Tichys Einblick
ASMR

Grösster Humbug der Geschichte?

Gewöhnliche Leute klopfen auf Nivea-Dosen und kratzen über Mikrofone, und Millionen Menschen sind begeistert. Sind sie verwirrt oder einfach nur schrullig oder beides?

Neulich kriegte mich vor Lachen kaum mehr ein. Es passierte beim Ansehen eines ASMR-Videos auf Youtube. ASMR – nie davon gehört? Ich bis vor kurzem auch nicht. Damit Sie beim nächsten Smalltalk punkten können, kläre ich gerne über das Phänomen auf.

ASMR-Videos zählen zu den erfolgreichsten auf Youtube, es gibt davon über zehn Millionen. Die Abkürzung ASMR steht für Autonomous Sensory Meridian Response, was in Laiensprache so viel heisst wie: Unsere Sinne werden von gewissen Stimuli getriggert und reagieren mit überstarken Empfindungen, sogenannten „Tingles‘, also Gänsehaut oder Kribbeln auf der Kopfhaut. In ASMR-Kreisen spricht man von einem „Orgasmus fürs Gehirn“. Die Auslöser sind „sensorische Klangerlebnisse in Kombination mit visuellen Reizen“ – von gewöhnlichen Menschen vorgeführte Geräusche, mit dem Ziel, den Zuschauer zu entspannen oder zum Einschlafen zu bringen.

Nach näherer Prüfung diverser ASMR-Videos, mein Fazit: Man muss annehmen, dass hier im höchsten Grade geistig irritierte oder schrullige Menschen eine Art Fetisch pflegen. Oder aber man wird von einer versteckten Kamera veräppelt. Auf jeden Fall: Um ein 10-Minuten-Video zu überstehen, braucht es gefestigte Nerven.

Da blickt einem also ASMR-Janina in Nahaufnahme und mit grossen blauen Augen entgegen, ein Mikrofon steht direkt vor ihr. Man wird aufgefordert Kopfhörer zu tragen. Sie flüstert: „Ich begleite dich heute in den Schlaf.“ Janina, perfekt geschminkt und gestylt, nimmt ihr Smartphone. Sie spielt uns damit kein Schlaflied vor, sondern tippt mit ihren manikürten Fingernägeln aufs Gehäuse. Klack, klack. „Ich liebe Klopfgeräusche“, haucht sie. Sie tippt in unmittelbarer Nähe zum Mikrofon. „Da gibt es einmal schnelle Klopfgeräusche, und natürlich die langsamen.“ Sie klopft schnell und langsam. Dann macht sie das gleiche mit einer Nivea-Dose, flüstert wie ein Engel: „Du sollst dich entspannen.“ Sie öffnet und schliesst den Deckel, klipp klapp, riecht daran, kratzt mit einem Finger in der Dose – kkkkkkrrrrrrrrrrr. Reibt die Hände mit der Creme ein. Als nächstes schüttelt sie ein Fläschchen, glugg glugg glugg. Janina nimmt dann eine Bürste, bürstet das Mikrofon – krck, krck, kratzt mit ihren Fingernägeln über das Mikrofon, gleichzeitig macht sie Mundgeräusche, schnalzt mit der Zunge, tock tock, ztzk, ztzk. Das Ganze wiederholt sich mit verschiedenen Gegenständen während zehn Minuten. Janinas todernste Vorführung wird manchmal von einem koketten Lächeln durchbrochen. 1,5 Millionen Menschen haben Janina dabei zugehört- und gesehen, wie sie das Mikrofon kratzt.

Rapunzel schneidet mit einer Schere ins Mikrofon und säuselt dabei Unverständliches. Sie trägt einen Pony und ein bauchfreies Oberteil und sieht aus, als ob der Begriff „Lolita“ für sie erfunden wurde. In vollendeter Konzentration kratzt, klopft, streichelt Rapunzel das Mikrofon, dann kämmt sie ein Kissen. Ihr Mund bleibt während der Show halb geöffnet, man möchte ihr spontan einen Lolipop anbieten. Rapunzels vertiefte Beschäftigung mit dem Kissen hat 3,6 Millionen Views. Gigi, Gentle Whispering, Glow, Pelagea, sie alle flüstern, tippen, kratzen und haben eine riesige Fangemeinde.

Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass die erfolgreichsten ASMR-Performer junge Frauen sind. Mit freundlich-hübschen, perfekt ausgeleuchteten Gesichtern umschmeicheln sie die Kamera, ihre Vorführung beleben sie mit reizvollen Outfits. Der Vergleich zu den sogenannten Streamer-Babes liegt nahe: Diese Mädels spielen Videogames in Netzstrumpfhosen, Hotpants und mit tiefen Dekolletees, und streamen es (finanziell) erfolgreich auf Plattformen wie Twitch. Gamer Fähigkeiten und sexuelle Reize – ein perfektes Geschäftsmodell.

Die ASMR-Community bestreitet aber eine sexuelle Komponente. Man habe eher das Gefühl, eine Schlaftablette zu nehmen, als erregt zu sein. Es gibt ASMR-Videos, die tatsächlich nichts Sexuelles haben, etwa solche von Männern, die sich beim Herumtippen auf einer Computertastatur filmen (3,1 Millionen views) oder beim Verzehren von knusprigen Chicken Nuggets (7,2 Millionen views). Alles klangorientiert, natürlich, cri, cri, cri.

Auch Unternehmen haben den Hype entdeckt, Ikea etwa lässt in Spots Hände auf Bettwäsche klopfen, eine Flüsterstimme klärt über Farben und Beschaffenheit auf. Laut der Tech-Webseite www.thinkwithgoogle.com schauen sich Männer und Frauen ASMR-Videos an, die Hälfte der Zuschauer ist zwischen 18 und 24 Jahre alt. Der Wahrnehmungspsychologe Claus-Christian Carbon sagt laut Zeit online, die ASMR-Videos transportieren ein Gefühl von menschlicher Nähe und Zuneigung. Um den Effekt zu erzielen, müssten die Videos „beruhigend, eher repetitiv und potenziell langweilig sein“.

Menschen bei ihrer Überinszenierung von Banalitäten zusehen – persönlich nenne ich das weniger taktvoll: Eine Art Voyeurismus. Zack. Bumm. Kann es vielleicht sein, dass heute, wo wir permanent von Lärm umgeben sind, gerade jüngere Menschen, die besonders für ASMR empfänglich sind, die totale Stille nicht mehr ertragen? Und darum zum Einschlafen einen Entertainer brauchen, der sie in einer Intimität schaffenden Kombination aus Flüsterstimme und angenehmen Geräuschen einlullt? Du liebe Güte, können denn junge Leute nicht einfach masturbieren wie früher?

ASMR-Videos sind nicht beruhigend. Im Gegenteil, das eindringliche Augenspiel und das Geklacke löst bald Gereiztheit aus. Was mich aber wirklich fertig macht, sind die Millionen Views. Zugegeben, hier spielt Voreingenommenheit bei mir als Video-Bloggerin ohne Millionenpublikum eine nicht unerhebliche Rolle. Die Tatsache aber, dass Menschen, deren Fähigkeiten sich aufs Klopfen auf eine Feuchtigkeitscreme beschränken, Massen begeistern, erschüttert mein Weltbild. Entschuldigung, aber es gibt keinen Grund, jemandem beim Kratzen über Mikrofone zuzusehen. Möglicherweise ist die Youtube-Community die degenerierteste auf dem Planeten und der Moment gekommen, wo Aliens hier übernehmen sollten.
Und falls Sie jetzt, liebe Leser, ASMR mal selber ausprobieren wollen – empfehle ich gerne mein kleines ASMR-Video bei Youtube. Haftung übernehme ich allerdings keine.

Der Beitrag erschien zuerst in der Weltwoche.

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