Tichys Einblick
Ende von Nachkriegs-Europa?

Ist die Neue Deutsche Frage eine amerikanische?

Die US-Sicherheitsgarantie für Westeuropa, das internationale Freihandelsregime, die weltweite Demokratisierungsbewegung und die Unterdrückung des Nationalismus waren Antworten auf die Deutsche Frage. Von Norbert F. Tofall

© Getty Images

Anfang April veröffentlichte Robert Kagan in der Zeitschrift Foreign Affairs unter dem Titel „The New German Question. What Happens When Europe Comes Apart?“ höchst lesenswerte geostrategische Überlegungen. (1) Seine Ausführungen beleuchten den Zusammenhang von Weltwirtschaftsordnung, Europäischer Union und internationaler Sicherheitspolitik am Fallbeispiel der Deutschen Frage. Seine Gefahrenanalyse richtet sich an die Außen- und Verteidigungspolitiker in den USA. Obwohl seine Analyse keine Empfehlungen enthält, wie Deutschland und Europa die eigenen und die EU gefährdenden Probleme in den Griff bekommen können, sollten wir Kagans US-amerikanische geopolitische Perspektive zur Kenntnis nehmen.

Kagan leitet seine Überlegungen mit dem Hinweis ein, dass das Europa von heute sowie die transatlantischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg durch die „alte“ Deutsche Frage hervorgebracht wurden. Die Deutsche Frage entwickelte sich 1871 durch die Vereinigung Deutschlands. Durch die Gründung des Deutschen Reiches am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles entstand im Herzen von Europa ein neuer Nationalstaat, „that was too large, too populous, too rich, and too powerful to be effectively balanced by the other European powers, including the United Kingdom.” Die daraus folgende Erosion des europäischen Machtgleich-gewichts trug in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Entstehung von zwei Weltkriegen bei und brachte mehr als zehn Millionen US-Soldaten über den Atlantik nach Europa, um in diesen europäischen Kriegen zu kämpfen und zu sterben.

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Nach dem Zweiten Weltkrieg gründeten Amerikaner und Europäer – sowohl zur Lösung der Deutschen Frage als auch als Antwort auf die sowjetische Herausforderung – die NATO. Von vielen Vertretern der sogenannten realistischen Schule der internationalen Politik werde heute vergessen, dass es das Ziel der NATO war, “to keep the Soviet Union out, the Americans in, and the Germans down,” wie Lord Ismay, der erste Generalsekretär des Bündnisses, es ausdrückte. Dies war auch der Zweck vieler nach dem Zweiten Weltkrieg gegründeter europäischer Institutionen, angefangen bei der Europäischen Gemeinschaft für Stahl und Kohle. In einem langjährigen Prozeß entwickelten sich die Europäischen Wirtschafts-gemeinschaften zur heutigen Europäischen Union.

Wie der Diplomat George Kennan es ausdrückte, war irgendeine Form der europäischen Einigung die einzig denkbare Lösung für das Problem der Beziehungen Deutschlands zum übrigen Europa. Darüber hinaus konnte die Vereinigung Europas letztlich nur unter dem Dach eines US-amerikanischen Sicherheitsengagements erfolgen. So sei das demokratische und friedliebende Deutschland, das heute jeder kenne und liebe, unter den besonderen Umständen der nach dem Zweiten Weltkrieg gegründeten und von den USA dominierten liberalen internationalen Ordnung entstanden. Die Deutschen wandelten sich in den Nachkriegsjahrzehnten, aber es gab vor allem vier Aspekte dieser Ordnung, die die günstigsten Umstände boten, unter denen diese Entwicklung stattfinden konnte.

Diese vier Elemente – die US-Sicherheitsgarantie, das internationale Freihandelsregime, die europäische und weltweite Demokratisierungsbewegung und die Unterdrückung des Nationalismus – hätten die alte Deutsche Frage tief unter der Erde verborgen gehalten. Das sei jedoch alles andere als selbstverständlich und nicht für ewig gesichert. Denn die vier Elemente spiegeln (lediglich) eine spezifische politisch-historische Machtkonfiguration in der Welt wider, ein globales Gleichgewicht der Nachkriegsordnung, in welchem die liberalen Demokratien im Aufstieg waren und in welchem in Europa die strategischen Konflikte der Vergangenheit von der dominierenden liberalen Supermacht USA unterdrückt wurden.

Jedes der vier Elemente der Nachkriegsordnung habe die deutsche Frage enthalten. Und jedes dieser vier Elemente sei heute gefährdet und in Bewegung und in die Schwebe geraten: Der Nationalismus nehme in ganz Europa zu; die Demokratie nehme in einigen Teilen des Kontinents ab und stehe überall unter Druck; das internationale Freihandelsregime werde angegriffen, vor allem von den Vereinigten Staaten; und die amerikanische Sicherheitsgarantie werde vom Präsidenten der USA selbst in Frage gestellt.

Angesichts der Erfahrungen der europäischen und deutschen Geschichte stellt Robert Kagan nun die geostrategisch höchst relevante Frage, ob sich das Verhalten und Handeln der Europäer und insbesondere das der Deutschen nicht durch die sich heute verändernden politischen Umstände und Machtkonstellationen wandeln könnte. Wenn das heutige Deutschland ein Produkt der liberalen Weltordnung der Nachkriegszeit ist, sei es an der Zeit darüber nachzudenken, was passieren könnte, wenn sich diese liberale Weltordnung auflöse.

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Dazu müsse das Europa betrachtet werden, in welchem die Deutschen heute leben. Im Osten hätten die einst demokratischen Regierungen der Tschechischen Republik, Ungarns, Polens und der Slowakei unterschiedliche Phasen eines Abstiegs in den Illiberalismus und Autoritarismus durchlaufen. Im Süden werde Italien von nationalistischen und populistischen Bewegungen regiert, von denen es sehr fragwürdig sei, ob sie sich für den Liberalismus einsetzen. Der Wirtschaftsdisziplin der Eurozone fühlten sie sich auf jeden Fall nicht verpflichtet. Im Westen sei ein zunehmend unruhiges und verärgertes Frankreich eine Wahl von einem nationalistischen Wahlsieg entfernt, der Europa wie ein Erdbeben treffen werde. Ein nationalistischer Wahlsieg in Frankreich würde auch einen letzten Nagel in den Sarg der deutsch-französischen Partnerschaft schlagen, um die vor 70 Jahren der europäische Frieden aufgebaut wurde.

Dann sei da noch die Abkehr des Vereinigten Königreichs von Europa. Als sich 2016 die Abstimmung über den Brexit näherte, fragte Premierminister David Cameron: “Can we be so sure that peace and stability on our continent are assured beyond any shadow of doubt?” Das sei die richtige Frage gewesen; denn der Brexit werde tatsächlich zur Destabilisierung Europas beitragen, indem er das Machtungleichgewicht verschärfe und ein ohnehin schon geschwächtes Frankreich allein einem mächtigen, aber zunehmend isolierten Deutschland aussetze. Der Brexit sei auch ein weiterer Sieg für den Nationalismus, ein weiterer Schlag gegen die Institutionen, die gegründet wurden, um auf die Deutsche Frage zu antworten und Deutschland in der liberalen Welt zu verankern.

Aber in den kommenden Jahren könnten die Deutschen in einem weitgehend re-nationalisierten Europa leben, in dem Blut-und-Boden-Parteien der einen oder anderen Art die Regierungen aller führenden europäischen Staaten übernommen haben. Könnten die Deutschen unter diesen Umständen einer Rückkehr zu einem eigenen Nationalismus widerstehen? Würden deutsche Politiker nicht noch mehr als bisher unter Druck geraten, deutsche Interessen in einem Europa und einer Welt zu vertreten, in der alle anderen Staaten rücksichtslos ihre eigenen Interessen verfolgen?(2) Schon heute habe die rechtsnationalistische Partei AfD die drittgrößte Zahl von Sitzen im Deutschen Bundestag. Die Partei werde von Ideologen geleitet, die den deutschen „Schuldkult“ leid seien und den Zustrom von Ausländern den deutschen Politikern zur Last legten, welche als „Marionetten der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs“ bezeichnet würden. Der Historiker Timothy Garton Ash habe bereits festgestellt, dass ein Kulturkampf um die Zukunft Deutschlands im Gange sei.

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Man könne auch nicht davon ausgehen, dass in einer Welt des zunehmenden politischen und wirtschaftlichen Nationalismus die europäischen Länder weiterhin militärische Macht als Instrument der internationalen Politik ablehnen werden. Schon heute würden die Europäer erkennen, dass ihr postmodernes Experiment, militärische Macht zu überwinden, sie in einer Welt entwaffnet habe, die nie ihre optimistische Friedensperspektive geteilt habe. Zwar klammerten sich die Europäer immer noch an die Hoffnung, dass globale Sicherheit weitgehend ohne sie erhalten bleiben könne und dass sie schmerzhafte Ausgabenentscheidungen vermeiden könnten, die sie treffen müssen, wenn sie für ihre eigene Verteidigung verantwortlich würden. Da jedoch Russland eher bereit sei, Gewalt in den internationalen Beziehungen anzuwenden, um seine Interessen durchzusetzen, und da die Vereinigten Staaten sich von ihren ausländischen Verpflichtungen zurückziehen würden, verschwinde diese für die Europäer bislang so bequeme Welt, in welcher Europa die Rolle der Venus übernehmen konnte, weil die Vereinigten Staaten die Rolle des Mars übernommen hatten. Heute stehe einer Rückkehr der Europäer zu einer Machtpolitik, die ihren Kontinent jahrhundertelang beherrscht hatte, nichts im Wege. Und wenn der Rest Europas diesem Weg folge, werde es selbst für das liberalste Deutschland schwer sein, sich diesem Weg nicht anzuschließen, wenn auch nur zur Selbstverteidigung.

Dazu stellt Robert Kagan sakastisch fest: „There has always been something ironic about the American complaint that Europeans don’t spend enough on defense. They don’t because the world seems relatively peaceful and secure to them. When the world is no longer peaceful and secure, they probably will rearm, but not in ways that will benefit Americans.”

Und mit dieser Feststellung holt Kagan zu seinem eigentlichen Angriff aus, der nicht auf Deutschland gerichtet ist, sondern auf die amtierende US-amerikanische Regierung. Wenn man Deutschland und Europa erneut in ein höchst gefährliches Machtungleichgewicht bringen wolle wie zwischen 1871 bis 1945, dann könne man kaum einen besseren Job machen als zur Zeit US-Präsident Donald Trump. Die Trump-Administration, die der EU offen feindlich gesinnt sei, fördere die Renationalisierung Europas. Außenminister Mike Pompeo habe Ende 2018 in Brüssel in einer Rede die Tugenden des Nationalstaates propagiert. Im europäischen Kampf zwischen Liberalen und Illiberalen und zwischen Internationalisten und Nationalisten lege die Trump-Administration ihren Daumen auf die Waage zugunsten der beiden letztgenannten Gruppen. Die Trump-Administration kritisiere die Führer der europäischen Mitte-Rechts- und Mitte-Links-Regierungen, von Bundeskanzlerin Angela Merkel über den französischen Präsidenten Emmanuel Macron bis hin zur britischen Premierministerin Theresa May, während sie die Führer der populistischen illiberalen Rechten umarme, – von Viktor Orban in Ungarn über Marine Le Pen in Frankreich bis hin zu Matteo Salvini in Italien und Jaroslaw Kaczynski in Polen. Ausgerechnet in Deutschland äußere der US-Botschafter Richard Grenell in einem Interview den Wunsch, die „Konservativen“ Europas zu „stärken“, womit er nicht die traditionelle deutsche zentrumstreue Partei von Merkel gemeint habe.

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Zusätzlich zur Förderung des rechten Nationalismus und der Auflösung paneuropäischer Institutionen wende sich die Trump-Administration gegen das globale Freihandelsregime, welches der europäischen und deutschen politischen Stabilität zugrunde liege. Der US-Präsident selbst habe sich gezielt an Deutschland gewandt, beklage Deutschlands hohen Handelsüberschuss und drohe mit einem Zollkrieg gegen deutsche Automobile. Wenn das zu einem Konjunkturabschwung in Deutschland führen sollte, dürften die verärgerten Nationalisten gestärkt werden. Sollten dann Griechenland, Italien und andere schwache europäische Volkswirtschaften ökonomisch wanken und weitere deutsche Rettungsaktionen benötigen, könnten diese möglicherweise verweigert werden. (3) Das Ergebnis wäre das Wiederaufleben des wirtschaftlichen Nationalismus und der bitteren Spaltungen der Vergangenheit. Hinzu kommen die wachsenden Zweifel an der US-Sicherheitsgarantie, die Trump bewusst aufgeweicht habe, sowie seine Forderungen nach erhöhten Verteidigungsausgaben in Deutschland und dem übrigen Europa. Die amerikanische Politik scheine darauf bedacht zu sein, den perfekten europäischen Sturm zu erzeugen.

Ob dieser Sturm in 5 Jahren, in 10 oder in 20 Jahren einsetzen werde, könne natürlich niemand sagen. Die Dinge änderten sich aber schnell. Heute könne man sich zwar darauf verlassen, dass die Deutschen keinen neuen Krieg anzetteln und Europa und die Welt erneut in eine Hölle verwandeln würden. Und vielleicht seien die Deutschen für immer verwandelt worden und nichts könne diese Transformation rückgängig machen, nicht einmal der Zusammenbruch Europas. „But perhaps even these liberal and pacific Germans are not immune to the larger forces that shape history and over which they have little control.” Und mit dieser Warnung ermahnt Kagan die Regierung der Vereinigten Staaten, dass man sich fragen müsse, wie lange die Ruhe in Deutschland und Europa andauern werde, wenn die Vereinigten Staaten und die Welt auf ihren gegenwärtigen Wegen weitermachen. Europa könne man heute als eine nicht explodierte Bombe betrachten, deren Zünder und Sprengstoffe intakt und funktionsfähig seien. „If this is an apt analogy, then Trump is a child with a hammer, gleefully and heedlessly pounding away.”(4)


(1) ROBERT KAGAN: „The New German Question. What Happens When Europe Comes Apart?”, Foreign Affairs, May/June 2019 Issue, online since: April 2, 2019

(2) Kagan stellt mit diesen Fragen auf die rücksichtslose Verfolgung nationaler Interessen ab und geht dabei nicht auf die Frage ein, ob das heutige Problem der EU nicht auch darin bestehen könnte, daß die neue deutschen Europapolitik keine Interessen hat, siehe hierzu: THOMAS MAYER und NORBERT F. TOFALL: Die neue deutsche Europapolitik hat keine Interessen. Das Wunder Europa ist jedoch aus Interessenkonflikten hervorgegangen, Studie zu Wirtschaft und Politik des FLOSSBACH VON STORCH RESEARCH INSTITUTE vom 2. Februar 2018, online abrufbar: hier.

(3) Kagans Warnung vor Protektionismus ist mehr als berechtigt. Die EU und die Eurozone werden jedoch unab-hängig von einem möglichen Handelskrieg mit den USA nicht durch weitere Rettungsaktionen wie denen seit 2010 gerettet werden können. Dazu ist ein weitergehender Umbau des Euro notwendig, siehe hierzu: THOMAS MAYER und NORBERT F. TOFALL: Währungswettbewerb zur Rettung des Euro, Studie zu Wirtschaft und Politik des FLOSSBACH VON STORCH RESEARCH INSTITUTE vom 31. Oktober 2018, online abrufbar: hier.

(4) Siehe auch NORBERT F. TOFALL: Donald Trumps weltweiter Furor. Doch eine komplexe Welt läßt sich nicht durch Furor und Befehle steuern, Studie zu Wirtschaft und Politik des FLOSSBACH VON STORCH RESEARCH INSTITUTE vom 27. April 2018, online abrufbar: hier.

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