Das Deutsche Kinderhilfswerk hat seinen Kinderreport 2016 dem Schwerpunkt „Bildungschancen für von Armut betroffene Kinder“ gewidmet. Ein Schelm, wer meint, da vorher schon zu ahnen, was dabei wohl herausgekommen ist.
„Das bittere Problem der Bildungsbenachteiligung ist skandalös“, zieht der Kinder- und Jugendhilfe-Verein theatralisch dramatisierend das Fazit. Die vorgeblich „schlechten Bildungschancen der von Armut betroffenen Kinder“ wären ein drängendes strukturelles Problem. Die Kausalität wird freilich in der zugrundeliegenden Befragung bereits vorab unterstellt. Da wird erst nach „Gründen für Kinderarmut“ gefragt und darauf, was man tun könnte, „um von Armut betroffenen Kindern mehr Bildungschancen zu bieten“. Man gibt sich alle Mühe, erst beachtliche Teile der Bevölkerung im Lande arm zu reden, um das dann als ausschlaggebendes Kriterium für den Bildungserfolg auszugeben. Für andere Zusammenhänge, die zu ganz anderen Schlüssen veranlassen würden, wird da wohlweislich gar nicht erst Raum gelassen.
An mehr Geld liegt es weniger
Das Kinderhilfswerk brilliert dabei mit tiefschürfenden Analysen, wie „87 Prozent der Kinder und Jugendlichen [… und] 85 Prozent der Erwachsenen sehen zu niedriges Einkommen vieler Eltern als wichtigen Grund für Kinderarmut in Deutschland an“. Vor allem aber geht es einer komplexeren Diskussion vollkommen aus dem Weg. Nämlich der, dass die Armut in Deutschland ja nur eine relative ist, das Einkommensniveau aber tatsächlich für alle Bevölkerungsschichten real steigt, sich das aber offenbar nicht positiv auf den Bildungserfolg niederschlägt.
Dadurch wird die Debatte gezielt weg von der Eigenverantwortung hin zu tiefergehender staatlicher Fürsorge gelenkt. Die daraus resultierenden Lösungen liegen da auf der Hand, aber kaum in der Hand der Eltern: mehr Erzieherinnen/Lehrer, mehr schulische Förderangebote, Vereinheitlichung der Bildungssysteme, (noch) geringere Kostenbeteiligungen, bessere Lehrmittel, Mitbestimmung, höhere Gehälter für Erzieherinnen und Lehrer, eingehendere Beurteilungen, mehr Ganztagesbetreuung und mehr Gemeinschaftsschule. Fraglos sind da diskussionswürdige Aspekte darunter. Maßgebliche Erfolgsfaktoren für Bildung werden aber bei so vorgeprägten Betrachtungen unweigerlich unterschlagen: die Motivation und das Wollen.
Sind nicht Wissensdurst, Bildungshunger und Streben nach Unabhängigkeit eigentlich die überragenden Faktoren, dass man es zu etwas bringt? Und helfen dabei nicht insbesondere Tugenden wie ordentlicher zwischenmenschlicher Umgang, Fleiß, Konzentration, angemessenes Verhalten gegenüber Autoritäten und Pflichtbewusstsein genauso wie Neugierde und Aufgeschlossenheit? Und sind das nicht Tugenden, die ganz maßgeblich vom Elternhaus mitgeprägt werden?! Eine Mitgift, die prinzipiell keinen Cent kostet.
Müssten nicht gerade dürftige Verhältnisse der beste Anreiz sein, die gegebenen Bildungsangebote bestmöglich zu nutzen? Und da mag ja vieles noch verbesserungswürdig sein, aber man kann doch wirklich nicht sagen, dass jemandem, der etwas lernen wollte, bei uns nicht allerorts Tür und Tor geöffnet wird.
Um eine Chance zu haben, muss man gebotene Chancen wahrnehmen. Wahrnehmen wollen. Es gibt keinen Nürnberger Trichter – nicht für Bildung und auch nicht für Chancen. Das maßgebliche Kriterium für Bildungserfolg ist die eigene Anstrengung und wie man durch sein engstes Umfeld dazu motiviert wird.
Natürlich gibt es Grenzen der materiellen Ausstattung, jenseits derer die Aufnahmefähigkeit leidet. Mit knurrendem Magen oder frierend lernt es sich schwer. Unser soziales Sicherungsnetz stattet aber alle Eltern notfalls mehr als ausreichend aus, dass sie ihre Kinder nicht ohne Frühstück oder im Winter mit Sandalen in die Schule schicken müssten. Und natürlich könnte man verzweifeln, wenn alles Lernen ohne wirkliche Perspektive zu verpuffen drohte. Bei uns sind die Aussichten aber rosig. „Seit Jahrzehnten zeigt sich am Arbeitsmarkt ein stabiles Bild: Gut ausgebildete sind deutlich seltener arbeitslos als Personen ohne Berufsabschluss“, meint das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (2013).
Der Bildungserfolg liegt vor allem bei Vater und Mutter
Wenn es aber jeder selber in der Hand hat, ist es eine Farce, von „Benachteiligung“ zu sprechen. Das unterstellt Staatsversagen, wo tatsächlich individuelle Verantwortungslosigkeit herrscht. Und auch die (relative) Armut ist aller Wahrscheinlichkeit nach nicht kausal für mangelnden Bildungserfolg. Es ist viel wahrscheinlicher, dass es sich genau umgekehrt verhält: Wer nicht willens und bereit ist, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, bringt das auch nicht seinen Kindern bei.
Für den Bildungserfolg von Kindern sind die Eltern verantwortlich. Beide. Wer bei dieser Aufgabe von Schicksalsschlägen betroffen ist, kann auf die Solidarität des Gemeinwesens bauen. Wer daraus nicht eine Moral entwickelt, das durch eigenes höchstes Bemühen der Gesellschaft wieder zurückzuerstatten, der missachtet die fundamentalsten Regeln eines gedeihlichen Miteinanders. Die Solidargemeinschaft hat ein Recht auf Bemühen nach bestem Wissen und Gewissen.
Es wird Fälle geben, in denen man nicht mehr viel erwarten kann und das wird man als humanistische Gesellschaft hinnehmen müssen. Aber es sind da auch zahlreiche Fälle, bei denen die Gemeinschaft einmal klarstellen sollte: Wir lassen uns nicht missbrauchen. Wir lassen uns nicht durch mangelhaftes Bildungsstreben benachteiligen. Chancen geben, ist endlich. Wer auch die letzte Chance nicht haben will, muss selber sehen, wo er bleibt.
Das ist das wirkliche strukturelle Problem: Der Staat müsste für seine solidarischen Leistungen den Einzelnen mehr in die Pflicht nehmen. Nach allem was wir in diesem Land bereits eingerichtet haben, wäre es dringend an der Zeit, dass wir uns nicht nur mit dem Chancen-Geben, sondern auch mit dem Chancen-Wahrnehmen beschäftigen.