, als ein Umweltstaatssekretär braucht, um den Satz „wir brauchen keine Grundlast“ auszusprechen.

Zappenfinster wird es jedenfalls, wenn die Sonnenkanzlerin weichen muss, und für das, was dann folgt, brauchen wir keinen Berlinroman mehr. Dann genügt es völlig, eine Kerze aus dem Wachs ausgestorbener Bienen anzuzünden, den „Herr der Ringe“ aus dem Regal zu nehmen und sich bei der Lektüre ergänzend vorzustellen, wie Robert Habeck über Mordor herrscht und ab und zu seinen Außenminister Gollum antanzen lässt.

Wenn, dann müsste „Sitzen bleiben“ jetzt und ganz schnell geschrieben werden. Denn mit dem Rücktritt des sog. Vizekanzlers Strache in Österreich fällt gleichzeitig auch auf, wer alles nicht zurücktritt, sondern bleibt, auch und gerade diesseits der Ostmark.

Aber zunächst zu Strache: Das Video mit ihm auf Ibiza enthüllt nichts, was nicht schon jeder über die Intelligenz dieses Politikers wusste oder wissen konnte. Selbstredend ist es perfide, einen Politiker beim Gespräch mit einem Lockvogel so lange zu filmen, bis ihm die Zunge endgültig erlahmt und er noch nicht einmal unfallfrei Strabag sagen kann, von den sechs Stunden sechs Minuten zusammenzuschneiden, das Ganze ungefähr zwei Jahre lang aufzuheben und vor den Europawahlen zu platzieren. Es mag gemein sein, aber dieser Vizekanzler a. D. war eben auch „eine Gemeinheit“ (Thomas Bernhard). Ganz nebenbei zeigt der Film auch, dass Strache das alte Österreich mit seinem Hinterzimmerpackeln und dem Verteilen von Staatsaufträgen eben doch besser repräsentiert als Sebastian Kurz. In Straches Partei wird jetzt darüber geklagt; beziehungsweise, wie schon Karl Kraus wusste: „Wer außer den Politikern, die sie begehen, beklagt die Dummheiten in der Politik?“ Denn, abermals Kraus: „In zweifelhaften Fällen entscheide man sich für das Richtige.“ Auch dann, wenn heimlich eine Kamera zuschaut. Womit jeder jederzeit rechnen sollte. Ösis lernen das jetzt. Ossis wissen es von früher.

Jan Böhmermann sollte die interessierte Öffentlichkeit übrigens weniger auf der Seite derjenigen suchen, denen das Video angeboten wurde, sondern im Kreis der Organisationshelfer.

Und nun zurück nach Berlin, der Stadt, in der sich kaum noch einer des letzten Rücktritts entsinnen kann. Wann fand der eigentlich statt? Schavan 2013? Mit ihren 238 Plagiatsstellen bewegt sich die Doktorarbeit von Familienministerin Franziska Giffey mindestens auf Guttenberg-Niveau und lässt Schavan weit unter sich, wobei sich Giffey von den anderen beiden noch dadurch unterscheidet, dass sie in ihrer Dissertation mehr oder weniger ihre eigene politische Tätigkeit beschrieb, also einen Gegenstand, der mangels Distanz für sie grundsätzlich nicht als Promotionsthema hätte in Frage kommen dürfen. Laut Untersuchung durch die Plagiats-Aufspürplattform Vroniplag finden sich auf 76 von 205 Seiten der Promotion Giffeys Plagiate unterschiedlichen Umfangs. Bisher blieb Giffey einfach in ihrem Ministerium sitzen. Günstigerweise gibt es im Fall der SPD-Politikerin kaum Medien, die bei Tag und Finsternis nachfragen, warum sie noch im Amt ist.

Möglicherweise will sie einfach das Feld nicht vor Ursula v. d. Leyen räumen, die vor Kurzem „die Verantwortung“ für die teils manipulierten Berichte, teils die weitergeleiteten Gelder für die Sanierung der Gorch Fock übernommen hatte. Zur Erinnerung, es geht um die Kostenexplosion für die Sanierung eines 90 Meter langen Segelschiffs von 10 auf etwa 135 Millionen Euro. Das überschreitet noch die Budgetsteigerung für vier neue Fregatten um gut eine Milliarde Euro; im Fall der Gorch Fock nahm das Bundeswehrgeld von der Werft aus zudem teilweise seltsame Wege, in von der Leyens Ministerium wurden Akten zu dem Fall systematisch frisiert. Kürzlich sagte von der Leyen, sie übernehme die Verantwortung. Was sie damit meinte, blieb unklar. Die Verantwortung trägt sie als Ministerin ja sowieso. Früher folgte ministeriellen Worten, man übernehme die Verantwortung, meist noch der Hinweis auf die Familie, Dank für die großartige Zeit und bei Bundesverteidigungsministern schließlich der Zapfenstreich. Bei von der Leyen folgt Sitzenbleiben.

Schließlich und endlich weilte Angela Merkel in der vergangenen Woche in Wuppertal, noch nicht, um dort eine Damenboutique zu eröffnen, sondern einen sogenannten Dialog mit ausgewählten Bürgern zu führen. Auf die Frage, was sie von Schülerabwesenheit für das Klima halte, antwortete sie dort: „Die Schulpflicht ist eins, aber es gibt auch noch andere Erwägungsgründe.“ Für eine Kanzlerin, die ihren Amtseid unter anderem darauf abgelegt hat, die Gesetze zu wahren, ist diese Äußerung beachtlich. Wobei sie hier sagen könnte und auch wird, dass sie ihr Amtseid nur dazu verpflichtet, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes zu wahren, die Schulgesetze aber Ländersache seien, ätsch. Von der Veranstaltung soll sogar ein Video existieren.

Es ist derzeit nicht ganz klar, ob Straches Ibizaparty einen materiellen Schaden angerichtet hat, außer natürlich für ihn selbst. Aber wenn, dann dürfte er kaum die Höhe überschreiten, die durch die Abschaltung von sieben Atomkraftwerken noch vor dem Atomausstiegsgesetz 2011 auf Merkels Wink verursacht wurde, denn ein Gericht sah den Schritt später als rechtswidrig an und sprach den praktisch enteigneten Energieversorgern etliche Millionen Euro Schadensersatz zu.

Für Merkels Entscheidung 2015, das „Asylrecht in ein Asylantragsrecht“ zu verwandeln (so der frühere Bundesverfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier), soll hier gar keine wochenrückblickssprengende Kostenrechnung angestellt, sondern nur die Petitesse angefügt werden, dass sie eine derart gravierende Rechtsänderung zwingend dem Bundestag hätte vorlegen müssen. Indem sie das nicht tat, verstieß sie gegen Artikel 20 (2) Grundgesetz, die Staatsfundamentalnorm („Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. (2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt“). Denn die Legitimation der gesetzgebenden Gewalt durch das Wahlvolk läuft ins Leere, wenn das Parlament mit entscheidenden Fragen gar nicht mehr befasst wird. Dass keine der damals im Bundestag vertretenen Parteien gegen diese faktische Entmachtung klagte, macht die Sache nicht besser.

Dem Vernehmen nach beabsichtigt Merkel, bis 2021 sitzen zu bleiben, um die Finsternis noch hinauszuzögern oder noch schnell den Grundlastausstieg durchzuziehen, wer weiß. Erst dann kommt die Boutique in Wuppertal resp. der Besuchsreigen ihres großen Freundeskreises aus der Weltpolitik, aus dem einer nach dem anderen in die Uckermark reisen wird.

Und jetzt zurück zu Karl Kraus: „Wird in Österreich ein Verfassungsbruch begangen, dann gähnt die Bevölkerung.“


Der Beitrag von Alexander Wendt ist zuerst bei PUBLICO erschienen.

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