Einst, so erzählt eine Zen-Geschichte, kam ein Universitätsprofessor zum Zen-Meister Nan-in (Meiji-Zeit, 1868-1912), und bat darum, unterrichtet zu werden.
Der Meister stellte eine Tasse vor den Schüler und füllte sie mit Tee. Als die Tasse voll war, hörte der Meister keineswegs zu gießen auf!
»Die Tasse ist voll«, rief der Professor, »mehr geht nicht hinein!«
Der Meister sagte zum Professor: »Sie sind so wie diese Tasse, voll mit Meinungen. Sie müssen erst Ihre Tasse leeren, damit ich Ihnen Zen zeigen kann!«
(Die Geschichte ist nachzulesen etwa in Christoph Helferichs Geschichte der Philosophie.)
Unseren Glauben verlieren
Es ist schwer, zu trennen und dann getrennt zu halten, was von Natur aus zusammengehen will. Religion und Staat waren nie und nirgends wirklich vollständig getrennt. Die Geschichte von Religion und Staat ist die Geschichte eines einvernehmlichen gegenseitigen Missbrauchs, unterbrochen von kurzen Phasen ein- oder beidseitiger Feindschaft und Zwischenphasen vorübergehenden Waffenstillstands.
Dreihundert Jahre nach dem Beginn der Aufklärung ist Europa also ins einundzwanzigste Jahrhundert gestolpert. Ein Dorfsäufer im sprichwörtlichen irischen Roman tritt mit festerem Schritt auf, als Europa derzeit sich der Welt präsentiert.
Man hoffte einst, Minerva, die Göttin der Weisheit, würde den Menschen das Licht der Erkenntnis bringen und die Religionen der Welt würden erkennen, dass sie alle dasselbe wollen, im edlen Inneren gleich wie ununterscheidbare Ringe, einzig durch den Träger verschieden. (Sie vergaßen, dass jener Ring echt ist, dessen Träger sich als bei den Menschen beliebt erweist.)
Die Religion aus den Menschen zu bekommen gleicht dem Versuch, am Boden des Meeres ein Loch zu graben, und zu hoffen, dass es trocken bleibt.
Nimm den Menschen die alten Propheten weg, und sie nehmen sich neue; ich habe bislang nicht feststellen können, dass die neuen Propheten grundsätzlich den alten überlegen wären. Sende den Menschen die Eule der Minerva, sie werden das Tier mit Fackeln und Mistgabeln verjagen, aus gar nicht mal unberechtigter Angst, die Weisheit würde ihnen auf die heiligen Irrtümer kacken.
Hauptstadtjournalisten und ihr politischer Arm betreiben heute Politik als Religionsersatz – allerdings für Menschen, die sehr wenig von Religion wissen. Wer kein Filet Mignon kennt, dem kannst du die Bullette als Delikatesse verkaufen.
Politik dient sich heute als Religionsersatz an – aber neuerdings (wieder) auch als Aufklärungsgehilfe!
Dieser Tage erleben wir den Aufstieg zweier auffallend junger Figuren, die eine als religiöse Prophetin, die andere Figur als Aufklärer – und beide werden von ihren Lagern auch mit exakt diesen Bildern und sogar Worten verkauft.
Von Goldfisch und Pilzfrisuren
Die Kinder- und Jugendzeit jeder Generation in der Freizeitgesellschaft ist auch eine Abfolge von Moden; jede Zeit, jedes Land und jede Generation haben ihre eigenen launigen Trends.
An amerikanischen Unis trendete um 1930 der Wettbewerb, wie viele lebendige Goldfische ein Mensch hintereinander verschlucken kann (Wikipedia: Goldfish swallowing; der Rekord lag bei 101 Goldfischen, siehe americanhistory.si.edu).
Als 1966 die Beatles nach Deutschland kamen zur »Bravo-Beatles-Blitztournee« erlebten die jungen Rockfans in Deutschland »Extase bis zur Bewusstlosigkeit« (so wird es formuliert bei spiegel.de, 18.10.2007; ich vermute, dass einiges an dem Spiegel-Text stimmt).
Im März 2019 erlebte die Jugend in Deutschland und anderen satten Staaten den Höhepunkt einer Mode namens »Fridays for Future«. Jugendliche schwänzten den Unterricht, um die Stadt zu vermüllen, bei McDonalds zu essen und für Umweltschutz zu demonstrieren. Als Ikone hatten sich die Öko-Kindersoldaten eine autistische schwedische Jugendliche mit Panikattacken ausgesucht. Sie hieß Greta. Der schäumende Siedepunkt der Gretamanie war erreicht, als die um Bedeutung ringende Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag von der Kanzel einer Kirche herab die kindliche Greta mit dem biblischen Propheten Amos verglich (siehe etwa rp-online.de, 18.3.2019). (Amos aufs Heute anzuwenden kann übrigens auch schiefgehen: »… ich will Feuer in die Mauern von Gaza schicken, das soll seine Paläste verzehren.«, Amos 1:7a)
Jede religiöse Bewegung wird geprüft, auch die Kirche der Heiligen Greta. Vor wenigen Tagen erlitt die neue jugendliche Prophetin der alten grünen Weltuntergangssekte einen Anfall von Realismus und sprach sich für Atomenergie als Zukunftstechnologie aus – die Empörung ihrer Gemeinde war groß! Wie reagiert ein geschmeidiger Prophet, wenn seine Jünger seine Botschaft nicht mögen? – Heute heißt es: »Greta Thunberg ändert Meinung zur Atomkraft« (welt.de, 21.3.2019) – Die Revolution ist tot, es lebe die Revolution!
Die Revolution schluckt ihre Kinder, wie Harvard-Studenten einst Goldfische schluckten. Öko-Sektierer werden sich neue Propheten suchen müssen. Es hat auch viel Befreiendes, seinen Glauben zu verlieren, und diese Selbst-Befreiung ist manchem grünen Sektenjünger zu wünschen.
Habemus »Ach!«
Bei den Regionalwahlen in den Niederlanden wurde gestern »Forum für Demokratie« die stärkste Kraft – wohlgemerkt mit 16 Prozent bei 53 Prozent Wahlbeteiligung (uni-muenster.de, Stand 22.3.2019).
Der große Wahlgewinner heißt Thierry Baudet. Er ist Doktor der Jurisprudenz, er sagt vernünftige Dinge, er ist 36 Jahre jung, er sieht gut aus, offen ist nur die Frage, ob er karrieredienliche Vereinbarungen mit schwarzen Pudeln getroffen hat. Deutsche Haltungsmedien reagieren auf ihn reflexartig mit dem »Rechtspopulismus«-Vorwurf – und auffallend ungünstigen Fotos (n-tv.de, faz.net).
Cicero auf Holläteinisch
Seine Einstiegsrede 2017 begann Baudet mit einem lateinischen Zitat. Es muss die Neulinken beeindruckt haben, spätestens jetzt, 2019, im Nachhinein. Die FAZ bläst das eine Zitat gleich zur ganzen Rede auf (»Dass da ein Bildungsbürger, der Brahms spielt und Cicero zitiert, in die Zweite Kammer eingezogen ist, daran ließ er auch bei seiner ersten Rede keinen Zweifel: Baudet hielt sie auf Latein.«, faz.net, 21.3.2019; Stand 18:36) – Andere Linke empörten sich schon damals, dass im Latein-Zitat etwas mit der Grammatik nicht stimmte (the-tls.co.uk, 31.3.2017). – Der geneigte Leser kann sich ja via YouTube selbst eine Meinung bilden.
Baudet war der einzige holländische Politiker, der nach dem Attentat von Utrecht am Montag (siehe auch »Das fiese Gefühl, betrogen worden zu sein«) seinen Wahlkampf nicht unterbrach. Er verstand die Wähler besser als die anderen Politiker (indem die anderen Politiker pausierten, signalisierten sie unbewusst, dass sie ihre eigene Politik als dann doch »schmutzig« und nicht wirklich wichtig betrachteten).
Wi(e)der die Eliten
Baudets Themen sind das, was einem einst den Ruf des Konservativen oder des Sozen einbrachte und heute den des »Rechtspopulisten«: Migration, Klimawahn, Abgehobenheit der Eliten.
In seiner Rede zum aktuellen Erfolg beruft sich Baudet wörtlich auf die Eule der Minerva. Am Wahlabend habe die Eule der Minerva ihre Flügel ausgebreitet. Doch, anders als Hegel, welcher ebenfalls die Eule der Minerva heranzieht, als Metapher für die Philosophie, welche die Welt im Nachhinein betrachtet und versteht, sieht Baudet noch eine Chance – zumindest seiner Rhetorik nach: Es sei »wortwörtlich eine Stunde vor Mitternacht«; noch hätten »wir« eine Chance, zu erkennen, was wir hätten bewahren sollen, noch sei es nicht vorbei.
Es ist sehr plakativ, es ist Pop-Bildung, keine Frage – doch ist es auch falsch?
Wir sind Ketzer!
Man wählt heute Parteien wie Forum für Demokratie (oder AfD) nicht unbedingt aus dem Grund, dass man die grinsenden Personen oder auch nur alles am Programm superduftetoll findet, man wählt die wortstarken (oder zumindest lauten) Ketzer, weil man sich sagt: Auch ich bin ein Ketzer! Auch ich weigere mich, die linken Dogmen zu glauben!
(Baudet selbst bezeichnet in seiner Ansprache am Wahlabend übrigens den »Klima-Aberglauben« als Ketzerei – und stellt den neuen Irrlehren den bewährten Glauben an die Niederlande, an den Westen und dessen Werte, an die westliche Zivilisiation und die Kunst gegenüber – aber gut, das haben manche »Ketzer« gemeinsam, ob Jan Hus oder Galileo Galilei: Die Lehre der Macht sei falsch, man müsse zur Wahrheit zurückkehren – oder auch mal nach vorn gehen. Allerdings: Baudet erkennt richtig, dass Ökomanie ein Religionsersatz für das erodierte westlich/holländische Selbstbewusstsein ist, der a) viel kostet, b) alte Werte vernichtet, und c) einen masochistisch selbststrafenden Charakter hat. Er spricht – wörtlich! – von einer »masochistischen Ketzerei« – der Ketzer wirft der Macht selbst Ketzerei vor – und beide halten sich selbst für Reformatoren (dem Inhalt nach, nicht unbedingt dem Wort nach) – was für schillernde Volten in europäischer Regionalpolitik!)
Aus Protest zu wählen bedeutet heute eben auch, seinen Protest gegen linksgrüne Religionspolizei und offensichtlich falsche Haltungsdogmen zu dokumentieren – mindestens vor sich selbst, im Sanctum Sanctorum der Demokratie, in der Wahlkabine, allein vor Gewissen und Wahlzettel.
Neue Bekenntnisfreiheit
Es braucht Mut, eine Partei zu wählen, die von den Priestern politischer Korrektheit für unrein erklärt wurde. Es braucht starke Nerven, sich öffentlich zu bekennen, dass man nicht an die reine Lehre von der einzig guten Haltung glaubt.
Wir sehen, dass das linke Dogma scheitert, so militant auch ihre an Gefühl und Gehorsam appellierenden Glaubenslehrer auftreten.
Die Beatles-Manie wirkte auf diejenigen, die nicht von ihr erfasst wurden, ähnlich befremdlich wie die Klimamanie heute wirkt; zum Glück haben die Beatles aber keine Forderungen zur Energiepolitik aufgestellt. (»Yesterday, all my CO2 was so far away…«, »We all live in a Solar-Submarine, Solar-Submarine…«)
Manche derer, die man heute als »Rechte« und »Populisten« ausgrenzen will, sagen schlicht: Ich weigere mich, eure Dogmen zu glauben!
Es ist leider sehr falsch, dass Aufklärung und Vernunft sich automatisch gegen Mystik und Aberglaube durchsetzen werden. In den Niederlanden – wie auch in Bayern – sind die Grünen der zweite große Gewinner.
Ich will mich nicht gegen Greta oder für Thierry positionieren; ich betrachte sie beide zuerst als Phänomen, als Oberflächenindikator von Strömungen in der Gesellschaft.
Wer heute aus Protest wählt, der sagt nicht unbedingt, dass er vom neuen Wasser der Protestparteien trinken möchte – sondern dass er ganz gewiss die linken Lügen der anderen ablehnen will.
Es ist riskant, in Zeiten von oben motivierter Dogmatik zu bekennen, dass man nicht an die Erlösungskraft linker Dogmen glaubt.
Niemand weiß, was für neues Wasser die neuen Parteien einschenken werden, doch genug Bürgern ist es das Risiko wert, lieber vielleicht etwas Besseres zu bekommen als sicherlich das alte, abgestandene Wasser, das einfach nicht mehr schmecken will.
Wer den Becher linker Lügen leert, der ist mutig und er fühlt sich frei – doch er muss den Becher auch selbst wieder füllen.
Die Haltungspriester nennen es »Rechts«, »Populismus« oder noch andere Dinge, wenn man den Glauben an ihre Lehre verliert, ich nenne es ein Bekenntnis zur persönlichen Glaubensfreiheit.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com.
Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.