„Hartz IV“ ist nicht nur für Sozialdemokraten ein Begriff, den sie aus dem politischen Wortschatz tilgen wollen. Für Linke, Gewerkschafter und Sozialverbände steht er für Armut per Gesetz. Die SPD will aus dem Arbeitslosengeld II, vulgo Hartz IV genannt, jetzt ein Bürgergeld machen, das weitgehend ohne Sanktionen auskommt. Mit viel zusätzlichem Steuergeld soll hier das alte Motto aus Gerhard Schröders Zeiten vom „Fordern und Fördern“ beerdigt werden. Die SPD will Hartz IV-Bezieher lieber mit großzügigeren Stilllegungsprämien ruhig stellen, statt sie zur Aufnahme von Erwerbsarbeit zu mobilisieren.
Dabei ist der Arbeitsmarkt in Deutschland in vielen Branchen leergefegt. Im letzten Quartal 2018 registrierten Arbeitsmarktforscher in Deutschland mit fast 1,5 Millionen offenen Stellen ein Allzeithoch. Die Arbeitslosigkeit hat sich seit der Einführung von Hartz IV, wie die Grundsicherung für Arbeitssuchende seither nicht nur im Volksmund genannt wird, von knapp 4,9 Millionen im Jahresdurchschnitt 2005 auf 2,3 Millionen im Jahresdurchschnitt 2018 mehr als halbiert. Selbst die globale Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2009 bremste den Aufschwung am hiesigen Arbeitsmarkt nur wenig aus. Mit heute 45 Millionen Erwerbstätigen arbeiten inzwischen 5 Millionen mehr als 2005.
Auch die absolute Zahl aller Hartz IV-Bezieher hat sich seit 2007 um nahezu eine Million verringert. Die Zahl wäre noch deutlicher abgesunken, wenn im vergangenen Jahr nicht zunehmend anerkannte Asylbewerber oder Migranten mit Bleibestatus aus dem Asylbewerberleistungsgesetz in den Hartz IV-Bezug nachgerückt wären. Die Zahl der Arbeitslosen unter den Grundsicherungsbeziehern ist in dieser Zeit sogar um fast ein Drittel zurückgegangen. Im Gegensatz zur häufig kolportierten Falschmeldung ist das Hartz IV-Reformprojekt deshalb ein durchschlagender arbeitsmarktpolitischer Erfolg.
Das zeigt sich selbst dann, wenn man sich die Zahl der sogenannten „Aufstocker“ einmal näher anschaut. So werden Erwerbstätige genannt, die trotz eines Arbeitseinkommens bedürftig sind und ihr Einkommen mit Hartz IV-Sozialleistungen aufstocken können. Im März 2018 gab es laut Bundesagentur für Arbeit 1,1 Millionen „Aufstocker“. Obwohl auch diese Zahl seit Jahren rückläufig ist, dient sie der politischen Linken und den Sozialverbänden, aber auch der etablierten Presse, gern als Beleg, dass Niedriglöhne weit verbreitet sind. Tatsächlich müssen Betroffene aber nur deshalb aufstocken, weil sie eine Familie mitversorgen und nicht in Vollzeit arbeiten. 360.000 Aufstockende hatten zuletzt nur einen Minijob. Von den rund 190.000 vollzeitbeschäftigten Hartz IV-Beziehern bekommt das Gros nur deshalb zu-sätzliche Hilfe vom Staat, weil Kinder und Partner den Sozialleistungsanspruch stark in die Höhe treiben. Alleinstehende Hartz IV-Empfänger, die in Vollzeit arbeiten, muss man dagegen mit der Lupe suchen. Ihr Anteil an allen sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten beträgt 0,2 Prozent oder 52.852 Personen.
Aufgrund der genannten Fakten gehen die Reformvorschläge der SPD komplett am Problem vorbei. Dabei gibt es zwei Baustellen im Hartz IV-System, die auch renommierte Ökonomen seit langem kritisieren. Zuletzt haben Anfang dieser Woche Experten des Münchner ifo-Instituts eine Radikalreform bei den Hinzuverdienst-Regelungen im Hartz IV-Bezug verlangt. Denn das derzeitige System halte vor allem Familien in der Grundsicherung fest, weil ihnen bei der Aufnahme von Erwerbsarbeit am Ende sogar weniger Netto verbleibt. Diese Niedrigeinkommensfalle nannte ifo-Sozialexperte Andreas Peichl drastisch eine „Todeszone, die zwischen 1.500 Euro und 2.300 Euro liegt“. In dieser Einkommensspanne bringt die Aufnahme von Erwerbsarbeit buchstäblich keinen zusätzlichen Euro, ja sie kann sogar im Extremfall zu weniger Einkommen führen. Diesen Effekt bezeichnen Ökonomen als „Transferentzugsrate“, die dann in Einzelfällen sogar bei mehr als 100 Prozent liegen kann. Heute sind knapp 40 Prozent aller Alleinerziehenden mit ihren Kindern von Hartz IV-Leistungen abhängig.
Obwohl man sich vor Pauschalurteilen hüten sollte, gehen Arbeitsvermittler davon aus, dass es bei alleinstehenden „Aufstockern“ auch ein Problem gibt. Ifo-Präsident Clemens Fuest spricht hier von sogenannten „Tarnkappen-Jobs“. Die Betroffenen verdienen in einem Minijob 100 bis 200 Euro dazu. Sie arbeiten offiziell nur wenige Wochenstunden, etwa auf Abruf in der Gastronomie. Tatsächlich aber sind ihre Arbeitszeiten viel länger. Sie erhalten ihren Verdienst schwarz und cash auf die Hand. Finanziell stellen sie sich mit dem parallelen Bezug von Hartz IV-Leistungen recht ordentlich, haben deshalb keinen Anreiz, einen Vollzeitjob anzunehmen.
Die Reformpläne des ifo-Instituts zielen darauf ab, diese fatalen Fehlanreize im Grundsicherungssystem auszumerzen. Die Münchner Experten wollen die unterschiedlichen Sozialleistungen (Hartz IV, Unterkunftskosten, Wohngeld, Kinderzuschlag) mit teilweise verschiedenen Einkommensanrechnungen zusammenfassen und sie für erwerbstätige Eltern mit Niedrigeinkommen wegen der Kinder deutlich verbessern. Für Familien soll die derzeitige Freigrenze von 100 Euro für Hinzuverdienst weiter gelten. Bis zu 630 Euro Hinzuverdienst dürfen sie künftig 20 Prozent ohne Anrechnung behalten, bei darüber liegenden Summen dann 40 Prozent.
Auf der anderen Seite soll es für alleinstehende Aufstocker mit Minijobs strengere Regeln geben. Für Singles sollen künftig Einkommen bis 630 Euro monatlich zu 100 Prozent auf die Grundsicherungsleistungen angerechnet werden. Für darüber hinausgehendes Einkommen können Hartz IV-Bezieher dafür dann mit 40 Prozent einen höheren Anteil als heute behalten. Für Grundsicherungsbezieher würde es sich damit lohnen, mindestens einen offiziellen Teilzeitjob von 30 Wochenstunden anzunehmen, statt sich mit einem „Tarnkappen-Job“ zu begnügen.
Für nicht nur gut gemeinte, sondern gut gemachte Sozialpolitik sollte sich die Sozialdemokratie besser bei den Reformvorschlägen des Münchner ifo-Instituts bedienen.