Tichys Einblick
Mensch sein

Braucht man Kirchen, wenn man nicht an Gott glaubt?

In einer oberflächlichen, zynischen Zeit ist es beinahe peinlich, zuzugeben, dass man nach seiner Rolle im Universum sucht, nach dem »Sinn des Lebens«. Kirchen sind Werkzeug und Symbol dieser Suche, deshalb berühren sie uns, auch wenn wir Atheisten sind.

Getty Images

Vor einem Jahr fragte ich »Wovon reden Menschen, wenn sie von Gott reden?«; zu kaum einem anderen Text habe ich so viele E-Mails bekommen; ich habe damals sogar einen zweiten Text nachgereicht, mit einer Auswahl aus Ihren E-Mails (siehe: Was Sie, meine Leser, geschrieben haben zur Frage nach „Gott“).

Einige Leser beschrieben sich als »wissenschaftlich denkend« und verwahrten sich dagegen, dass ihnen ein Glaube angeboren sein könne – anderen missfiel der Versuch, Gott und Glauben auf innere Bedürfnisse zu »reduzieren«.

Als gestern die Kathedrale Notre-Dame de Paris brannte (siehe auch meine Reaktion am Abend des Brandes), schrieben viele Leute rund um die Welt in den sozialen Medien, dass sie zwar nicht gläubig oder nicht katholisch seien, aber dass diese Zerstörung eines heiligen Gebäudes sie verletze und zu Tränen rühre – ich gehöre zu diesen, und ich frage mich, warum es mir so geht.

Was wird da angegriffen

Seit Jahren schon sind, besonders in Frankreich, christliche Kirchen und manchmal auch ihr Personal unter Attacke.

Man liest ja die Schlagzeilen, aber selten auf den Titelseiten, oft in den kleinen Nachrichten-Websites und Blogs; hier einige Beispiele aus Frankreich:

Die Kathedrale von Lavaur wurde am Dienstagabend auf nicht gerade katholische Weise besucht. Ein Kreuz wurde auf den Boden gelegt, der Arm Christi verdreht, eine Kerze wurde zerbrochen und eine Krippe wurde von einem Feuer zerstört. (ladepeche.fr, 6.2.2019, meine Übersetzung)

In Houilles, in den Yvelines, erlitt die Kirche Saint-Nicolas innerhalb von zehn Tagen drei Vandalismus-Akte: Eine Statue von Madonna mit Kind wurde zerbrochen. (lefigaro.fr, 10.2.2019, meine Übersetzung)

Eine oder mehrere Personen hatten das Tabernakel zerbrochen und mit Exkrementen, auf denen sich Hostien befanden, ein Kreuz an die Wand gemalt.(lagazettedenimes.fr, 11.2.2019, meine Übersetzung)

Aktuell gehen die französischen Behörden laut Nachrichtenmeldungen nicht von Absicht aus (siehe etwa welt.de, 16.4.2019), doch aus den Kreisen, die sonst christliche Kirchen schänden – also auch extreme Linke! – wurde eindeutige Freude laut. Das Anzünden einer Kathedrale und die Freude über das Feuer mögen sich juristisch unterscheiden, doch unterscheiden sie sich aus moralischer Sicht wirklich so sehr? Man las Häme und sogar offene Freude aus genau den Ecken, aus denen man es erwartet hätte – ich erspare mir hier die Verlinkung. Jene, die den Kathedralenbrand hämisch kommentierten, kamen aus dem Lager derselben Leute, welche auch sonst das westliche Denken und die freiheitliche Demokratie verachten, welche uns ihre Antworten aufzwingen wollen, und einige von denen haben die Angewohnheit, ihre Gegner und sonstige Abweichler als »Nazis« oder »Ungläubige« zu beschimpfen (manchmal beides).

Ich frage mich: Was ist es eigentlich, das da angegriffen wird? Was treibt diese Leute – und was ist es, das sie erreichen wollen?

Mit sich zufrieden

Wohl wissend, dass einfache Erklärungen sowohl eine Chance als auch eine Gefahr darstellen können, wage ich die durchaus einfache These: Kirchengebäude sind ein Werkzeug und ein Symbol für den Versuch des Menschen, seine eigene Rolle im Universum zu verstehen.

Wer ein Kirchengebäude angreift, der ist mit sich selbst zutiefst unzufrieden, doch statt an sich zu arbeiten projiziert er das auf Steine oder auch mal das Personal.

Ein Mensch, der mit sich und seiner Rolle in der großen Ordnung zufrieden ist, der wird keine Kirchen schänden.

Ich schimpfe ja selbst gern und aus Überzeugung auf Priester wie auch auf die neuen Pharisäer, deren neue Heilige Schrift der Zeitgeist zu sein scheint, die wohl alles sagen werden, was den kirchlichen Wohlfahrtskonzernen ihre vielen Millionen einbringt — bis hin zur fast unverhohlenen moralischen Forderung, das Leben der Kinder als Märtyrer des Multikuli-Wahns zu opfern (siehe »Gutmenschen riskieren das Leben anderer Leute«). Doch: Es sind immer Irrlehren und Irrtümer, die ich angreife, und immer in Worten.

Die Feiglinge, die Jesus-Statuen die Arme brechen, die neuen Vandalen, die Kirchenschänder, sie setzen nicht Argument gegen Argument, sie haben keine besseren Konzepte, keine klügeren Ideen; doch sie haben allen Grund, mit ihrer Rolle im Universum unglücklich zu sein.

Wer Kirchen angreift, weil er mit sich unglücklich ist, der ähnelt dem Vielfraß, der die Waage zertrümmert, die ihm sein Gewicht anzeigt, statt dass er mit dem Fressen aufhört und lieber an die frische Luft geht.

Wenn ich sie sehe

Gestern, als die Kathedrale Notre-Dame de Paris brannte, fühlten sich viele von uns an Kenneth Clarke (1903 – 1983) erinnert, konkret an seine TV-Serie »Civilisation« (Erstausstrahlung 1969 auf BBC2). In den berühmten Eröffnungsminuten der ersten Folge steht Clarke am Ufer der Seine, vor der Île de la Cité und Notre-Dame, und er sagt:

Was ist Zivilisation? Ich weiß es nicht. Ich kann es nicht in abstrakten Begriffen definieren, noch nicht. Aber ich meine, dass ich sie erkennen kann, wenn ich sie sehe (wendet sich Notre-Dame zu), und ich sehe sie hier. (Kenneth Clarke, »The Skin of our Teeth«, etwa ab 3:36, meine Übersetzung)

Ein Tier, soweit wir wissen, grübelt nicht über seine Rolle im Universum oder den Sinn seines Lebens.

Eine brennende Kirche – ob von einem Unfall bei der Restauration oder von einem Attentäter angezündet – lässt uns fürchten, wieder zu Tieren zu werden, wilde, unzivilisierte Tiere, die Kot verschmieren, die wenig mehr wollen, als zu fressen, zu f—ken und sich zu prügeln, die auf Trigger reagieren, statt selbst zu denken, die Heiliges umwerfen, weil es ihnen so schmerzhaft die Sinnleere ihres primitiven Denkens und Fühlens vors starre Auge führt.

Einige stille Minuten

Man muss wahrlich nicht die Lösungen der Religion als einzig mögliche akzeptieren, um die durch Kirchen gestellten Fragen nachvollziehen zu können.

Der Mensch sucht nach seiner Rolle in der Welt. Der Mensch will nicht, dass all die Mühe vergebens war.

Kirchen sind Werkzeug und Symbol unserer Suche nach unserem Platz im großen Gesamten.

Suchen wir weiter! Ich selbst werde jetzt in eine katholische Kirche gehen, aus Prinzip.

Ich werde die religiöse Kunst bewundern und vielleicht sogar in der Bibel lesen, die ich auf dem E-Reader immer dabeihabe (gleich neben Nietzsche).

Ich werde einige stille Minuten verbringen, denn, Sie wissen doch: Es wirkt auch dann, wenn man nicht daran glaubt.


Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com.

Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.

Die mobile Version verlassen