Die Demoskopen von infratest dimap haben anlässlich 70 Jahren Grundgesetz die Deutschen befragt, wie ihnen die derzeitige Demokratie gefällt und was es vor allem zu tun gibt in diesem Land. Das Ergebnis wird publizistisch nicht an die große Glocke gehängt, deshalb soll es hier Platz finden: Viele Bürger glauben nach dieser Erhebung, dass es neue Parteien oder Bewegungen braucht, um die anstehenden Herausforderungen zu meistern. Unter den Anhängern der Linken sind es 62%. Bei den AfD-Anhängern ist dieser Anteil erwartungsgemäß noch größer. Überraschend hingegen ist, dass fast jeder zweite Sympathisant der Grünen die Notwendigkeit neuer Organisationen sieht.
Was sind die Herausforderungen für unsere Demokratie? Da würde man angesichts der überwiegenden Berichterstattung denken, die Kategorie „Populismus/ Erstarken der Ränder“ hätte den höchsten Wert erzielt – die 1.000 Befragten haben aber „Integration von Ausländern/ Bewältigung der Zuwanderung/ Flüchtlinge“ auf Platz 1 gewählt. 34% sind zehn Prozentpunkte mehr als die zweitwichtigste Herausforderung „Armut/ Soziale Ungleichheit/ Schere zwischen Arm und Reich“. Bei dieser Frage waren Mehrfachnennungen möglich und so erhielt „Entwicklung Europas/ EU“ immerhin noch 7%.
Dass Dystopien derzeit in der Literatur so hoch im Kurs stehen, hat eben auch mit der Realität zu tun. Die ist zwar subjektiv (wie heißt es so schön: „Wir sehen die Dinge nicht so, wie sie sind, sondern wie wir sind“), muss aber von den Herrschenden zur Kenntnis genommen, nein, noch mehr, zum Maßstab ihres Handelns werden, und zwar auch dann, wenn die Deutung von der eigenen abweicht, gar missfällt.
Bei der Vorstellung der Polizeilichen Kriminalstatistik 2018 verschwieg der Chef des Bundeskriminalamtes, Münch, klugerweise nicht, dass die Zahl der Bürger, die sich in ihrem Lebensumfeld nicht sicher oder eher unsicher fühlen, in den vergangenen Jahren gestiegen ist, auf 21,4 % (2017). Für diese Bevölkerungsgruppe ist der Hinweis, Deutschland sei eines der sichersten Länder der Welt, eine Provokation. Der FC Bayern München vergleicht sich auch selten mit Drittligisten, eher den eigenen Status quo mit der erfolgreichsten Zeit des Clubs.
Während also die Zuwanderung in der Wahrnehmung der wahlberechtigten Bevölkerung die drängendste Aufgabe der Politik ist, fragen sich viele Vertreter dieser Berufsgruppe und auch jede Menge Journalisten: „Wo sind wir schon besonders bunt? Wo fehlt uns noch Farbe?“ Wie heißt es in einer sehr feinen Radio-Comedy: „Es ist ja wie es ist!“
Was die bei der Umfrage am zweitmeisten genannte Herausforderung für unsere Demokratie anbelangt, die Schere zwischen Arm und Reich, so kann man bei Wirtschaftsnobelpreisträger Angus Deaton nachlesen, dass der Zuzug von Menschen aus ärmeren Ländern das Lohnniveau bei den einfacheren Tätigkeiten drückt. Wenn aber die weniger qualifizierten Deutschstämmigen aus bestimmten Jobs gedrängt werden, weil sie sich im Gegensatz zu den neuen Mitbürgern mit dem Stundenlohn nicht zufrieden geben, dann entsteht eine weitere Gruppe potentieller Wähler nationalistischer Angebote. Wir sind noch eine Aufstiegsgesellschaft – für die, die zu uns kommen!
Die Bremer SPD, die seit dem Krieg den Bürgermeister an der Weser stellt, plakatiert dieser Tage „Bremen fürchtet keine Fremden“. Deutschlands Staatsoberhaupt, bekanntermaßen ebenfalls Sozialdemokrat, hat da schon eher verbalisiert, was das Gebot der Stunde ist: „Die Sehnsucht nach Heimat, nach Sicherheit, Entschleunigung, Zusammenhalt und Anerkennung dürfen wir nicht den Nationalisten überlassen.“
Um es auf den seit einiger Zeit wunden Punkt zu bringen: Weltoffenheit verpflichtet nicht dazu, sich über den dauerhaften Besuch von Artgenossen zu freuen, die sich als kulturell deplatziert erweisen. Es gibt auch falsche Vielfalt! Oder heißen Mannschaften Spieler willkommen, die das Team schwächen? Diese Kausalität greift auch auf der Makroebene von Gesellschaften. Und wenn das nicht zeitnah von den Einflussreichen dieses Landes verstanden wird, lautet die Frage von infratest dimap irgendwann: Sind Sie mit der illiberalen Demokratie in Deutschland zufrieden?
Martin Busch arbeitet seit über 20 Jahren als Redakteur und Moderator für die Hörfunkprogramme von Radio Bremen. Nach seinem Soziologie-, Politik- und Linguistik-Studium an der Universität Hamburg (Schwerpunkt Markensoziologie) promovierte er im Fach Kommunikationswissenschaften. Er ist Autor der Streitschrift “Deutschland, Deutschland ohne alles – warum Europas größte Wirtschaftsmacht ein sozialer Pflegefall ist“, im Dezember 2018 ist der Aphorismen-Band „Als Freiheit und Fortschritt begannen, Eigentore zu schießen“ erschienen.