Dieser Ordnungsruf lässt sich auch als Publikumsbeschimpfung lesen. Ja, nicht nur Politiker und Medien gehören gelegentlich an den Pranger, sondern auch das Volk, das sich nur allzu gern immer nur als Opfer sieht. Dabei stehen die Ansprüche vieler Bürger an den Staat in einem umgekehrten Verhältnis zu ihrer Bereitschaft, für Staat und Gesellschaft auch etwas zu leisten. Wie ignorant der wahlberechtigte Souverän selbst auf Wahltermine reagiert, belegt das aktuelle Forsa-Trendbarometer: 58 Prozent der Stimm-Bürger wussten knapp einen Monat vor der Europawahl nicht, dass überhaupt eine stattfindet. Dabei ist die Republik seit Wochen mit – allerdings nichtssagenden – Großflächenplakaten der Parteien zugestellt, denen kaum ein Blick entkommen kann. Ich will hier – bewusst provokativ – einige Thesen aufstellen, um die saturierte bürgerliche Fassade anzukratzen.
1. Jeder Mensch, der gesund und im erwerbsfähigen Alter ist, muss auf eigenen Füßen stehen können. Eigene Arbeitsleistung soll sozialen Aufstieg ermöglichen. Auch das ist Ausdruck der personalen Würde des Menschen.
Die individuelle Leistungsbereitschaft erfordert aber ein Steuer- und Abgabensystem, das den Bürgern mehr von den Früchten ihrer Arbeit lässt. Unser heutiges Steuer- und Sozialversicherungssystem überfordert den Faktor Arbeit und damit die Leistungswilligen und -fähigen. Ohne deutliche Senkung der Abgabequote wird immer mehr Bürgern die Leistungsbereitschaft förmlich ausgetrieben. Staat und Gesellschaft erfahren dann Dienst nach Vorschrift, Schattenwirtschaft oder Auswanderung der Tüchtigen. Und politischen Frust, der sich parteipolitische Ventile sucht.
2. Einkünfte aus Kapitalvermögen und Erbschaften dürfen nicht länger so stark steuerlich privilegiert werden wie heute. Wer die Abgabenbelastung auf den Faktor Arbeit deutlich senken will, muss dort für eine signifikant höhere Besteuerung sorgen.
Die Schere zwischen der gesellschaftlichen Mitte, die vorwiegend von Arbeitsleistung lebt, und der vermögenden Oberschicht geht deshalb immer weiter auseinander, weil ihre Einkommen massiv ungleich mit Steuern und Abgaben belastet werden. Auch wenn Vermögensbesitzer und Erben aufschreien: Eine Gesellschaft lebt immer von der schöpferischen Kraft der aktiven Generation. Sie bei Laune zu halten ist wichtiger, als „leistungsloses“ Einkommen so extrem wie heute zu privilegieren. Außerdem: Wo die Arbeitsleistung immer stärker diskriminiert wird, wachsen auf Dauer auch keine Vermögens- und Erbschaftsansprüche.
3. Für die Lebensrisiken Alter, Krankheit und Pflege gibt es zwar solidarische Unterstützung, aber nicht als Vollkasko-System, sondern als Basisversorgung. Auch die Sozialhilfe (vulgo: Hartz IV) dient nur als Absicherung des Existenzminimums.
Alle, die glauben machen wollen, man könne im Alter allein von der gesetzlichen Rente leben, verkaufen das Volk für dumm. Wer medizinische Bestversorgung zum Nulltarif verspricht, gehört selbst in die Klinik. Wer auf die Erbschaft vermögender pflegebedürftiger Angehöriger spekuliert und vorhandenes Vermögen privatisieren, die Pflegekosten aber sozialisieren will, missversteht die ursprünglich als Teilkaskoversicherung angelegte Pflegeversicherung komplett. Wer das privilegierte Beamtenversorgungssystem aufrechterhalten will, wird sich trotz der Patronage durch die Berufspolitikerzunft vor Augen führen müssen, dass diese privilegierte Klasse eine kleine Minderheit darstellt, die von der übergroßen Mehrheit nicht dauerhaft alimentiert werden wird. In den Jahren 2020 bis 2035 scheiden die Babyboomer aus dem Erwerbsleben aus, werden von Finanziers der Sozialversicherungen zu deren Kostgängern. Wie bitte sollen weitere Zusatzleistungen von einer künftig kleiner werdenden aktiven Erwerbsgeneration geschultert werden? Schon die heutigen Leistungsansprüche sind ohne massive Mehrbelastungen der Steuer- und Abgabepflichtigen nicht zu meistern.
4. Die ökologischen Glaubenskrieger haben in ihrem Kampf für die Grüne Energiewende das Volk in einem Ausmaß geschröpft, das in einem umgekehrten Verhältnis zur ökologischen Effizienz steht. Deutschland verfehlt die selbstgesteckten Klimaziele meilenweit, hat dafür aber die höchsten Energiekosten der Welt. Und die Grünen liegen bei 20 Prozent!?
Das Paradoxon, dass derzeit die Partei am stärksten haussiert, die der Republik mit ihrer Rezeptur des Energieeinspeisegesetzes weltweite Höchststrompreise verschafft hat, zeugt vom intellektuellen Tiefflug Deutschlands. Dass die Energiewende fast ein Allparteienprojekt geworden ist und kaum mehr kritisch hinterfragt wird, unterstreicht diesen Befund erst recht. Wer den CO2-Ausstoss mindern will und dafür die Atomkraftwerke vorzeitig und vorschnell stilllegt, der erntet dreckigen Kohlestrom. Wer Solar- und Windstrom teuer durch die Verbraucher subventioniert, muss trotzdem fossile Energieträger parallel in Bereitschaft halten und dafür bezahlen, weil die Sonne nicht immer scheint und der Wind nicht immer weht. Doch nach dem Atomausstieg kommt jetzt der teure Kohleausstieg. Wie damit langfristig die Energieversorgung in Deutschland stabil und bezahlbar sichergestellt werden kann, interessiert die Grünen Moralisten wenig. Stattdessen träumen sie und ihre vielen Sympathisanten lieber von der „Versöhnung von Ökologie und Ökonomie“. Angesichts dieser Energiewende fragt man sich, ob ihre Promoter überhaupt bis Vier zählen können.