Die falschen Erwartungen in der Flüchtlingskrise gehen vor allem auf das Konto derer, die es besser gewusst haben müssen. Einblicke in ihr Denken offenbaren die Gründe für ihr Versagen.
Es gibt seit dem Sommer 2015 diese Momente, in denen sicher nicht nur ich zur Schlussfolgerung gelangen musste, dass Deutschland sich von einem politisch einst ernstzunehmenden Staat in eine Witzfigur verwandelt haben musste. Ein Beispiel: Im September 2015 gab Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles eine mittlere Hiobsbotschaft für Deutschland bekannt, denn nicht einmal jeder zehnte Flüchtling bringe die Voraussetzungen mit, um direkt in eine Arbeit oder Ausbildung vermittelt zu werden. „Nicht alle, die da kommen, sind hoch qualifiziert. Der syrische Arzt ist nicht der Normalfall.“ Folgerichtig kündigte sie steigende Arbeitslosenzahlen und -kosten an.
Erst im Juni 2015 hatte Frau Nahles, gemeinsam mit Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier, in der FAZ dafür geworben, in der Zuwanderung von Flüchtlingen auch eine wirtschaftliche Chance für Deutschland zu sehen: „Denn wir stehen in Deutschland vor der riesigen Herausforderung der Fachkräftesicherung. Und daher sollten wir in den Flüchtlingen auch die Fachkräfte sehen, die wir immer dringender brauchen.“ Demzufolge muss die Erkenntnis der mangelhaften Qualifikation der Flüchtlinge kurze Zeit später eine Überraschung für Frau Ministerin Nahles gewesen sein.
Die es besser gewusst haben müssen
Wie dem auch sei, mich und viele andere Bürger hat diese Erkenntnis kaum überrascht. Die Untauglichkeit der allermeisten Flüchtlinge für den deutschen Arbeitsmarkt war vollkommen vorhersehbar. Um diese Vorhersage zu treffen, wären etwa 10% Sach- und 90% gesunder Menschenverstand erforderlich gewesen. Der Sachverstand hätte sich auf frei verfügbare, unter deutscher Mitwirkung entstandene Forschungen der letzten zehn Jahre berufen können, welche ergeben hatten, dass die Bildungssysteme in Afrika und im Nahen Osten so derartig schlecht sind, dass es den Menschen trotz Schulbesuchs oftmals an ganz grundlegenden mathematischen und sprachlichen Fähigkeiten mangelt. Der gesunde Menschenverstand hätte dies auch ohne Belege zumindest bereits nahegelegt.
Wenn aber dieses Desaster so vorhersehbar gewesen ist, dann wirft dies die Frage auf, warum es offensichtlich trotzdem nicht vorhergesehen wurde. Anscheinend erwartet man eine derartige Kompetenz schon nicht mehr von einem Mitglied der Bundesregierung, aber immerhin beschäftigt Frau Nahles in ihrem Ministerium ein ganzes Heer an gut ausgebildeten Beamten und es fällt mir sehr schwer zu glauben, dass keiner von ihnen nicht nur ahnte, sondern auch wusste, dass Deutschland nicht auf Fachkräfte zu hoffen brauchte.
Gleichwohl gibt es auch außerhalb der Ministerien Experten, Sachverständige und Fachmänner zu jedem denkbaren Thema, aber zumindest wirksam hat keiner von ihnen im Sommer 2015 warnend aufgeschrien. Bevor man auch nur einen Gedanken darauf verwendet, wie man mit den Folgen dieses Desasters fertig werden könnte, ist es hilfreich, ja vielleicht sogar überlebenswichtig, zunächst das Denken zu verstehen, welches dazu geführt hat.
Viele der Diskussionen, die ich während der vergangenen Monate mit deutschen Akademikern geführt habe, boten mir die Gelegenheit, dieses Denken leibhaft kennenzulernen. Diese Diskussionen gipfelten meistens darin, dass ich meine jeweiligen Gegenüber fragte, ob sie denn wirklich glauben würden, dass Frau Merkel den großen Generalplan zur Lösung der Krise und zur Bewältigung der Integrationsherausforderungen schon fertig im Schreibtisch aufbewahre. Ich erhielt mehrmals die Antwort, dass man keinen Grund sehe, nicht davon auszugehen, denn schließlich habe sie einen solchen Plan ja bisher immer gehabt.
Meine Gegenüber konnten es sich einfach nicht vorstellen, dass Frau Dr. Angela Merkel, also quasi eine von ihnen, genauso verantwortungslos ihre Hoffnungen daraufsetzen könnte, dass die Sache schon irgendwie gut gehen würde, wie sie selbst es taten. Die feine geschichtliche Ironie, dass man ausgerechnet als Deutscher immer noch wie selbstverständlich davon ausgeht, dass die politische Führung das Land niemals sehenden Auges auf eine Katastrophe zusteuern würde, blieb leider nur mir nicht verborgen.
Optimismus an Bord der Titanic
Der menschliche Tiefpunkt war für mich in einer dieser Debatten erreicht, als ein Gesprächspartner auf eine Reihe meiner Argumente und Bedenken anmerkte, dass diese zwar zutreffend sein könnten, er aber einfach optimistisch bleiben wolle. Nun ist Optimismus grundsätzliche eine nützliche Einstellung, die zu Produktivität und Zielstrebigkeit anregen kann – sie ist aber nur dann auch zweckdienlich, wenn sie auf Tatsachen beruht, die diesen optimistischen Blick in die Zukunft auch rechtfertigen. An Bord der Titanic wäre Optimismus bezüglich der Zahl der Rettungsboote nicht nur lächerlich, sondern auch fatal gewesen.
Die Art von Optimismus, die man derzeit unter den Studierten dieses Landes beobachten kann, erinnert an die Geisteshaltung eines störrischen Kindes, das sich in den Kopf gesetzt hat, nun auf Teufel komm raus etwas empfinden zu wollen, auch wenn keine rationalen Gründe dafür vorliegen. Optimismus ist somit nicht mehr die Konsequenz der Realität, sondern die Brandmauer gegen sie; er erfüllt nur noch die Funktion, den Betrug am eigenen Verstand und am eigenen Wissen zu rechtfertigen.
Die Folgen, die diese Einstellung in der Praxis hat, verdeutlichte kürzlich wieder Marcel Fratzscher, seines Zeichens Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Nun ist das DIW noch nie für seine große Staatsferne bekannt gewesen, aber es ist schon eine Leistung der besonderen Art, wenn Professor Fratzscher zuerst selbst eine Studie erstellt, in der er davon ausgeht, dass in fünf Jahren immer noch 50 (in Worten: fünfzig) Prozent der 2015 eingetroffenen Flüchtlinge arbeitslos sein werden, um dann daraus zu folgern, dass dies „eine riesige Chance“ für Deutschland sei.
Ich war bisher davon ausgegangen, dass inkompetente Handlungen auf zwei Arten von Menschen zurückzuführen wären: Einerseits auf die Art, die relevantes Wissen zu einem Sachverhalt einfach nicht besitzt, was zu einem gewissen Grad unvermeidlich und damit entschuldbar ist, und andererseits auf die, die dieses Wissen ebenfalls nicht besitzt, aber auch bewusst nicht besitzen will.
Neuer Gipfel der Moral: den eigenen Verstand mit moralischen Prämissen niederknüppeln
Ich habe allerdings lernen müssen, dass es noch einen dritten, weitaus destruktiveren Typus gibt, nämlich den, der etwas weiß, aber gleichzeitig abstreitet, es zu wissen. Sein Handeln ist deswegen so unkontrolliert und gefährlich, weil ihm sein Wissen, das ihn in seinen Entscheidungen leiten sollte, im Grunde lästig und sogar moralisch verwerflich erscheint. Das Ergebnis dieses Versuchs, den eigenen Verstand mit moralischen Prämissen niederzuknüppeln, kann man an allen Enden des Landes in der Gestalt des hilflosen, in seinen inneren Widersprüchen verstrickten, handlungsunfähigen Inkompetenten beobachten.
Auch wenn diese Lektion frustrierend war, kann ich aus ihr doch einige nützliche Erwartungen für die Zukunft ableiten: Es gibt keinen Anlass, davon auszugehen, dass diese Kompetenzflüchtlinge vor der eigenen Kompetenz auf die lauter werdenden warnenden Appelle, oder das unaufhaltsam näher rückende Ungemach auf irgendeine Art und Weise reagieren werden, die auf Integrität, Sachverstand und Beständigkeit beruhen wird. Man sollte nicht einmal ansatzweise von ihnen erwarten, dass sie die Größe besitzen werden, ihren eigenen Selbstbetrug einzugestehen. Die Aussichten sind deshalb, wenn auch nicht gerade erfreulich, immerhin klar.
Gastautor Andreas Backhaus arbeitet in München an seiner Promotion zu den Themen Entwicklungsökonomie und internationale Wirtschaftsbeziehungen.