Der jüdische Arzt und Schriftsteller Zvi Rix (1909-1981) sagte es nach dem Zweiten Weltkrieg so: „Die Deutschen werden uns (den Juden) Auschwitz niemals vergeben.“ Eine Variante davon ist ebenso durchdringend: „Kontinentaleuropa wird dem Vereinigten Königreich den Zweiten Weltkrieg niemals vergeben.“ Schließlich erinnert das Vereinigte Königreich die kontinentaleuropäischen Nationen an ihr Scheitern. Damals und jetzt.
Das Vertrauen der kontinentalen Nationen wurde während des Zweiten Weltkriegs nachhaltig erschüttert. Die Eliten der Aggressoren Deutschland und Italien sehen spätestens seitdem den Nationalstaat als Quelle des Bösen. „Nationen produzieren Krieg“, sagte Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) plakativ. Aller Illusionen beraubt sind auch die Länder, die bis 1989 erst von den Nationalsozialisten und dann von den Kommunisten besetzt waren. Ihre Eliten erkannten, dass sie dem primären Versprechen der Nation, die territoriale Integrität zu wahren, nicht gerecht werden konnten. Der Nationalstaat hat es versäumt, die Bürger vor der Aggression aus dem Ausland zu schützen. Mindestens ebenso schmerzhaft für die westlichen kontinentaleuropäischen Nationen ist es, dass die Freiheit, die sie jetzt genießen, kaum ihr eigenes Verdienst ist, sondern ein Geschenk der Vereinigten Staaten, der ehemaligen Sowjetunion und des Vereinigten Königreichs.
Für das Vereinigte Königreich gilt das Gegenteil. „Der Nationalstaat hat für uns gearbeitet“, sagte der britische Ex-Botschafter in Berlin, Paul Lever im „Elsevier Weekblad“. Das Vereinigte Königreich war nicht besetzt und hat – jeweils in Allianzen eingebunden – zuerst die Nazis und schließlich die Kommunisten mit besiegt. Für die Briten ist der Nationalstaat die Garantie für Freiheit, Unabhängigkeit und Demokratie. Für sich und für die Europäer.
Aufgrund dieser unterschiedlichen Erfahrungen wird die EU von verschiedenen Ländern unterschiedlich bewertet. Für die Briten ist es allenfalls ein Freihandelsunternehmen. Für die ehemaligen Sowjetländer ist die Mitgliedschaft in der EU neben westlichen Subventionen in erster Linie eine Garantie für die Unabhängigkeit ihres Nationalstaats gegenüber Russland. Die kleinen Länder machen mit, um ein bisschen mitzuspielen bei den Großen. Für Deutschland und Frankreich gilt aber etwas anderes.
Die EU ist das deutsch-französische Ziel, die erniedrigende Geschichte abzubauen. Die Integration ist für die deutsche und die französische Elite damit ein Selbstzweck. Beide haben versucht, Europa zu dominieren – Napoleon, Wilhelm II., Hitler – beide wurden von den Briten und ihren Bündnissen besiegt und erniedrigt. Beide versuchen nun, gemeinsam Europa zu dominieren, um ihre Niederlagen unter der EU-Flagge gemeinsam zu überwinden. Wäre die EU ein Nationalstaat, würde der Deutsche Europäer werden. Und nach zwei Jahrhunderten der Demut kann Frankreich dank der EU den Angelsachsen endlich wieder auf demselben Niveau begegnen.
Dies sind die tiefsten Emotionen der deutschen und französischen Eliten. Die EU ist daher – nach der EU-Verfassung der Vertrag von Lissabon – eine „immer enger werdende Union“. Es muss eine werden. Ob es praktische Probleme löst, ob es logisch oder sinnvoll ist – das spielt keine Rolle.
Das Vereinigte Königreich erinnert die kontinentalen Europäer ständig daran, dass sie damals versagt haben und heute versagen. Die jährlichen britischen Gedenkfeiern der Opfer des Ersten und Zweiten Weltkriegs sind Schauspielstücke. Und 2017 gab es den Film „Darkest Hour“. Winston Churchill ruft darin, während die Nazis im Mai 1940 ein westeuropäisches Land nach dem anderen zur Aufgabe zwangen: „Wir werden niemals kapitulieren.“ Wollen die Briten diese Geschichte vergessen? Im Gegenteil, die Briten wollen diese Geschichte am Leben erhalten, weil sie stolz darauf sind. Sie haben sich nicht ergeben – wohl aber die Europäer. Die waren damals „verrückt“ und „schwach“. Das betonen die Briten genüsslich, jedes Jahr.
Briten zeigen der EU ihre Misserfolge auf
Es ist wahrlich eine schmerzhafte Erkenntnis: Die EU ist zum Teil das Ergebnis der Weltkriege. In den letzten Jahren hat das Vereinigte Königreich die europäischen Länder ständig mit dem Chaos konfrontiert, das diese deutsch-französische EU-Integration oft verursacht. Die Eurokrise, die Einwanderungskrise, die schwache Wirtschaftsleistung vieler EU-Länder und die darauf folgende Reaktion von Parteien auf dem Kontinent mit nationalsozialistischen und faschistischen Wurzelresten – die Briten haben das alles sehr wohl registiert.
Das Vereinigte Königreich gehört nicht zum Euro und ist damit erfolgreich. Mit nur vier Prozent Arbeitslosigkeit – die Eurozone hat derzeit 8,4 Prozent – und einem Wachstum von 19 Prozent seit die Eurokrise in 2007 (in der Eurozone nur 13 Prozent) ist das Insel-Königreich wirtschaftlich an der Spitze. Auch im vierten Quartal 2018, selbst mit den Brexit-Chaos im Westminster, wuchs die britische Wirtschaft mehr (1,3 Prozent) als die französische (0,9) und die deutsche (0,6). Das Vereinigte Königreich zieht die qualifiziertesten Leute der Welt an und ist bei Franzosen, Italienern und Polen äußerst beliebt, die dort gute Jobs finden können, die zu Hause nicht existieren, hat die besten Universitäten und gibt Nazis dank ihres Wahlsystems und der weit verbreiteten liberalen Ansichten keine Chance. Auf diese Weise zeigt das Vereinigte Königreich dem Kontinent in Wort und Tat, wie ihr Nationalstaat damals wie heute ein Erfolg ist.
Das ist besonders für die deutsche und französische Elite schrecklich schmerzhaft. Wenn das Vereinigte Königreich außerhalb der EU sogar noch erfolgreicher sein würde als jetzt mit einem Bein darin, wird die Attraktivität anderer EU-Länder für eine Flucht aus der Deutsch-Französischen EU steigen. Und dann kommt das gemeinsame deutsch-französische Projekt, Europa gemeinsam zu dominieren, ihre schmerzliche Geschichte abzuwerfen und schließlich (wieder) eine Weltmacht zu werden, ernsthaft in Gefahr. Und dann sind es wieder die Briten, die nach dem Sieg über Napoleon, Wilhelm II. und Hitler abermals triumphieren, indem sie die deutschen und französischen Versuche, Europa zu dominieren, ihrerseits wirksam blockieren.
Wer bricht wen?
Dem Vereinigten Königreich muss es also außerhalb der EU schlechter gehen als jetzt, das betont der französische EU-Unterhändler Michel Barnier. Die Briten müssen in eine Position gezwungen werden, in der sie zerbrochen sind, bis sie das Gefühl haben, dass sie es als Nation allein nicht können. Die deutschen und französischen Eliten wollen, dass die Briten dasselbe erleben, was sie selbst und das übrige Europa erlebt haben: Das Versagen ihrer Nation. Erst dann wird den Briten der Sieg im Zweiten Weltkrieg nachgesehen.
Wer bricht wen? Das ist nun die Frage. Wird es der EU gelingen, die zögerliche britische Elite zu brechen oder zur Hälfte oder vollständig zurück in die EU zu lenken – und wenn, wie lange? Damit gelänge es der EU, glauben deren Drahtzieher, den potentiellen Bestrebungen anderer Länder, außerhalb der EU tätig zu werden, ein Ende zu setzen. Retten Deutschland und Frankreich ihre „immer engere Union“? Und lässt sich ihre unangenehme Geschichte und die Geschichte Europas im weiteren Sinne auf diese Weise begraben?
Oder ist es umgekehrt? Wird das Vereinigte Königreich gestärkt aus einem Brexit hervorgehen? Und zeigt – wenn dies erfolgreich ist – London den EU-Ländern, dass ein Leben außerhalb der EU attraktiv sein könnte? Falls den Europäern aufgezeigt wird, dass sie abermals die Verlierer sind, würde das auch bedeuten, dass die EU eine Gesellschaft von Verlierern ist. Das aber würde letztlich das Ende der „immer enger werdenden“ Union bedeuten.
Die Geschichte würde sich dann wiederholen oder in anderer Form fortsetzen. In Deutschland und Frankreich haben die Eliten vor einer solchen Entwicklung große Angst. Denn dann können sie dem Vereinigten Königreich den Sieg im Zweiten Weltkrieg nie verzeihen. Und das ist vielleicht das, was sie wirklich sagen wollen: Ich vergebe dir. Denn nur wer das sagen kann, zeigt, dass er Macht hat. Macht, nach der Deutschland und Frankreich so lange gesucht haben. Und die sie wohlmöglich nie finden werden.