Gelbwesten, Akt 15: Antisemitismus-Vorwürfe und interne Streitereien
Kai Horstmeier
Macron versucht, die Gelbwesten mit noch mehr Staatsdruck kleinzukriegen. Wie das ausgeht, ist offen.
Alain ist auch wieder an Ort und Stelle. Seit Beginn der Gelbwesten-Bewegung, seit dem 17. November 2018, hat der Rentner keine Demonstration ausgelassen. Jeden Samstag trifft man ihn um 14 Uhr auf der „Place Bellecour“ in Lyon, anschließend marschiert er häufig gut zehn Kilometer mit den Demonstranten durch die Innenstadt.
„Sieben Millionen Franzosen haben 850 Euro zum Leben im Monat, das kann so nicht weitergehen“, sagt er, „wir brauchen eine Revolution, und wir müssen die Gesellschaft komplett verändern. Herr Macron hat die Franzosen belogen. Er hat gesagt, Rentner bräuchten nicht viel Geld, auch sie müssten Opfer bringen. Ich fordere alle Franzosen auf, bis zum Schluss durchzuhalten. Wir brauchen eine Revolution, das heißt: Auflösung der Nationalversammlung. Das ist wie 1793. Da hat die Straße regiert, die Sansculotten. Das wird jetzt genauso ablaufen. Die Gelbwesten werden regieren, soviel ist sicher.“ Seinerzeit waren Höchstpreise für Güter des täglichen Bedarfs festgelegt und Revolutionstribunale eingerichtet worden. Allerdings begann damit auch die Schreckensherrschaft von Maximilien de Robespierre, der frühere König Ludwig XVI und seine Gattin Maire Antoinette wurden mit der Guillotine hingerichtet.
Rentner Alain mit seinem Banner : “Monsieur Macron: Wenn das Volk hungert, gibt es die Revolution”
Diesmal dauert es nicht lange, bis die ersten Tränengasgranaten fliegen. Nicht einmal eine Viertelstunde ist vergangen, als die Ordnungskräfte die Rhône-Brücke, die „Pont Gallieni“, blockieren. Sie wollen verhindern, dass die Gelbwesten in die Geschäftsviertel der Stadt vordringen, also zwingen sie den Demonstrationszug in Richtung Süden zu marschieren. Ungekannt bisher in Lyon: Randalierer, die sich gelbe Westen angezogen haben, vandalisieren mehrere Bankfilialen. Gut 1.000 Gelbwesten zählte die örtliche Presse, die meisten von ihnen friedlich und nicht auf Randale aus. Bis zum Abend gibt es mehr als 20 vorübergehende Festnahmen, am Sonntag sitzen noch immer elf in Sicherheitsgewahrsam. Landesweit waren es nach Angaben des Innenministeriums 46.600 Gelbwesten, die auf die Straße gingen, gut 5.000 mehr als am vergangenen Wochenende.
Antifa bei Demonstration
Es ist viel geschehen in Frankreich in den vergangenen drei Monaten. Das Demonstrationsrecht wird verschärft, mindestens 17 Gelbwesten haben ein Auge verloren, weil sie mit sogenannten „Flashballs“, den LBD 40, beschossen wurden, am 9. Februar verlor ein Demonstrant vor der Nationalversammlung in Paris eine Hand, nachdem in seiner Nähe eine Schockgranate explodiert war. Laurent Nuñez, Staatssekretär im Innenministerium bestreitet, dass die Ordnungskräfte dafür verantwortlich seien, der junge Mann sei selbst schuld, denn er habe die Granate aufheben und gegen die Ordnungskräfte schleudern wollen.
Inzwischen haben die Abgeordneten des Europaparlaments mit großer Mehrheit die unangemessene Gewaltanwendung von Ordnungskräften in ganz Europa verurteilt, ohne dabei ein konkretes Land zu nennen. Dennoch bestimmte das Thema „Gelbwesten in Frankreich“ die Debatte über das Thema. Auch eine Expertengruppe der Vereinten Nationen zeigte sich besorgt über die Zahl vorübergehender Festnahmen in Frankreich, über die Durchsuchung und Beschlagnahmung von Material bei den Demonstrationen und über die Zahl schwerer Verletzungen bei den Kundgebungen der Gelbwesten. Die Abgeordneten forderten die Staatsgewalt dazu auf, ihre „Politik zu überdenken“ und die Demonstrationsfreiheit zu gewährleisten. Gleichzeitig warnten sie vor „ernsthaften Freiheitseinschränkungen“, sollte die französische Regierung ihr geplantes Gesetz gegen Randalierer verabschieden. Darin ist unter anderem vorgesehen, dass die Präfekten in den Regionen, also die Repräsentanten des Zentralstaates in Paris, zukünftig darüber entscheiden sollen, wer an deiner Demonstration teilnehmen darf und wer nicht. Bislang war das Aufgabe der Richter. In der vergangenen Woche schmetterte ein Gericht in Lyon die Klage einer Frau ab, die ein Verbot von „Flashballs“ und Schockgranaten bei den Demonstrationen der Gelbwesten erreichen wollte.
Alain, Portrait
„Ich liebe meine Heimat“, sagt Rentner Alain, „und ich will mein Heimatland retten. Leider haben wir seit zwei Jahren 50.000 illegale Migranten in Frankreich, und niemand kümmert sich um die Franzosen. Damit bin ich nicht einverstanden.“ [Anmerkung der Redaktion: Es gibt keine offiziellen Zahlen, nur Schätzungen. Gérard Collomb sprach, als er noch Innenminister war, mal von 300.000, manche sagen 250.000, manche bis zu 400.000. Genaue Zahlen gibt es aber nicht.] Ein Beistehender stimmt ihm zu, er sehe das genauso. Den Gelbwesten wird häufig vorgeworfen, sie hätten ihre Wurzeln in der extremen Rechten. Seit der Veröffentlichung des Berichts über Rassismus durch den CNCDH, den „Nationalen Beratenden Ausschuss für Menschenrechte in Paris“, wird die Gelbwesten-Bewegung in Frankreich häufig als „antisemitisch“ bezeichnet. Die Zahl antisemitischer Akte sei 2018 und 74 Prozent gestiegen. Kritiker der Gelbwesten beziehen sich vor allem auf die Hakenkreuzschmierereien auf Porträts der Auschwitz-Überlebenden und Politikerin Simone Veil und rassistische Beleidigungen gegenüber dem jüdischen Intellektuellen und Philosophen Alain Finkielkraut beim vierzehnten Akt der Gelbwesten-Demonstrationen in Paris. Mehrere Demonstranten hatten Finkielkraut dort auf der Straße aufgerieben und ihn als „dreckigen Zionisten“ beschimpft. Er werde „in der Hölle sterben“, Gott werde ihn für seine Äußerungen bestrafen. Zunächst hatte es geheißen, der Hauptverdächtige habe Finkielkraut als „dreckigen Juden“ beschimpft, doch ist diese Beleidigung weder in den Video-Aufzeichnungen der Tat zu hören, noch hat Finkielkraut dies bestätigt. Der Philosoph selbst betonte, er sei nicht als „dreckiger Jude“ beschimpft worden, er verzichtete darauf, Anzeige zu erstatten. Allerdings ist in dem Video deutlich zu hören, dass Finkielkraut aufgefordert wird, „zurück nach Tel Aviv“ zu gehen, Frankreich gehöre den Franzosen.
Der 36-jährige Hauptverdächtige ist der Polizei bekannt. Benjamin W. kommt aus Mulhouse und ist zum Islam konvertiert, er gilt als Sympathisant der islamistischen Salafisten. Benjamin W. verbrachte 48 Stunden in Polizeigewahrsam, am 22. Mai wird ihm der Prozess wegen „öffentlicher Beleidigung und religiösen Hasses“ gemacht. Wegen seiner Nähe zu den Salafisten war Benjamin W. erstmals 2014 auf dem Radar der Geheimdienste aufgetaucht. Sein Anwalt bestreitet rassistische Motive und wirft den Behörden vor, sich dem politischen Druck der Regierung gebeugt zu haben, die missbrauche den Vorfall, um den Gelbwesten das Attribut „Antisemitisch“ anzuhaften. Der Rassismus-Bericht des CNCDH bezieht sich auf das gesamte Jahr 2018, die Gelbwesten-Bewegung gibt es in ihrer jetzigen Form seit dem 17. November vergangenen Jahres. Präsident Emmanuel Macron kündigte an, die Definition von „Antisemitismus“ überdenken und den Begriff „Antizionismimus“ gesetzlich damit gleichsetzen und unter Strafe stellen zu wollen. Maxime Nicolle, einer der „Sprecher“ der Gelbwesten, bezeichnete indes den Zionismus selbst als „rassistisch“.
Am 17. Februar beschimpften Gelbwesten Ingrid Levavasseur, eines der bekanntesten Gesichter der Gelbwesten, bei einer Demonstration auf den Champs-Élysées in Paris als „dreckige Jüdin“und „Verräterin“. Sie wurde an den Haaren gezogen und bedroht. Die Gelbwesten forderten die 31-jährige alleinerziehende Mutter zweier Kinder dazu auf, die Demonstration zu verlassen und ihre gelbe Weste auszuziehen. Levavasseur erstattete inzwischen Anzeige wegen „sexistischer Beleidigungen“ und „physischer Bedrohung“. Sie ist ein Symbol: Levavasseur kündigte kürzlich an, bei den Europawahlen am 26. Mai an der Spitze einer eigenen Bewegung kandidieren zu wollen. Ein Fehler nur: Die Liste nannte sich „RIC“ (Ralliement d’Initiative Citoyenne), das sind dieselben Initialien wie eine der zentralen Forderungen der Gelbwesten nach Volksabstimmungen, nach einem „Référendum d’Initiative Citoyen“. Die Regierungsmehrheit „La République En Marche“ (LREM) von Präsident Macron lehnte das in der Nationalversammlung inzwischen ab und verwies auf die derzeit in ganz Frankreich stattfindende „Große Debatte“. Für die meisten Gelbwesten ist das allerdings Augenwischerei, denn sowohl Teilnehmer als auch Fragen seien vom Élyséé-Palast vorgegeben. Ingrid Levavasseur werfen sie vor, sie profitiere von den Gelbwesten, indem sie ihre Bewegung „RIC“ nenne.
Levavasseur hat sich nach mehreren Drohungen seitens der Gelbwesten von der Liste zurückgezogen. Auch ihr Kollege Hayk Shahinyan kündigte an, wegen des Drucks aus den eigenen Reihen Abstand nehmen zu wollen. Soviel ist klar: Die Gelbwesten sind weiterhin keine homogene Bewegung. Sie haben es bislang nicht geschafft, ihre Forderungen politisch umzusetzen und sich zu organisieren.
Inzwischen fordert Umfragen zufolge eine kleine Mehrheit von 52 Prozent der Franzosen ein Ende der Gelbwesten-Proteste. Bei den Demonstrationen in Lyon ist aber weiter vor allem eines zu hören: „On lâche rien!“ Wir geben nicht nach.
Vandalisierte « Banque Populaire » in Lyon
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