Mir reicht´s! Ich will endlich eine Schmerzzulage! In einem Land, in dem alles ausgeglichen wird, muss auch mein Leiden irgendeinen Anspruch auf irgendeine Entschädigung bringen! Und sei es nur moralischer Art! Ich habe nie Jura studiert, und doch werde ich ständig in die Rolle des Verteidigers gedrängt. Und wie ein echter Anwalt muss ich ständig Sachen verteidigen, die ich viel lieber selbst anklagen würde. Wobei ich inzwischen immer öfter auf Unzurechnungsfähigkeit und mildernde Umstände wegen Traumatisierung in frühen Lebensphasen plädiere.
Gestern war es wieder einmal so weit. Eine feucht-fröhliche Geburtstagsrunde mir russischen Freunden, mitten in Charlottengrad, das bürgerlich Charlottenburg heißt und zu Berlin gehört. Ich wollte mich schon entspannen, als das erste Glas geleert war und mich noch niemand zur Rede stellte. Doch nach dem zweiten Glas ging es dann los. Wie fast immer. Der Clash of Cultures, der Zusammenstoß der Kulturen. Er kulminierte mit einem beherzten „das ist doch schizophren“ – bevor es zum überraschenden Happy End kam.
Doch alles der Reihe nach. Ich habe 16 Jahre in Moskau gelebt und gearbeitet, war in diversen Kriegen und bin deshalb härter im Nehmen als der durchgefönte Biodeutsche in meinem Alter und vor allem darunter. Ich kann die Schultern durchdrücken und mich aufblähen, wenn mich jemand anpöbelt, und habe sogar noch den reflexartigen Drang, Frauen mit schweren Koffern auf Bahnsteig-Tunnels Hilfe anzubieten, was mir viele böse Blicke und harsche Kommentare einbringt. Kurzum: Ich fühle mich für das Leben im Großstadt-Dschungel gerüstet und würde wohl auch einen Blackout ohne Pampers oder Herzinfarkt überleben.
Und dennoch: Berlin ist extrem. Nicht nur für mich – sondern auch für meine russischen und ukrainischen Freunde und Bekannten, die viel mehr gewohnt sind als ich und nur der Höflichkeit halber mehr oder weniger verbergen, dass sie mich für ein Weichei halten. Besonders schwer gehen einem die Kontraste zu Herzen, wenn man zwischen den Fronten lebt. Charlottengrad ist fest in russischer Hand. Nein, das ist keine Klage. Eher ein Segen. Zumindest für mich als Russland-Rückkehrer – da ist Berlin ein ideales Milieu für die Resozialisierung: nicht mehr (ganz) Osten, aber auch noch lange nicht (oder nicht mehr) Westen.
In Charlottengrad höre ich auf der Straße oft mehr Russisch als in manchen Ecken von Moskau. Ich kann zum Einkaufen, zum Essen, zum Paketshop, zum Friseur, zum Arzt und zu vielen anderem gehen, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen. Meine besten Freunde heißen Andrej, Dima, Igor, Juri, Kolja und Kostja – in alphabetischer Reihenfolge, damit es keinen Ärger gibt – wir Russen sind sehr emotional (ich zähle mich inzwischen, obwohl nur angelernt, mindestens halb dazu). Kurzum – wären die Straßen nicht so vermüllt, wäre der Service etwas freundlicher, würde die U-Bahn zuverlässig verkehren und wären die Geschäfte rund um die Uhr und auch Sonntags auf – ich würde mich fühlen wie in Moskau.
Dabei hatte das Leben in der russischen Hauptstadt einen Vorteil, den ich damals gar nicht kannte: Wenn ich den Russen erzählte, wie gut bei uns in „Germania“ alles funktioniert, habe ich selbst daran geglaubt. Jetzt muss ich ihnen ständig erklären, warum so viel hier schief geht (nein, keine Angst, das böse Wort F*** wie Airport wird jetzt hier nicht fallen). Ich muss versuchen, die vielen Widersprüche wegzureden. Und ich muss ganz ehrlich gestehen: Das Schönreden fällt mir von mal zu mal schwerer.
Dummerweise hatte vor der Geburtstagsfeier Lena, eine russisch-ukrainische-jüdische Lehrerin, die ich seit vielen Jahren und noch aus Moskau kenne, in den deutschen Nachrichten gelesen, dass ab 2022 die EU eine „Vollverwanzung“ von allen Neuwagen vorschreiben will – und in vielen Medien dafür auch noch gelobt wird. „Sicherheitssysteme für Neuwagen verpflichtend“, schrieb Focus, auf menschliches Versagen zurückzuführende Unfälle könnten so verhindert werden. „Ab 2020 stoppt die EU die Unfallgefahr“, applaudierte die Welt. Schöne neue Welt, werden viele Leser gedacht haben.
Lena als geborene Sowjetbürgerin dagegen hat es gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen. Sie roch sofort Lunte. Und nach einigem Googeln verstand sie wieder einmal die Welt nicht mehr, zumindest ihren deutschen Teil. Seit einigen Jahren regt sie sich nur bedingt druckreif darüber auf, dass Videoüberwachung im öffentlichen Raum in Berlin an Datenschutz-Bedenken scheitert. „Ich fühle mich sicherer, wenn ich weiß, da wird aufgenommen, und vor allem, wenn potentielle Täter das wissen“, sagt sie so bestimmt, dass ihr fast die Olive von der Gabel fällt – und verweist auf diverse dreiste Gewalt-Überfälle in der U-Bahn, die nur dank Überwachungskameras aufgeklärt werden konnten. Weil dort nicht die Stadtregierung zuständig ist, sondern die Verkehrsbetriebe Hausrecht haben, können die in Eigenregie solche Technik installieren.
Nicht nur Lena platzt der Kragen. Selbst Berlins leidgeplagter (nicht-)Regierender Bürgermeister Michael Müller, der Sozialdemokrat mit der Ausstrahlung einer leeren Litfaßsäule (inhaltsleer, steht regelmäßig am falschen Standpunkt und im Weg, obwohl man nicht weiß, warum, und man läuft vorbei, ohne etwas wahrzunehmen), platzte die sonst unendlich scheinende Geduld: Er warf den Koalitionspartnern von den Grünen und der „Linken“ durch die Blume vor, dass sie nicht zurechnungsfähig sind. Wenn die Berliner sagten, es gebe 10 oder 15 Plätze, an denen sie Angst hätten, dann könnten einige Kameras dort helfen, Straftaten zu vermeiden, so der Bürgermeister – in einem Duktus, als sei er in der Opposition und nicht Regierungschef: „Wenn eigentlich alle Leute mit gesundem Menschenverstand sagen: ‚Dann macht’s doch als Politik, macht’s doch als Koalition, werdet doch als SPD sichtbar mit solchen Dingen‘, dann sage ich, richtig“, so Müller. „Das muss auch unser Weg sein, dann müssen wir den Konflikt auch in der Koalition führen.“ Man kann sich lebhaft vorstellen, wie mutig sich Müller beim Wort „Konflikt“ gefühlt haben muss – wahrscheinlich hatte er mehr Schweiß auf der Amtsstirn als Lenin, bevor er zum Sturm auf den Winterpalast blies (den es laut kritischer Geschichtsschreibung gar nie gegeben hat – aber das ist ein eigenes Thema und vielleicht war Lenin einfach nur zu lange in der Schweiz).
Hand aufs Herz: Wie reagiert man, wenn einem eine sehr attraktive Frau in besten Jahren mit großen Augen anschaut und dann treuherzig beteuert, da stimme doch etwas nicht in Deutschland? Ist es wirklich zu verdammen, dass es mir an Schlagfertigkeit fehlte und ich erst einmal mit offenem Mund sitzen blieb? Jedenfalls war es ein Fehler. Denn Lena legte noch einen drauf: „Vor einer anonymen Videoüberwachung auf einem öffentlichen Platz habe ich kein bisschen Angst. Aber wenn mein Wagen eine wandelnde Wanze ist, das ist mit unheimlich.“ Ich wollte gerade hastig meinen Salat fertigkauen und mich á la Don Quichotte in meine Dauer-Rolle als Advocatus-Diaboli stürzen, da entgegnete sie meine Pflichtverteidigung schon vorauseilend mit ihrem Mutterwitz (ich bin erschüttert, wie berechenbar man offenbar ist, wenn man die Realität zurecht biegen und schönreden will): „Sag jetzt nicht, anständige Menschen haben ja nichts zu verbergen! Mitnichten! Es kann ja sein, dass man zu seinem Geliebten fährt.“
Spätestens in diesem Moment kam Leben in die Runde. Ich schwöre es: In den Augen von zweien der anwesenden Männer schien mir für einen Moment heftige Angst aufzublitzen. Einer von ihnen, nennen wir ihn diskret Kostja, versuchte sofort, das Gespräch wieder in weniger seichte Gewässer zu lenken: „Mit den Wohnungen ist es dasselbe“. Die anderen griffen den Befreiungsschlag erfreut auf und hakten nach. Kostja, erst vor kurzem mit seiner Familie von Moskau nach Berlin umgezogen, brauchte Tage, um zu verstehen, was eine Schufa-Auskunft und eine Mietschuldenfreiheitsbescheinigung ist. Völlig aus allen Wolken fiel er, als er erfuhr, dass er für so eine profane Sache wie die Anmietung einer Wohnung sein Einkommen offenlegen muss. Er hielt das erst für einen schlechten Scherz und machte einen Witz über das Herunterlassen von Hosen, den man spätestens nach den Witz-Kriegen im letzten Fasching besser nicht wiedergibt in einem deutschen Medium (und sei es auch ein noch so liberales – sicher ist sicher.). Kostja seufzte: „Ich dachte, ich komme aus dem Sozialismus, aber ich bin in den Sozialismus gekommen.“
Matt in einem Zug, würde man so eine Situation im Schach nennen. Ich hob misslaunig das Glas und versuchte mich mit einem Trinkspruch aus der Misere zu retten: „Auf die Völkerverständigung“. Doch meine russischen Freunde ließen nicht locker. Wobei sie durchaus selbstkritisch waren: „In Russland interessiert Datenschutz keine Sau, oder allenfalls eine solche, uns fehlt da das Problembewusstsein, und wir sind immer noch ein Überwachungsstaat“, meinte etwa Lena: „Aber wenigstens sind wir darin konsequent. Aber bei Euch? Videoüberwachung da, wo es besonders kriminell zugeht? Nein, igitt! Daten-Striptease für den Mietvertrag? Kein Thema, gerne nackt gemacht. Amazons Alexa? Teufelszeug, pfui! Eine Wanze in jedem Fahrzeug? Hurra!! Wir sind sicherer!! Entschuldige, aber das ist doch schizophren!“
„Hyerpsensibel, höchstens“, entgegne ich. Aber ich ernte nur Lachen. Ich bin auf verlorenem Posten. Hier, an der Front, zwischen Deutschland und Russland, zwischen Ost und West, zwischen Kapitalismus und Sozialismus: in Charlottengrad. Mein einziger Trost: Ich werde zwar keine Schmerzzulage bekommen und auch keine Stelle als Integrationsbeauftragter. Aber ich versuche es mit einem anderen Heilmittel: Humor. Das beste Ventil für das Unerträgliche, frei nach Freud. Und so werde ich mir das Absurde, die Grenzerfahrungen zwischen den beiden Welten von der Seele schreiben. Mit „Berlin extrem – Frontberichten aus Charlottengrad“. Künftig als Kolumne. In erschreckender Regelmäßigkeit hier auf der Seite. In diesem Sinne: „Na sdorowje!“ Gerne – aber nicht unbedingt – auf ex.
Halt, jetzt wäre um ein Haar ein feiertechnischer Kollateralschaden entstanden, und ich hätte das Happy End vergessen. Als ich schon resigniert meinen Wein runterkippte (wie alle, denn es gab keinen Wodka in der Runde – allen Klischees zum Trotz), tat Lena das, wozu ich selbst nicht mehr in der Lage war: Sie brach eine Lanze für meine Landsleute: „Ich finde die Deutschen trotzdem toll. Die einfachen Leute, mit denen ich zu tun habe. Die meisten haben das Herz am rechten Fleck, sind bodenständig, vernünftig. Nur vielleicht ein bisschen zu ängstlich, um den Mund auf zu machen. Ich finde, Ihr habt nur ein Problem mit Politik und Medien.“ Kostja hob sofort spontan sein Glas für einen Trinkspruch: „Da siehst Du, wie viel wir Russen mit Euch Deutschen gemeinsam haben! Willkommen im Club!“