Wir erinnern uns: Am 1. August 1914 begann der „Große Krieg“. Später, nach dem Weltkrieg 1939/45, ging er als der „Erste Weltkrieg“ in die Geschichtsbücher ein. Die Kriegsbegeisterung war anfangs vor allem in deutschen Städten schier grenzenlos. Ganze Abiturklassen meldeten sich freiwillig zum Kriegsdienst. Selbst unter Mädchen und Frauen brach die Begeisterung aus. Etwa 100.000 wollten Kriegskrankenschwester werden; rund 25.000 kamen zum Einsatz. Auf dem Land freilich hielt sich die Euphorie eher in Grenzen; man war mit der Ernte beschäftigt. Pfarrer und Bischöfe indes segneten Soldaten und Waffen. Aber die Ernüchterung ließ nicht lange auf sich warten. Der Vormarsch nach Frankreich kam bald zum Erliegen, bald auch erschienen in den Zeitungen die ersten Todesanzeigen für Gefallene.
Szenenwechsel: Am 4. September 2015 ließ Kanzlerin Merkel die Grenzen für Hunderttausende von Flüchtlingen öffnen. Am Ende sollte es in kurzer Zeit fast eine Million werden, die den Weg über die Balkanroute nach Deutschland wählte. Begeisterung und Hilfsbereitschaft in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung waren schier grenzenlos. Täglich bis zu 6.000 Flüchtlinge wurden allein am Münchner Hauptbahnhof mit Teddybären, Kleidung, Nahrung, „Welcome“-Schildern begrüßt. Deutschlands oberste Kirchenfürsten, Kardinal Marx und Bischof Bedford-Strohm, mischten sich am 5. September – übrigens hier schon wie im Oktober 2016 am Tempelberg in Jerusalem ohne Bischofskreuz – unter die „Refugees-Welcome“-Gemeinde am Münchner Hauptbahnhof. Die Ernüchterungen folgten, diesmal aber ohne große mediale Begleitung, vor Ort: überquellende Flüchtlingslager, überquellende Flüchtlingsklassen, maßlos überforderte Ämter, zu 90 Prozent junge Männer, eine massive Zunahme an Gewalt.
Was haben beide Zeiträume, 101 Jahre auseinanderliegend, miteinander zu tun? Auf den ersten Blick wenig, vor allem nichts Martialisches. Bei näherem Hinsehen aber drängen sich doch Parallelen auf: dort patriotische Kriegslüsternheit, hier quasi-patriotisch-moralisierendes Gutmenschentum; dort obrigkeitsgläubiger Drang zum Krieg, hier obrigkeitsstaatliches „Wir schaffen das!“; dort aggressive Entgrenzung nach West und Ost; hier Entgrenzung durch Verzicht auf jede Grenzsicherung; dort pseudoreligiöse Mobilisierung vor allem gegen einen Erzfeind; hier pseudoreligiöse Bußfertigkeit zum Abtragen „deutscher Schuld“. Also einmal mehr Emanuel Geibels Zeilen aus dem Gedicht „Deutschlands Beruf“ aus dem Jahr 1861? „Am deutschen Wesen mag (später: soll) die Welt genesen“, so schrieb der Dichter. Erst als Militärmacht, dann, 101 Jahre später, als Moralmacht. Sind die Parallelen noch als „zufällig“ zu bezeichnen?
Der Historiker und Psychologe Alexander Meschnig, Jahrgang 1965, hat dazu ein Buch geschrieben: „Deutscher Herbst 2015 – Essays zur politischen Entgrenzung“. Darin sind 19 seiner Essays zur Flüchtlingskrise aus der Zeit von September 2015 bis Oktober 2017 enthalten. Deren Essenz fasst Meschnig in einem längeren Einleitungskapitel zusammen.
Der Titel des 220 Seiten starken Bandes lässt zunächst eher vermuten, hier gehe es um einen Bezug zum „Deutschen Herbst 1977“ mit dem Höhepunkt der RAF-Terrorwelle. Aber die Parallelen zwischen 2015 und 1977 wären zu spärlich, als dass dieser Vergleich trüge. Gewiss war die Bundesrepublik 1977 wie 2015 aufs Äußerste herausgefordert, aber damals gab es – im Gegensatz zu 2015 – konsequentes regierungsamtliches Handeln. Nun also Meschnigs spannender Vergleich 1914 versus 2015: Der Autor sieht vor allem folgende Parallelen: Beide Male handelt es sich um eine historische Zäsur mit irreparablen Folgen; beide Male spielen ein typisch deutscher Narzissmus und eine kolossale Egozentrik eine Rolle; beide Male haben zu tun mit einer angeblichen deutschen Mission; beide Male ging es um eine massenpsychologische Hysterisierung.
Alexander Meschnig hat jedenfalls einen sehr lesenswerten und aktualisierten Sammelband vorlegt. Man sollte ihn wirklich zur Hand nehmen – und als Ergänzung dazu seinen ein Jahr zuvor zusammen mit Parviz Amoghli verfassten Band „Siegen – oder vom Verlust der Selbstbehauptung“. Einer der markantesten Sätze dort lautet: „In der Abwertung des Eigenen, bei gleichzeitiger Aufwertung des Fremden, kommt das spezifische Merkmal der westlichen Zivilisation seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts zum Ausdruck. Keine andere Kultur, Gesellschaft oder Religion hat diese Büßermentalität hervorgebracht, die im September 2015 in Deutschland in der Frage der Masseneinwanderung kulminierte.“