Hysterien vermögen, wenn sie von politischen Kräften als Mobilisierungsideologien zum Zwecke des Herrschaftsgewinns oder des Herrschaftserhalts entfesselt, befördert und gefördert werden, Gemeinschaften zu zerstören. Gestörte oder gar zerstörte Gemeinschaften gehören im Sinne der alten römischen Regierungstechnik des divide et impera (Teil und herrsche) zu einem idealen Mittel des Machtausbaus eines an den Geschicken der Bürger der res publica nicht sonderlich interessierten Establishments, das die eigene Macht, den eigenen Wohlstand und möglicherweise die eigene Ideologie zur Grundlage der eigenen Handlungen gesetzt hat.
Die Teilung der Gesellschaft in Täter- und Opfergruppen, was euphemistisch mit Identitätspolitik umschrieben wird, letztlich aber nichts anderes als Schismatismus darstellt, der, wie die alte Kirche schon wusste, Papst Franziskus, die Kardinäle Marx und Woelki, der Bischof Bedford-Strohm und andere Funktionäre der neuen Kirche vergessen oder verdrängt haben, die schlimmste Häresie ist, ermöglicht ein effizientes Ausspielen der in Gruppen eingeteilten Bürgern der Gesellschaft, die man konsequenterweise unter stillschweigend kategorialer Aberkennung der politisch korrekten Bezeichnung Bürger nur noch Menschen nennt. Zwischen Staatsbürgern existiert mit Blick auf die politische Teilhabe kein Unterschied, zwischen Menschen im Alltagsleben schon. Deshalb eignet sich der Begriff des Bürgers nicht für die Identitätspolitik. Im Grunde sagt es alles über die Identitätspolitik aus, wenn man ausgehend vom vorpolitischen Begriff des Menschen Politik zu machen gedenkt, wodurch Politik im eigentlichen Sinne zu Vor-Politik wird, etwas, das sich dem eigentlich politischen Diskurs verweigert. Identitätspolitik hebelt mithin Demokratie aus.
„In Deutschland wächst nur noch der Staat“
Dass der Kampf um die Herrschaft mit den Mitteln der Spaltung und Parzellierung der Gesellschaft geführt wird, führt zum Niedergang der Wirtschaft, der Bildung, der Infrastruktur, der Sicherheit, der politischen Kultur und schließlich der Gesellschaft im Ganzen, die Gefahr läuft, in eine Sammlung von Tribalismen zu zerfallen. Der Titel eines Artikels in der WELT vor kurzem: „In Deutschland wächst nur noch der Staat“ spricht in diesem Zusammenhang Bände. Das klingt alles dramatisch – und das ist es auch, weil grundsätzlich unsere Kultur in Frage gestellt wird, die das Gravitationszentrum der Gesellschaft bildet. Auch wenn Yascha Mounk meint, dass wir einem Experiment beiwohnen, so irrt er grundsätzlich, wir sind nicht Probanden eines Experiments, was schon schlimm genug und undemokratisch wäre, sondern schlicht Betroffene der Dekadenz.
Auch wenn das Wort Integration noch benutzt wird, ist es doch inzwischen obsolet, weil das aufgelöst wird, in das integriert werden soll, und in nicht allzu ferner Zukunft wird man den Begriff der Integration mit dem Vorwurf des Rassismus synonym setzen, wie es unterschwellig eigentlich schon geschieht, weil Menschen angeblich gezwungen werden, die Werte einer anderen Kultur, die Kultur des verhassten alten weißen Mannes anzunehmen. Identitätspolitik stellt schließlich erfolgreiche Integration in Frage, weil sie zur Desintegration führt.
Integration führt zur Desintegration
Selbst Denker, die sich als Linke oder als Marxisten verorten, und sich den Blick auf die Realität nicht durch Ideologie oder durch Karriereaussichten verstellen, warnen inzwischen vor den Übertreibungen der Identitätspolitik, verkennen jedoch, dass die Hypertrophien zum Wesen der Identitätspolitik gehören, weil sie selbst auf einer Übertreibung beruht. Der Rückfall in vorzivilisatorische Atavismen, in einen neuen Irrationalismus größten Ausmaßes, wie man ihn so häufig in der Geschichte zu beklagen hat, wird täglich realer. Mögen auch moralisch überladene Phrasen, davon abzulenken versuchen.
Für die Liberalen, die Rawl’sianer, gilt eine Gesellschaft erst dann als frei, wenn auch der kleinsten Opfergruppe Sonderrechte zuerkannt worden sind. Doch die Schaffung immer neuer „Opfergruppen“, die angeblich Diskriminierungen erfahren, führt dazu, dass Opferklassen und Opferhierarchien geschaffen werden. Schon vor Jahren hat Aydan Özoguz in Zusammenarbeit mit Aktivisten der Migrantenverbände, deren Papier nur vom Nehmen und nicht vom Geben handelt, gefordert, Diversitätsbeauftragte in allen Institutionen und in allen Firmen nach Art der Geleichstellungsbeauftragten zu installieren. Die Frage allerdings, die in einem entsprechenden Fall beide Beauftragte zu klären hätten, ob ein Mann mit Migrationshintergrund oder eine Frau ohne Migrationshintergrund eher Anrecht auf eine Stelle besäße, hätten dann beide anhand des definierten Opferstatus auszudiskutieren. Das Kriterium der Befähigung gilt ohnehin nicht mehr – und ein junger Mann ohne Migrationshintergrund bräuchte sich nicht auf eine ausgeschriebene Stelle zu bewerben. In einer Gesellschaft, die gemäß der Vorstellung, die auf der Programmkonferenz der Grünen geäußert wurde, aus Klimagründen das Wachstum einfach einstellt, d.h. die nur noch ein einziges Realwachstum schafft, nämlich dass des Staates, der staatlichen oder der NGO-Bürokratie, spielen Sachkenntnis und Leistungsfähigkeit keine oder eine verschwindend geringe Rolle vor den neueren Totalitarismen der Gerechtigkeit und der positiven Diskriminierung.
Opferklassen und Opferhierarchien
Natürlich kann man die Frage stellen, warum ein junger Mann, der 1990 geboren wurde, sich in der Schule bemüht und sein Studium in der Regelzeit erfolgreich abgeschlossen hat, hinter einer jungen Frau, deren Eltern Asyl gewährt worden war, und die auch 1990 in Deutschland das Licht der Welt erblickte und das gleiche Schulsystem durchlief, später vielleicht das gleiche Studium absolvierte und die bereits im Studium besonders gefördert wurde, ein größeres Recht auf eine Stelle zugebilligt wird als dem jungen Mann, dessen Eltern und Großeltern dieses Land aufgebaut haben. Hebeln diese Quotierungen nicht den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes aus? Oder wird der Gleichheitsgrundsatz gegen die Legalisierung der positiven Diskriminierung ersetzt, wie es Aydan Özoguz und die Migrantenverbände vorhatten, als sie Integration als Staatsziel im Grundgesetz formuliert sehen wollten?
Wer Antworten auf diese Fragen sucht, findet sie in dem vor kurzem im Ullstein Verlag erschienenen Buch: „Eure Heimat ist mein Albtraum“. Die Herausgeberinnen des Essay-Bandes Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah behaupten: „»Heimat« hat in Deutschland nie einen realen Ort, sondern schon immer die Sehnsucht nach einem bestimmten Ideal beschrieben: einer homogenen, christlichen weißen Gesellschaf, in der Männer das Sagen haben, Frauen sich vor allem ums Kinderkriegen kümmern und andere Lebensrealitäten schlicht nicht vorkommen.“ Nie? Und immer? Bereits dieser Satz stellt einen Offenbarungseid der Herausgeberinnen dar, die von der Geschichte der deutschen Gesellschaft, in die sie hineingeboren worden sind, die auch ihre Gesellschaft ist, nicht die geringste Kenntnis besitzen. Aber Wissen, Bildung, Argument sind ohnehin nur ein einziger „Albtraum“. Es erstaunt allerdings, dass ein renommierter Verlag diese „fake news“ druckt und dass sich Rezensenten finden, die den hanebüchenen Unfug hochjubeln. Mehr noch, Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah behaupten allen Ernstes, dass der Begriff der Heimat nur „als Kampfbegriff der „Rechtspopulist_innen und -extremist_innen, um all jenen Menschen, die diesem Ideal nicht entsprachen, ihre Existenzberechtigung abzusprechen“, „dient“. Das Gegenteil entspricht jedoch der Wahrheit, denn implizit wird in dem Band gerade den Deutschen ohne Migrationshintergrund die „Existenzberechtigung“ abgesprochen.
Heimat: „Kampfbegriff der „Rechtspopulist_innen und -extremist_innen“
Den facettenreiche Topos der deutschen Literaturgeschichte, der Topos der Heimat, der immer sehr konkret auch einen bestimmten kulturellen Kontext, eine Art zu leben, Traditionen, Bräuche und Werte umfasst, die übrigens jede Gesellschaft, jede Gemeinschaft benötigt und ohne die wirkliche Gleichberechtigung und Freiheit nicht möglich sind, als „Kampfbegriff der „Rechtspopulist_innen und -extremist_innen“ zu verunglimpfen, zeigt die Verachtung, die beide Herausgeberinnen den Menschen in diesem Land, ihrer Geschichte, der Geschichte ihrer Eltern und Großeltern entgegenbringen. Der Essayband spaltet, denn er definiert in geradezu orthodoxer Klassenkampfmanier zwei Gruppen, sie und wir. Wohin diese Spaltung der Gesellschaft führen kann und womöglich auch soll, haben Karl Marx und Friedrich Engels im „Kommunistischen Manifest“ präzise beschrieben: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.“ Wollen Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah tatsächlich „einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen“? Sehen die Herausgeberinnen tatsächlich Deutsche mit und ohne Migrationshintergrund als antagonistische Klassen im Marxschen Sinne? Darf man das Programm von Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah so verstehen, dass, wenn „eure Heimat unser Albtraum ist“ „unsere Heimat“, wenn wir sie verwirklicht haben werden, „euer Albtraum“ sein wird? Wo führen diese künstlich aufgerichteten Antagonismen hin? Vielleicht sollten die Herausgeberinnen – auch wenn Kultur ein Albtraum ist – Brechts Stück „Die Rundköpfe und die Spitzköpfe“ einmal lesen, vielleicht haben dieses Stück jedoch ihre Förderer mit viel Gewinn und seltsamer Nutzanwendung rezipiert.
Wird die heimatlose Gesellschaft, die Ansammlung kleiner und kleinster Opfergruppen und einer konstruierten Tätergruppe, zu einem Kampf aller gegen alle ausarten? Promovieren Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah nicht, in dem sie von wir und ihr sprechen, eine Ideologie der Spaltung, die dem Nachbarn den Nachbarn entfremdet? Vertreten denn die Autoren des Bandes überhaupt die Mehrheit der Deutschen mit Migrationshintergrund oder profilieren sie sich nur auf deren, auf unser aller Kosten, freilich mit einem hohen Risiko und der Gefahr eines hohen Preises, den wir all zu entrichten hätten? Bisher war für mich derjenige ein Deutscher, der die deutsche Staatsbürgerschaft besaß, doch Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah unterscheiden plötzlich zwischen Deutschen mit oder ohne Migrationshintergrund.
Was bedeutet das für einen Freund, dessen Großeltern aus der Türkei eingewandert waren und was heißt das für mich, wenn ich mir vorstellen muss, dass meine Heimat sein Albtraum ist, und was für den Freund, der Deutscher ist wie ich, der hier geboren ist wie ich und dem man plötzlich einen Migrationshintergrund aufnötigt, der plötzlich seine Heimat nicht mehr lieben darf, weil sie doch nach Willen der Herausgeberinnen nun sein Albtraum zu sein hat, obwohl sich doch für ihn nichts änderte, nur weil es der gelebte Dekonstruktivismus so will?
Aus der Summe ihrer Vorurteile
Die Herausgeberinnen fragen: „Will ich in einer Gesellschaf leben, die sich an völkischen Idealen sowie rassistischen, antisemitischen, sexistischen, heteronormativen und transfeindlichen Strukturen orientiert?“ Wo macht das die Gesellschaft denn? Wo leben die beiden Herausgeberinnen außer in Phrasen, die Konjunktur haben und Anerkennung versprechen? Nicht aus der Summe der Urteile, sondern aus der Summe ihrer Vorurteile formulieren sie. Wo orientiert sich denn die deutsche Gesellschaft des Jahres 2019 an völkischen Idealen? Welches sehen die beiden Herausgeberinnen überhaupt als „völkische Ideale“ an?
Zweifel sind angebracht, ob sie die kumulierten Attribute überhaupt zu definieren vermögen. Zudem stellt sich die Frage, ob die Gleichsetzung der „Heteronormativität“ mit dem Antisemitismus nicht eine Verharmlosung des Holocausts darstellt.
Nicht den Lesern, die Bücher von Johann Wolfgang von Goethe, von Thomas Mann oder Hermann Hesse, von Günter Grass oder Christa Wolf, von Uwe Tellkamp oder Heiner Müller gekauft und gelesen haben, nicht den Autoren gilt der Dank der Herausgeberinnen, die mit ihren Werken zur deutschen Kultur beigetragen und durch Quersubventionierung erst den Druck dieses Essaybandes ermöglicht haben, auch nicht dem verachteten deutschen Steuerzahler, dessen Abgaben die Literaturpreise und – stipendien erst finanzieren, die zumindest eine der beiden Herausgeberinnen alimentiert, sondern „den unzähligen nicht namentlich genannten Akademiker_innen, Aktivist_innen, Care-Arbeiter_innen, Denker_innen, Künstler_innen, die seit Generationen für eine gleichberechtigte Gesellschaf kämpfen und denen wir es zu verdanken haben, dass wir 2019 diesen Essayband veröffentlichen können.“ Die Veröffentlichung des Essaybandes ist doch in Wahrheit, denjenigen zu verdanken, deren Heimat als Albtraum denunziert wird und die sich dann noch anhören dürfen, dass Deutschland ein rassistisches Land sei.
Ohne Migrationshintergrund minderwertig?
In ihrem Text rechtfertigt Fatma Aydemir die positive Diskriminierung, die im Gegensatz zum Grundgesetz, das für sie womöglich nur eine Erfindung alter weißer Männer ist, steht, mit den Worten: „Dass eine weitere weiße deutsche Volontärin nicht unbedingt einen Mehrwert bietet. Und vielleicht ist das Wort Migrantenbonus auch gar nicht so falsch. Nur dass es kein Bonus ist, den wir erhalten, sondern einer, den wir vergeben: Vielleicht wissen aufmerksame Arbeitgeber_innen inzwischen einfach, dass sie von uns für das gleiche Geld mehr bekommen.“ Wieso ist die 1986 in Karlsruhe geborene Fatma Aydemir mehr wert als eine zur gleichen Zeit in Karlsruhe geborene junge Frau ohne Migrationshintergrund? Warum bekommt ein Arbeitgeber für das gleiche Geld von Fatma Aydemir mehr als von einer jungen Frau, deren Familie schon seit Ewigkeiten in Karlsruhe lebt oder nach 1990 aus Ostdeutschland dort hingezogen ist? Sieht sich Fatma Aydemir als das, was Friedrich Nietzsche einmal als Übermensch bezeichnete? Wenn der Vorteil definiert wird durch Merkmale der Hautfarbe oder der Herkunft oder der Ethnie, berührt diese Definition nicht die des Rassismus?
In ihrer Erklärung des Druckbildes des rein typographisch unlesbaren Buches weisen die Herausgeberinnen darauf hin, was ihnen besonders wichtig ist: „Wir verzichten auf das generische Maskulinum (die Leser) und gendern mit dem sogenannten Gap, einer mit Unterstrich gefüllten Lücke (die Leser_innen). Diese Schreibweise bezieht nicht-binäre Personen ein und entzieht sich damit dem hegemonialen Zweigeschlechtersystem. Außerdem schreiben wir Schwarz als politische Selbstbezeichnung Schwarzer Menschen groß, die soziale Positionierung weiß hingegen klein.“ Bemerkenswert: schwarz ist für Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah eine „politische Selbstbezeichnung“ und weiß eine „soziale Positionierung“, so wie der white trash bekanntlich eine „soziale Positionierung“ darstellt. Wie schrieb doch der Wirtschaftswissenschaftler Paul Collier über die neue herrschende Klasse, die sich aus den Utilitaristen und den Rawls’ianern zusammensetzt: Die ganze Verachtung dieser neuen herrschenden Klasse gegenüber denen, die sie in der Gesellschaft unter sich dünkt, kommt in einem Artikel in der National Review zum Ausdruck, wenn das Blatt über die sinkende Lebenserwartung der weißen Industriearbeiter und Arbeitslosen in den USA schrieb: „Sie verdienen es, zu sterben.“
„Sie verdienen es, zu sterben.“
Wenn ein Rundfunksender eine Sendung zur Identitätspolitik bringt und darin nur Bücher von Aktivistinnen dieser Politik besprochen werden, dann kann es daran liegen, dass der Redakteur eine höchst einseitige Auswahl vornahm oder daran, dass die großen Publikumsverlage sich selbst als Aktivisten der Identitätspolitik verstehen und gegenteilige Positionen, wovon der politische Diskurs und die Demokratie leben, nicht mehr verlegen, zumindest, wenn sie von deutschen Autoren angeboten werden.
Aber nicht nur die Heimat ist inzwischen ein Synonym für Albtraum geworden, sondern auch die deutsche Sprache. Der aus dem Irak stammende Schriftsteller Abbas Khider sieht die deutsche Sprache als ein „Ungeheuer“ an, als ein Unrechtssystem, als ein autoritäres Regime: „Wenn man daran festhalten will, dass die Zeit der autoritären Regime seit dem Mauerfall vorbei ist, dann sollte auch in der deutschen Sprache die Zeit reif dafür sein, diesen grammatikalisch-diktatorischen Albtraum, der zwischen dem Rest der Menschheit und den Deutschen steht, zu beseitigen.“ Dass der „grammatikalisch-diktatorischen Albtraum“ der chinesischen Sprache oder der japanischen Sprache, der französischen Sprache, selbst der arabischen Sprache zwischen den Chinesen, den Japanern, den Franzosen, den Arabern und „dem Rest der Menschheit steht“, weiß der Autor nicht, dessen Handwerkszeug doch die Sprache und nicht die Ideologie sein sollte. Oder frei nach Bill Clinton: „It´s grammar, stupid.“
Neudeutsch
Und nicht nur das, Deutsch ist für Khider zudem unfrei, denn er wünscht sich, dass die deutsche Sprache zu einer lebendigen, freien und offenen Sprache wird. Vor allem will er die deutsche Sprache erneuern, um seine „linguistischen Traumata (zu) bewältige (n).“ Was können 80 Millionen Deutsche, was kann die deutsche Sprache, die Sprache Goethes, Herders, Hegels, Kants, die Sprache Hölderlins und Schillers, die Sprache von Albert Einstein und Max Planck, die Sprache Mozarts, der sich für eine Oper in der ach so unfreien deutschen Sprache einsetzte, ganz zu schweigen vom Gefängnisjargon der „Ode an die Freude“ für die „linguistischen Traumata“ eines Abbas Khiders. Mangelndes Selbstvertrauen kann man Khider allerdings nicht vorwerfen, denn er zeigt sich überzeugt davon, „der deutschen Sprache „noch mehr kunstvolle Formen zu geben und sie gleichzeitig zu verfeinern und zu vereinfachen.“ Die Reform der deutschen Sprache durch den großen Sprachwissenschaftler Abbas Khider läuft jedoch nur darauf hinaus, die deutsche Sprache zu arabisieren, die Umlaute, die unregelmäßigen Verben, den Genetiv und den Dativ abzuschaffen, Adjektive und Adverbien als unveränderbar zu definieren. „Für alle Nomina gilt: bestimmte Artikel: de; unbestimmter Artikel: e; Plural: die.“ Aus dem deutschen Satz: „Ich warte am Kino“ wird im Khiderdeutsch „Ich warte an de Kino.“ Auch die Deklination soll fortan im Khiderdeutsch nicht mehr existieren, denn sie „ist wie die Verhörbeamten in einer Diktatur…“ Schließlich ist die Deklination „wirklich das schlimmste, was die Deutschen neben dem Artikel und dem Sturmgewehr erfunden haben.“ Dass nun jenes ominöse Sturmgewehr nicht in Deutschland und nicht von einem Deutschen, sondern von Wladimir Fjodorow 1913 in Russland erfunden worden war, ficht Khider nicht an. Wozu Bildung? Wozu Wissen? Für Khider sind die deutschen Philosophen Immanuel Kant, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Martin Heidegger, weil Khider die Vornamen vermutlich auch nicht kennt, werden sie hier ausgeschrieben, nur „irre Typen“, die „Dreifaltigkeit des Grauens“, nur weil er sich außer Stande sieht, sie zu verstehen. Um es klar zu sagen, man muss sie auch nicht verstehen, nur darf man dann nicht über sie urteilen. Darin scheint ohnehin das Khider-Prinzip zu bestehen, darüber am meisten zu urteilen, wovon man am wenigsten versteht.
Was interessiert einen so großen Geist wie Abbas Khider schon die Geschichte und die Realität? Um einen Bezug zu Realität und einen Respekt vor der Sprache, wie man auch sonst in dem peinlich um witzige Formulierungen bemühten Text vergeblich sucht, die sich streckenweise wie eine „Talentprobe“ für ein viertklassiges Comedy-Programm lesen, geht es dem Erneurer des Deutschen auch nicht. Sein Ziel besteht darin, die deutsche Sprache, die eine Zumutung für Migranten sei, so zu vereinfachen, dass Flüchtlinge sich nicht quälen müssen und sie leicht erlernen können. Dass man eine Sprache nicht per odre de mufti verändern kann, dass sie eine Geschichte hat, sie sich in einer Gemeinschaft entwickelt und einen wichtigen und wesentlichen Teil der Kultur einer Gemeinschaft ausmacht, scheint Khider fremd zu sein. Pech für die deutsche Sprache, dass sie auch Heimat ist, wo doch diese Heimat in Ullsteins Sammelband zum „Albtraum“ erklärt wurde. Khider jedenfalls betrachtet seine Form der Albtraumzerstörung als gutes Werk, nicht nur für die Flüchtlinge, sondern auch für die Einheimischen, denn schließlich ist die Trennbarkeit der Verben dafür verantwortlich, dass in Deutschland Ehen geschieden werden. „Für die Familie – und damit auch ganz im Sinne rechtskonservativer Parteien – schlage ich vor, alle Verben für untrennbar zu erklären, für ein gutes Zusammenleben. Nur so hat die Familie eine Zukunft in dieser Sprache und in dieser Gesellschaft.“
Um es praktisch zu machen, sei hier eine Passage im reinsten Khiderdeutsch zitiert, damit sich ein jeder über die überwältigende Schönheit des neuen Deutschs nach Khider ein eigenes Bild zu machen vermag: „An de Sonntag gegen 6 Uhr de Kind aufwacht. Es aufweckt sein Vater. Sie kuscheln und plaudern. De Vater aufsteht und zubereitet de Frühstück. Ab 9 Uhr es losgeht mit de Spielen. De Kind spielt de Rolle min Robin Hood und sein Vater ist Little John: Sie stehlen Geld min die Reiche und geben es die Arme.“ Da ihn auch die CH-Lauter stören, werden die teilweise einfach gestrichen, so dass folgender Satz entsteht: „I streichle di, du streichelst mi, durch verschiedene Schichten an Kleidung, damit du di, damit i mi, damit wir uns besser fühlen.“ So einfach geht es, einfach bei ich, dich, mich das ch weglassen.
„De Frau.en rufen de´Männer.rrr.“
Schaut man sich die Änderungen in der deutschen Sprache an, die zu folgenden Formen führen: „De Frau.en rufen de´Männer.rrr.“, wird man feststellen, dass im Grunde die deutsche Sprache arabisiert wird. Es scheint, dass Abbas Khider die deutsche Sprache für Einwanderer aus dem arabischen Raum vereinfachen will. Schließlich „wäre Allah wohl der einzige, der uns dabei helfen könnte, die deutschen Präpositionen vernünftig zu gestalten. Denn seine Präpositionen im Arabischen können die deutsche Sprache wirklich erleichtern.“ „Diese von Allah inspirierte Erneuerung der deutschen Sprache“, schreibt Khider, „erinnert mich zwangsläufig an die Zeitschriftenverbrennung auf dem Dach meines Elternhauses in Bagdad und an die religiöse Phase meines Lebens. Diesmal aber habe ich nicht den Eindruck, dass ich irgendetwas bereuen würde.“
Dem Dogma der offenen Grenzen, der Ablehnung der Heimat als Albtraum entspricht Khiders „Deutsch für alle“. Das „endgültige Lehrbuch“, wie es im Untertitel benannt wird, würde, wenn es gültig würde, das Ende der deutschen Sprache bedeuten.
Sicher wird der Verlag einwenden, dass alles sei doch nur ironisch und satirisch und vor allem nicht ernst gemeint, so ironisch wie die Feststellung, dass unsere Heimat für alle, die einen Migrationshintergrund haben und für alle Migranten ein Albtraum sei, so ironisch wie die positive Diskriminierung, die u.a. darin besteht, dass Stellenausschreibungen den Zusatz enthalten, dass Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund bevorzugt genommen werden, so ironisch wie Khiders selektive Wahrnehmung der Ereignisse auf der Kölner Domplatte zu Sylvester 2015/16, wo „es wohl zu zahlreichen sexuellen Übergriffen auf Frauen durch Gruppen junger Männer, überwiegend aus den nordafrikanischen Ländern“ kam. Es kam wohl dazu, vielleicht, aber auch nicht. Unwichtig, was den Frauen widerfuhr, wichtig für Abbas Khider, den großen Reformer der deutschen Sprache, nur, dass sich dadurch „eine neue Bewegung in Deutschland“ ausbreitete: „die Flüchtlingsunterkünfte-Anzünden-Mode…die Ausländer-Jagen-Mode.“ Und um zum ironischen Gipfel der Geschmacklosigkeit zu kommen, wünscht sich Khider eine solche „Bewegung im Bereich der Umlautbuchstaben.“ Und, um nicht missverstanden zu werden, fügt der Autor hinzu: „Ich meine das nicht ironisch, sondern ernst.“
Wirklich eine sublime Ironie, ein großer Humor, das Anzünden von Flüchtlingsheimen mit der Vertreibung der Umlautbuchstaben aus der deutschen Sprache gleichzusetzen.
Es wird höchste Zeit, über den gelebten Dekonstruktivismus, über die Folgen der Identitätspolitik zu sprechen, und weder die Mehrzahl der Medien, noch die großen Publikumsverlage sollten sich dieser Diskussion wie bisher entziehen, schon weil die Realität sie auf die Tagesordnung setzt.