In meiner Kindheit in den 60iger Jahren hatte ich immer eine irrationale Angst vor meinem netten Turnlehrer. Aber auch vor Waisenhäusern und Kinderkliniken. Ich war zwar von meiner Umgebung weitgehend von den Schrecklichkeiten der Naziherrschaft verschont worden, hatte aber dennoch eine instinktive Ahnung, was dort so alles geschehen war. Welcher Ideologie mein schneidiger Turnlehrer, etwa Jahrgang 1915, früher gehuldigt hatte, blitzte immer dann auf, wenn es ein schwächerer Schüler partout nicht übers Reck schaffen wollte.
Ich hatte diese Ängste eigentlich vergessen. Bis zur aktuellen Diskussion über das Zustimmungsprinzip bei Organtransplantationen. In meinen Alpträumen sehe ich jetzt Ärzte in langen weißen Kitteln, die mich in gekachelte Räume führen, die verchromten Instrumente schon bereit – und nicht, um mir zu helfen.
Ich habe jetzt schon Angst vor den abfälligen Blicken der Stationsschwester, wenn ich mit meinem Ablehnungskärtchen – oder bekommt man ein andersfarbiges Nachthemd? – eingeliefert werde. Wahrscheinlich gibt dann auch keinen Kuchen – oder es kommt nachts niemand, wenn man den Alarmknopf drückt. ‚Tja! Herzlos können wir auch …‘
Es könnte mir egal sein. Ich habe Kinder. Die würden mich besuchen und mich über Mobbing hinwegtrösten. Aber genau hier liegt der Hase ja im Pfeffer. Mir kann nichts passieren. Ich selbst bin zum Organ spenden zu alt. Meine Kinder haben die Probleme. Schaut man sich an, was mit jungen Toten so passiert, wenn die Organspende genehmigt wurde, dann fallen einem nur Vokabeln wie ausweiden oder fleddern ein. Denn man kann verdammt viel verwenden. Am eindrucksvollsten immer: Die Augen, die dann fehlen – und die der Hauptgrund sind, warum man die ‚Spender‘ den eigenen Angehörigen hinterher gar nicht mehr zeigen kann.
Und noch Sterbende: Wird man sie retten? Wenn lebensverlängernde Maßnahmen ohnehin als ‚Maschinenmedizin‘ eine schlechte Presse haben. Bedeutet das nicht auch, dass auf Rettung schneller verzichtet werden darf? Wenn ein Organ gut passt? Werde ich – oder schlimmer – werden meine Angehörigen – hier noch optimal versorgt – oder konserviert?
Und mein Kind: Wird es überhaupt ernsthaft behandelt, wenn die Organe schön sind? Wird ihm richtig geholfen, wenn im Pass ein ‚nein‘ steht?
Ein Ort, an dem man sich diese Fragen stellen muss, ist kein Ort der Hoffnung mehr. Eher ein klischeehafter Schauplatz bestimmter Horrorfilme, draußen vor der Stadt, verhüllt in Nebelschwaden schrecklicher Vorahnungen. Ein Ort, von dem ich annehmen muss, dass man dort sehnsüchtig darauf wartet, zu verwerten? In dem man ans Leder will?
Ich begebe mich jedenfalls schon auf die Suche nach einer Klinik, in der man seine Organe nicht nur behalten darf, sondern in dem man gar nicht erst gefragt wird: ‚Dürften wir …?‘