Wer die Debatten im britischen Unterhaus aktuell verfolgt, erlebt in diesen Tagen ein Hochfest des Parlamentarismus. Im Ernst! Sie sind großartig und im wahrsten Sinne parlamentarisch. Die Berichterstattung hierzulande ist dagegen respektlos. Von Chaos und Peinlichkeit ist da die Rede.
Theresa May wird dargestellt wie Don Quijote, die gegen Windmühlen kämpft. Schnell könnte man sich über die Zurückweisung Theresa Mays vor dem Parlament lustig machen. Immer wieder rennt sie vor die Wand. Bei der ersten Abstimmung am 15. Januar über das Brexit-Abkommen überzeugte die Premierministerin nicht einmal ein Drittel der Abgeordneten. Bei der zweiten Abstimmung am 12. März erreichte sie auch nur eine Zustimmung von 38 Prozent. Eine weitere Abstimmung, die sie anstrebte, lehnte Parlamentspräsident John Bercow mit dem Verweis auf eine Regelung aus dem frühen 17. Jahrhundert (!) ab, dass gleiche Sachverhalte nicht beliebig oft zur Abstimmung gestellt werden können.
Damit nimmt Bercow auf die große parlamentarische Tradition des Landes und ihre Wegmarken für den Rechtsstaat Bezug und klärt damit schnell mal die Frage, wer im Abstimmungsprozess im Unterhaus Koch und Kellner ist. Das würde man sich eigentlich auch mal im Deutschen Bundestag wünschen.
Die „Magna Charta“ und die „Bill of Rights“ sind jahrhundertealte Leuchttürme des Parlamentarismus und der Unterwerfung des Königs unter das Recht. Unser Hochmut sollte sich bescheiden. Die deutsche Tradition reicht gerade 150 Jahre zurück. Die Paulskirchen-Versammlung verabschiedete ausgerechnet heute vor genau 150 Jahren die erste deutsche Verfassung. Die Vertreter lehnten sich dabei an die englische und britische Tradition der Jahrhunderte davor an. Der damalige preußische König Friedrich Wilhelm IV. hat diese Verfassung wenige Tage später abgelehnt. Die Nationalversammlung sah ihn als neuen Kaiser vor, doch als Romantiker hielt er an dem Prinzip des Gottesgnadentums fest.
Parlamentspräsident Bercow zeigt dagegen mit seinem Vorgehen die ganze Kraft und Tradition des britischen Parlamentarismus. Auch wenn er seine voluminöse Stimme erhebt und den Abgeordneten das Wort erteilt, dann beeindruckt das. Es drückt ein Selbstbewusstsein aus, das deutlich macht, wer die gesetzgebende Versammlung ist. Dies ist Ausdruck einer wirklichen Machtverteilung zwischen Parlament und Regierung. Theresa May ist dabei nicht mehr Herrin des weiteren Prozesses, sondern das Parlament.
Der deutsche Parlamentarismus ist dagegen viel schwächer ausgeprägt. Die Machtverteilung zwischen Regierung und Parlament geht klar zugunsten der Regierung aus. Die Regierung schreibt die Gesetze, bringt sie meist ein und die Regierungsfraktion folgen der Regierung lammfromm ohne eigenes Selbstvertrauen. Das ist mitunter bitter. Denn das Parlament und seine Parlamentarier reduzieren sich dadurch zu einfachen Erfüllungsgehilfen. Oft kommt es vor, dass die Anträge der Regierungsfraktionen aus den Ministerien stammen und dort formuliert wurden. Das ist besonders pikant, wenn es um Europafragen geht. Hier kann das Parlament der Regierung einen Verhandlungsauftrag geben, an dem sich die Minister und die Kanzlerin im Ministerrat und im Europäischen Rat halten müssen. Wenn jedoch die Anträge der Regierungsfraktionen im Kanzleramt geschrieben werden, dann wird das „Verhandlungsmandat“ des Bundestages gegenüber der Regierung zur Farce. Es ist eigentlich eine Perversion des Parlamentarismus.
Der Deutsche Bundestag braucht daher eine Reform, die das Parlament gegenüber der Regierung stärkt. Das setzt nicht nur Veränderungen im Ablauf einer Sitzungswoche voraus. Wer einmal die Regierungsbefragung im Unterhaus und die Regierungsbefragung im Deutschen Bundestag mitverfolgt hat, der weiß, was den Unterschied macht. Auf der Insel ist sie lebendig, spontan und daher spannend. Im Bundestag ist sie emotionslos, einstudiert und daher meist langweilig. Und auch die Debattenkultur im Parlament braucht Reformen. Wenn im Halbstundentakt die Tagesordnung von der Ferkelkastration bis zum Plastiktütenverbot durchgeboxt wird, dann fehlt die Zeit für grundsätzliche Debatten. Wer das ändern will, muss sich als Parlamentarier selbst fragen, wie dieser Zustand verändert werden kann. Dafür braucht es aus meiner Sicht in erster Linie selbstbewusste Abgeordnete und Parlamentspräsidenten wie John Bercow. Dann ändert sich auch etwas.