SPIEGEL-Chefredakteur Klaus Brinkbäumer präsentiert in dieser Woche ein interessantes Heft mit anregenden Beiträgen. Aber manches ist nicht zu Ende geführt.
Nun also der Merkelversteher-Titel von Markus Feldenkirchen und René Pfister. Man mag politisch zur Kanzlerin stehen, wie man will. Man mag ihr aktuelles Handeln befürworten oder aufs Heftigste kritisieren. Was die Kanzlerin antreibt, damit muss man sich journalistisch beschäftigen. Das gelingt den beiden Autoren in „Egal wie es ausgeht…“ Ihre Kernthese: Merkels Handeln wird in erster Linie von ihrer christlichen Erziehung und ihrem Aufwachsen in einem totalitaristischen System geprägt. Und darin findet sie Bestärkung bei alten und neuen Weggefährten, etwa bei Rainer Eppelmann, der die Bundeskanzlerin ermutigt und sie mit einem Zitat von Vaclav Havel zum Durchhalten motiviert: „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass eine Sache gut ausgeht. Hoffnung ist die Gewissheit, dass eine Sache Sinn macht.“
Verzweifelte Sinnsuche
Die Frage, wohin die merkelsche Politik führt, klammert der Spiegel aus. Analysen über schwindende Mehrheiten bei den anstehenden Landtagswahlen fehlen ebenso wie Erhellendes zu sich ankündigenden Palastrevolutionen in CDU und CSU. So bleibt der SPIEGEL beim moralischen Imperativ hängen – das klingt sympathisch. Das ist es auch, solange die Wirklichkeit nicht eindringen darf in dieses Gedankengebäude. Immerhin erleben wir das Jahr 11 ihrer Kanzlerschaft. Da könnte man sich auch die Frage stellen: Haben wir und DER SPIEGEL das nicht schon früher bemerkt?
Die Titelgeschichte wird zu einer Art Sinnsuche in der Merkeldämmerung. Streckenweise zu einer verkrampften Sinnsuche – es kann doch nicht sein, was ist? In Zeiten der Katastrophen liegt so etwas nahe.
Ergänzt wird die Titelgeschichte durch zwei entgegengesetzte Statements. Merkel-Fan Tobias Rapp erklärt, wie er die neue Kanzlerin schätzen lernte. Jan Fleischhauer runzelt dagegen in seiner Kolumne „Carrie, komm zurück“ sorgenvoll die Stirn darüber, wie unverdrossen Merkel weiterhin ihren Kurs hält.
Damit wirkt die Sinnsuche zunehmend verzweifelt; es liegt wohl in der Natur der Menschen, das Unerklärliche rationalisieren zu wollen. Dass es einfach nur ein Fehler oder Uneinsichtigkeit sein könnte – das wäre ja geradezu grotesk und unvorstellbar. Aber so weit ist der SPIEGEL noch nicht. Noch erklärt er und rechtfertigt damit.
…und Terroristen ohne Rente
An Michael Sauga meinen Glückwunsch zum Leitartikel „Die Scheinheiligen“ zum alljährlichen Treffen der Reichen und Mächtigen beim Weltwirtschaftsforum im mondänen Davos, das wieder einmal registrierte, dass weltweit die Reichen noch reicher geworden sind.
Kurzweil und Schadenfreude von der ersten bis zu letzten Zeile beschert der Beitrag „Die Rentner Armee Fraktion“ von Michael Sontheimer über die Probleme der überlebenden RAF-Terroristen, die zu wenig für ihr Altenteil zurückgelegt haben. Die Sorge um die Rente im Zeitalter der Nullzinsen trifft also nicht nur Otto Normalverbraucher, das hat ja was Tröstliches.
Einen spannenden Wirtschaftskrimi erzählen Conny Neumann und Peter Richter. „Zwischen Erde und Mond“ heißt das Stück über die Milliardärsfamilie Engelhorn, die laut Spiegel mit Hilfe des Münchner Anwalts Pöllath die aus dem Verkauf des Pharma-Herstellers Boehringer Mannheim eingenommenen Euro-Milliarden vor dem Fiskus bewahren wollte.
Und noch ein Krimi. Marcel Rosenbach und Gerald Traufetter erzählen, wie ein Hacker aus Lübeck in seinem eigenen Familienauto die Software von VW knackte und den Betrugscode identifizierte. „Bewusste Verschleierung“ ist ein Beitrag, das über die aktuelle Fragestellung hinausblickt und inhaltlich schon überleitet in das ebenso lesenswerte Stück „Lotterie des Sterbens“ von Veronika Hackenbroch über die ethischen Probleme beim Programmieren selbstfahrender Autos.
Zu empfehlen ist das Interview von Bernhard Zand mit der chinesischen Unternehmerin Zhang Xin über Chinas weiteren Weg. „Das alte Modell geht nicht mehr“ ist interessant und aufschlussreich. Wenig überzeugend dagegen ist die Kolumne „Die Multikrise“ von SPIEGEL-Wirtschaftschef Armin Mahler. Die Aufzählung des Wenn und Aber liest sich wahllos, ein Resümee wir nicht gezogen. Und er Leser fragt sich: Geht jetzt die Welt unter?
Zum Schluss: Der SPIEGEL bietet dem Schriftsteller Navid Kermani die große Bühne. Zu recht. Das Gespräch mit Lothar Gorries über Terroranschläge, Pegida, Kölns Silvesternacht, versagende Polizei, grenzenloses Deutschland und kraftloses Europa zeigt, dass wir in einer hysterischen Zeit kluge Stimmen wie ihn brauchen. Ein anregender Beitrag. Aber deutlich wird: Auch der SPIEGEL kennt nur noch Fragezeichen. Seine frühere Selbstgewißheit ist perdu.