Nee, doch nicht! So aber! Nee, Moment, so auch nicht! Hmm, so jetzt … obwohl?! – Ich spiele gern Schach mit meinem Sohn Leo, und gutmütig wie ich bin, habe ich ihm lange Zeit erlaubt, Züge auch zurückzunehmen, so oft er wollte.
Ich weiß, ich weiß, »berührt, geführt« ist die Regel, und »losgelassen« sowieso (FIDE-Regel, Artikel 4.7), doch will ich wirklich darauf bestehen, dass das Spiel für Leo doof wird, nur weil er die Folgen eines Spielzugs nicht richtig visualisiert hat?
Nun, in den letzten Wochen und Monaten habe ich umgedacht. Es gefiel mir nicht, wie Leo ganz selbstverständlich davon ausging, dass alle Entscheidungen unverbindlich waren. Also bestehe ich auf berührt geführt – meistens.
Wie auch andere traditionsreiche Freizeitbeschäftigungen ist Schach eine Schule fürs Leben – doch damit es wirkt, muss man sich an die Regeln halten!
Der Schachspieler berechnet und plant, welche Folgen seine Handlungen haben werden. Wenn keine unehrlichen externen Faktoren dazukommen, wie etwa Betrüger mit Smartphones oder böswillige Ablenkungen, dann lehrt die Frage nach Sieg und Niederlage im Schach sehr viel über Erfolge und Misserfolge im Leben; wenn du im Schach gewinnst, war es immer auch Glück, dass der Gegner an der entscheidenden Stelle seine Möglichkeiten nicht sah – wenn du aber im Schach verlierst, dann hast du niemandem als dir selbst die Schuld zuzuschreiben; hättest du besser vorausgerechnet, hättest du nicht verloren.
Mit jedem seiner Züge sagt der ideale Schachspieler aufs Neue, wenn auch unausgesprochen: »Ich habe berechnet, hier ist meine Entscheidung, der weitere Verlauf der Dinge wird prüfen, ob meine Berechnungen gut waren – wie es auch ausgeht, das Spiel ist wichtiger als die Frage, ob ich gewinne.«
Die wichtigen Provinzen
Am 31. März 2019 wurden die 16. Kommunalwahlen der Republik Türkei abgehalten. Insgesamt gewann Erdoğans AKP mit 44,3 Prozent (nach Hochrechnungen vom 1.4.2019), und sie gewann sogar knapp eineinhalb Prozent hinzu gegenüber 2014, und doch hat Erdoğans wenig Grund zur Freude: Die AKP verlor wohl, unter anderem, die wichtigen Provinzen Istanbul und Ankara (siehe etwa hurriyetdailynews.com, zuletzt abgerufen 3.4.2019).
Der Verlust der Metropolen schwächt Erdoğan – und zeigt zugleich, dass er wohl keinen Zugriff auf die Auszählung hatte, zumindest keinen ausreichenden.
Wie hat Erdoğans Partei auf das Ergebnis reagiert? Hat man es demütig akzeptiert? Hat man vielleicht nach deutschem Vorbild den Wähler für zu doof erklärt (»es ist uns nicht gelungen, dem Wähler unsere Politik zu vermitteln«), um sich dann aber doch mit dem Wahlergebnis zu arrangieren? – Nicht ganz.
»Regierung will nicht eingestehen, dass sie Istanbul wohl verloren hat«, lesen wir (welt.de, 3.4.2019).
Die AKP hat Einspruch eingelegt gegen das knappe Wahlergebnis Istanbul und Ankara; man fordert dort eine Neuauszählung in allen Bezirken. In Istanbul liegt der Vorsprung der Konkurrenzpartei CHP bei nur etwa zwanzigtausend Stimmen – bei über fünf Millionen Einwohnern.
Eine an diesem Punkt nur noch rhetorische Frage: Hätte Erdoğans Partei denn eine Neuauszählung gefordert, wenn seine Partei knapp gewonnen und nicht knapp verloren hätte? – Natürlich nicht.
Ein Zyniker könnte als Erdoğans Motto ausgeben: Auszählen, bis das Ergebnis passt.
Für Erdoğan ist die Demokratie bekanntlich nur der Zug, den man nimmt, bis man am Ziel ist; es scheint, dass sein Zug eine Weiche genommen hat, die ihm so nicht in den Plan zum Ziel passt – also versucht er, zurückzusetzen, bis »seine« Weiche genommen ist.
Sinn, Wesen und Absicht
Demokratie ist geregelter Interessenausgleich. Jede andere Staatsform als die Demokratie ist Interessensdurchsetzung, höchstens mit der minimal notwendigen Berücksichtigung von Einzel- und Gruppeninteressen außerhalb der Interessen der Machthabenden.
Der motivierende Motor moderner Wahlen ist – gleichgültig was im Wahlkampf beteuert wird – der Ausgleich des Machtinteresses von Eliten, und dem, was die Wähler für ihr Interesse halten. Ich sage »für ihr Interesse halten«, weil etwa in Deutschland wiederholt gezeigt wurde, dass Bürger dazu verführt werden können, gegen ihr Überlebensinteresse zu stimmen.
Es ist Sinn, Wesen und Absicht der Demokratie, dass die Wähler ihr Interesse gegenüber der Elite durchsetzen können, doch wenn der Wähler trotz Propaganda und Staatsfunk nicht wählt, was die Elite gewählt haben möchte, dann hat die Elite nicht immer die moralische Größe, die Entscheidung des Wählers zu akzeptieren und sich der Demokratie zuliebe zu unterwerfen.
Bei den US-Wahlen 2016 erwartete die Elite, dass Hillary Clinton gewinnen würde, mit über 91% Wahrscheinlichkeit (nytimes.com, 18.10.2016: »Hillary Clinton has a 91% chance to win«). Wer öffentlich auch nur in Betracht zog, dass Donald Trump gewinnen könnte, wurde von den Etablierten und ihren TV-Sprachrohren verhöhnt und ausgelacht (bei YouTube gibt es einige lustige Kompilationen dazu). Als Trump dann doch gewann, gaben sie aber keineswegs auf! Direkt im Anschluss entluden sich linker Zorn und Gewalt in Demonstrationen gegen das Wahlergebnis, man initiierte auf Lügen basierte Untersuchungen (siehe z.B. »Trump, der Mueller-Report … und wir«). Trump-Gegner sind bis heute bereit, den USA und der Demokratie zu schaden, weil das amerikanische Volk anders entschied, als sie es sich gewünscht hatten.
Am 23. Juni 2016 stimmten die Wähler Großbritanniens mit 51,89% für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union – der Austritt des Nettozahlers ist nicht das Ergebnis, das sich die etablierten Eliten gewünscht hätten.
Seit dem Referendum wird immer wieder von Politikern und gewissen »NGOs« gefordert, irgendwie die Entscheidung auszuhebeln.
Ursprünglich sollte der Austritt zum 29. März 2019 passieren. Am 21. März hat man sich darauf geeinigt, ihn auf den 12. April 2019 zu verschieben. Das britische Parlament kann sich nicht auf ein Austrittsabkommen einigen – und immer lauter fordern Stimmen ein zweites Referendum.
In London werden große Demonstrationen inszeniert, welche den Brexit aushebeln wollen (siehe auch: »Ich glaube den meisten Großdemos heute nicht – hier ist der Grund«).
Erdoğan möchte so lange auszählen, bis es passt; Second-Referendum-Befürworter möchten so lange abstimmen bis es passt; diese Verhöhnung der Demokratie ist, leider, europäische Tradition.
Als 2001 die Iren den Vertrag von Nizza ablehnten, drehte einfach die Propaganda hoch und ließ Prominente auftreten, und dann stimmte man nochmal ab, dann lieferte das Volk auch das »richtige« Ergebnis, und das »galt« dann. 2008 passierte in Irland dasselbe nocheinmal, diesmal beim Vertrag von Lissabon; das erste Referendum lieferte das »falsche« Ergebnis, also drehte man die Propaganda hoch und stimmte 2009 noch einmal ab, und das Ergebnis galt dann.
In anderen Fällen stimmen Nationen zwar ab, doch die Eliten ignorieren sie, sei es beim Griechenland-Referendum 2015 oder beim niederländischen Referendum zum EU-Ukraine-Vertrag. In der EU breitet sich das Gefühl aus: Sicher, du kannst protestieren gegen das, was die da oben wollen, doch du hast keine Chance gegen die milliardenschwere Propaganda – und solltest du doch mit deinen Argumenten durchdringen, lassen die so lange abstimmen, bis das rauskommt, was sie wollen – oder sie ignorieren einfach das Ergebnis.
Sollte Erdoğan in der Türkei nun Neuwahlen in Istanbul oder Ankara forcieren, vor denen er die Bevölkerung »besser informiert«, hätten EU-Eliten nur wenig moralisches Standing, ihn dafür zu kritisieren – was sie wahrscheinlich nicht abhalten würde.
Muss wirksam sein
Wer entscheidet eigentlich, welche Wahl wiederholt wird und welche nicht? Wo kann ich mich bitte dafür bewerben, zu entscheiden, dass eine Wahl das »falsche« Ergebnis lieferte und bitte so lange wiederholt werden kann, bis sie mir passt?
Was ist eine Demokratie wert, wenn nach einer Wahlentscheidung, die der Elite nicht zusagte, man einfach die Propaganda kräftig hochdreht und nochmal abstimmen lässt?
Ich lehre meinen Sohn, seine Entscheidungen beim Schach genau abzuwägen, und wenn er sie getroffen hat, dazu zu stehen. Eine Entscheidung, die jederzeit zurückgenommen werden kann, ist weit weniger wert, ja, sie ist nicht einmal eine echte Entscheidung.
Eliten, die abstimmen oder auszählen lassen, bis es ihnen passt, entwerten die Demokratie. Dem politisch aktiven Bürger wird gesagt: »Du kannst noch so viele Plakate malen und Bürgerabende veranstalten wie du willst, wenn du Erfolg hast, werfen wir unbegrenzt Steuergeld in die Propaganda und machen dich platt. Die EU in ihrem Lauf halten ein paar Referenden nicht auf.«
Eine Entscheidung muss wirksam sein, sie muss gelten und Gewicht haben, das gilt fürs Schachspiel wie für die Demokratie.
Ich mache vermutlich etwas richtig beim Schachspiel mit meinem Sohn, denn in letzter Zeit hat er mich einige Mal besiegt, ohne dass ich ihn aktiv gewinnen ließ! (Sicher, ich war müde, aber er ist acht Jahre alt!) – Doch, ich gebe es zu: Ich bin nicht absolut konsequent beim Verbot des Zurücknehmens. Während ich mich selbst daran halte, erlaube ich durchaus meinem Sohn immer noch, Schachzüge zu revidieren – aber nur wenn ich es für richtig halte, und manchmal weise ich ihn sogar im Voraus darauf hin, dass dieser oder jener Zug ungünstig ist – es hat ja keiner etwas davon, wenn sein Spiel ihm wegen eines kleinen Fehlers keinen Spaß mehr macht. Ja, ich darf ihm das erlauben, großzügig wie ich bin. Bei uns daheim herrscht ja keine Demokratie, eher eine benevolente Diktatur – womit wir wieder bei der Politik wären.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com.
Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.