Eines vorweg: Kaum ein Wort wird im politischen Tagesgeschäft derart häufig missbraucht, wie das Wort „Reform“. Es kommt immer dann daher, wenn dem Bürger vorgegaukelt werden sollt, dass es Bestehendes im Sinne des Fortschritts zu verbessern gilt. Tatsächlich allerdings besagt das Wort „Reform“ etwas ganz anderes. Es steht dafür, Dinge und Vorgänge, die sich über die Zeit verändert haben, wieder zu ihrem Ursprung zurück zu bringen – nicht, sie zu verändern oder zu erneuern.
Gleichwohl wird der Reform-Begriff heute immer dann herangezogen, wenn Bestehendes verändert, vielleicht weiterentwickelt werden soll. Und so wurde die Reform, die der Betrachter eigentlich als ein Kernanliegen der Konservativen ansehen würde, von den selbsternannten Progressiven übernommen, um letztlich jedwede Revolution als Reform gefällig zu verkaufen.
Den Sozialstaat wieder auf die Füße stellen
Am zweiten Februarwochenende des Jahres 2019 nun traf der Vorstand der ehemaligen Arbeiterpartei SPD zusammen. Es sollte, wie auf der SPD-Website zu lesen, das „Konzept für einen neuen Sozialstaat“ beschlossen werden, mit dem „die SPD Hartz IV endgültig hinter sich lässt“. „Hartz IV“, das war jene als Reform verkaufte Neustrukturierung, die unter Leitung des SPD-Mitglieds und VW-Vorstands Peter Hartz als „Agenda 2010“ im August 2003 vorgelegt worden waren. Hartz, klassischer SPD-Vertreter, der sich vom Sohn eines Hüttenarbeiters über den Zweiten Bildungsweg zum diplomierten Betriebswirt hochgearbeitet hatte, handelte im Auftrag des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder – dieser berief sich selbst auf seine „asoziale Herkunft“ und einen ähnlichen Bildungsweg mit Zweitem juristischen Staatsexamen. Ziel beider: Den aus den Fugen geratenen, unbezahlbaren Sozialstaat auf neue, sichere Füße stellen, um so die Fundamente sozialdemokratischer Politik langfristig zu sichern.
Die Agenda war zwangsläufig mit manchen Härten auch gegenüber der gefühlten und tatsächlichen Klientel der SPD verbunden – schaffte aber das kaum noch zu Erhoffende, indem sie die Basis für das zweite Wirtschaftswunder in den ersten beiden Dekaden des dritten Jahrtausend legte. Statt aber diesen Erfolg, der tatsächlich jenen Sozialdemokraten zuzuschreiben ist, sich zu eigen zu machen und darauf aufzubauen, haderte die SPD mit jener Agenda und steigerte sich von Jahr zu Jahr mehr in die Selbstkasteiung, indem sie die Ursache ihres kontinuierlichen Niedergangs an dieser Agenda festmachte – dabei übersehend, dass die Malaise der Sozialdemokratie auch in der ständigen Selbstbezichtigung eines angeblich von ihr selbst organisierten Sozialabbaus zu finden ist, maßgeblich aber durch ein zunehmend unattraktiveres, weltfremdes Spitzenpersonal verursacht wurde.
Die Lust am Untergang
In ihrer selbsthypnotischen Untergangslust sieht nun die SPD ihre Rettung in der radikalen Überwindung jener Agenda-Maßnahmen – und in der Überwindung des Erfolgsmodells der Sozialen Marktwirtschaft, in der gewinnorientierte Leistungsbereitschaft und soziale Absicherung verbunden worden waren und die so sicherstellte, dass der unternehmerische Erfolg auch zum Erfolg der Arbeitnehmerschaft wurde.
In einem Papier mit dem Titel „Arbeit – Solidarität – Menschlichkeit | Ein neuer Sozialstaat für eine neue Zeit“ findet sich das Wort „Wirtschaft“ nur noch ein einziges Mal, wenn es darum geht, die Mitbestimmung auszuweiten. „Marktwirtschaft“, jenes Schlüsselwort des Erfolgs, findet sich überhaupt nicht mehr. Stattdessen erfindet die SPD nun deren Ablösung durch etwas, das sie „Plattformwirtschaft“ nennt. Mit dieser Plattformwirtschaft versucht sie zu beschreiben, dass durch Internet und Wandel der Arbeitswelt weg von lebenslanger Betriebszugehörigkeit neue Netzwerkarbeitsplätze entstehen, bei denen Teilzeitarbeiter neben Kleinselbständigen aus den bisherigen Mechanismen der sozialen Sicherung herausfallen. Die Sozialdemokraten nennen dieses die „Entgrenzung der Betriebsorganisation“.
Sechsmal taucht dieser Begriff an unterschiedlichsten Stellen auf – er wird zu dem, um das sich der „neue Sozialstaat“ dreht; das, woraus die SPD nun ihr Lebenselexir zu ziehen sucht. Denn so, wie einst die Arbeitervereine gegründet worden waren, um in der sich entwickelnden industriellen Fertigung die Rechte der Industriearbeiter durchzusetzen, will die SPD nun diese Diversität jener “Plattformwirtschaft“ in den Griff bekommen. Man könnte das sogar als berechtigtes Anliegen bezeichnen – schlösse es nicht all jene Millionen Arbeitnehmer aus, die auch heute noch in geregelten Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind, gleich ob in der industriellen Wertschöpfungskette oder in der Dienstleistung. So folgt die SPD einmal mehr ihrem mittlerweile schon bekannten Irrtum, wenn sie meint, Wohltaten für kleine Gruppen verteilen zu müssen, dabei aber ihre klassische Klientel schlicht übersieht.
Die SPD wird ihr Problem nicht lösen
Es lohnt an dieser Stelle nicht, das Füllhorn, welches die SPD über diese Teile des Volkes ausschütten möchte, zu zitieren. Wer sich einlesen möchte: Hier geht es zur „neuen Zeit“ der SPD.
Ihr eigentliches Problem wird die SPD damit nicht lösen können. Denn dieses Papier soll in der Konsequenz die Vergesellschaftung der staatlichen Ressourcen schaffen – was nichts anderes bedeutet, als dass eine kleine Partei-Elite bestimmt, wie das sich aufzehrende Volksvermögen verteilt wird. Es leidet nicht nur unter jenem fundamentalen Fehler, dass es die Bindung an den klassischen Arbeiter nicht findet. Es erklärt auch nicht, wer den ohnehin schon überbordenden Sozialstaat künftig finanzieren wird.
Die SPD war nie die Partei der Systemüberwinder
Die Sozialdemokratische Partei der Gründungsphase bis in die frühe Bundesrepublik hinein verstand sich nicht als Systemüberwinder. Deshalb kam es schon früh zum Bruch mit den Ideologen der Kommunisten, die den Geknechteten dieser Welt die Alleinherrschaft versprachen und meinten, dass das von den bösen Kapitalisten erwirtschaftete Vermögen ewig weitersprudeln werde, wenn man diesen Ausbeutern den Kopf abgeschlagen hatte.
Sozialdemokraten hingegen hatten verstanden, dass der gesellschaftliche und finanzielle Fortschritt, der die Deutschen bis 1913 zur führenden Welthandelsnation gemacht hatte, mit einer staatlichen Planwirtschaft niemals zu erreichen gewesen wäre. In dieser Verantwortung machten sie nach 1919 weiter – und mit einigem Holpern auch nach 1949. Als wenn es noch des Beweises der Richtigkeit dieser Erkenntnis bedurft hätte, scheiterten sozialistische Heilsversprechen regelmäßig an sich selbst: Sowjetunion und die Staaten des RGW, Kuba und aktuell Venezuela sind die Beweise dafür, dass es ohne Gewinnstreben nicht funktioniert. Und dass es nur darum gehen kann, einen gesellschaftlichen Ausgleich zu schaffen, den Sozialisten mit dem Allerweltswort von der Gerechtigkeit zu umnebeln suchen.
Echte Arbeiter waren nie Sozialisten
All das wusste immer auch die Arbeiterschaft. Der junge Mann, der 1955 im Alter von 15 Jahren erstmals in den Schacht einfuhr und für den es in seinem Leben nie etwas anderes als die SPD geben sollte, hatte den Willen, für sich und seine Kinder ein besseres Leben zu schaffen. Doch er erwartete nicht, dass ihm dieses geschenkt würde. Er bildete sich weiter, stieg auf, wurde vielleicht nach nun schon zehn Arbeitsjahren mit 25 Jahren Steiger. Andere standen an der Werkbank und bildeten sich in der Abendschule weiter. Es war der Ehrgeiz, das Zukunftsversprechen der SPD durch eigene Leistung zu erfüllen.
Um dieses zu ermöglichen, schuf die SPD Stiftungen und Hilfsangebote, die dem Arbeiterkind die Mittel geben sollten, selbst einen Studienabschluss zu machen. Männer wie Hartz und auch Schröder – mehr noch aber zahllose Ungenannte gingen diesen Weg. Dabei wussten sie immer: Der Arbeitgeber ist nicht der Feind, sondern derjenige, der die Grundlage der Arbeit schafft. Ihn dazu zu bringen, einen angemessenen Anteil der Wertschöpfung an jene weiterzugeben, ohne die diese Wertschöpfungskette nicht funktionieren würde, war Kernaufgabe der SPD und der mit ihr verbündeten Gewerkschaften. So kam es zum deutschen Mitbestimmungsrecht, zur Tarifautonomie, zu Arbeitsschutz und sozialer Absicherung. Auch Arbeiterkinder konnten nun in der gesellschaftlichen Hierarchie aufsteigen, selbst sogar in die Chefetage aufrücken. Und doch wäre keiner jener Arbeiter auf die Idee gekommen, dass solche Karrieren ohne eigene Leistung gleichsam verschenkt würden. Von einem Arbeiterkind, das durch die Partei und ihre Stiftungen die Möglichkeit des Studiums oder einer anderen Weiterbildung bekam, wurde schlicht erwartet, diese Möglichkeit zu nutzen. Arbeitsscheue, Studienabbrecher – für solche Menschen hatte der Arbeiter nichts übrig, denn sein Ethos war eng mit eigener Leistung verknüpft.
Statt Mängel heilen Pflaster verteilen
Die Politik der Agenda hatte deshalb für die Klientel der SPD auch nur wenige Punkte, mit denen sie nicht mitgehen wollte. Der zu frühe Sturz in die Sozialhilfe bei jemandem, der ein Leben lang gearbeitet hatte, war einer dieser Punkte. Die Verpflichtung, erst jene Alterssicherung zu verbrauchen, die in einem Arbeitsleben auf die „hohe Kante“ gelegt worden war, ein anderer. Solche Härten sinnvoll zu korrigieren – das wäre die Aufgabe verantwortungsbewusster SPD-Politik gewesen.
Stattdessen aber verteilten die Sozialdemokraten Pflaster – und schufen eine vom Staat zu betreuende Gruppe nach der anderen. All diesen Maßnahmen war nur eines gemein: Sie verfrühstückten das Vermögen, an dessen Erwirtschaftung die Arbeiterschaft maßgeblichen Anteil gehabt hatte. Die Erwartung, dass der Dauerempfänger von Sozialleistungen zur Gegenleistung in die Pflicht zu nehmen ist und er daran mitwirken muss, wieder „in Arbeit“ zu kommen, bedarf für einen klassischen Arbeiter keinerlei Diskussion. Füllhörner ohne Gegenleistung auszuschütten aber beleidigte das Ethos der Arbeiterschaft umso mehr, wie die Sozialgesetzgebung zur grenzenlosen Einladung für Leute wurde, die sich ohne jeglichen Eigenbeitrag in die soziale Hängematte fallen ließen.
Doch dieser an der Werkbank und selbst in wichtiger Dienstleistungsfunktion stehende Arbeiter fand bei der SPD nicht mehr statt. Und er tut dieses auch nicht im nun vorgelegten Papier. Deshalb haben sie sich in Scharen von der SPD abgewandt und die Partei von Willy Brandt und Helmut Schmidt, die bei Wahlen sogar über 40 Prozent der Stimmen kam, auf derzeit demoskopische 15 Prozent zusammengeschmolzen.
Von Berufsfunktionären gekapert
Die SPD, die nun „eine neue Zeit“ verspricht und damit den kläglichen Versuch unternimmt, das Arbeiterpathos ihrer Hymne von 1914 aufzugreifen, ist keine SPD der arbeitenden Bevölkerung mehr. Sie ist von einer ideologisch verkopften Clique von Berufsfunktionären gekapert geworden, die in ihrem Leben um jeden wertschöpfenden Arbeitsprozess einen großen Bogen gemacht haben. Ein neues Feindbild ist auch gefunden: Die „digitalen Konzerne“. Sie in den Griff zu bekommen und die Sozialismus-Träume jener Ideologen im Mantel der SPD finanzieren zu lassen, ist ein Ziel des Papiers, mit dem die SPD mehr sich selbst als die Geknechteten dieser Welt retten will. Deshalb nun soll die Bundesrepublik umgebaut werden zu einem „inklusiven Sozialstaat“ – was immer das auch heißen soll. Der Wähler, der seinen „all-inclusive-Urlaub“ bucht, soll damit die gewünschten Assoziationen verknüpfen: Nichtstun, den lieben Gott einen guten Mann sein lassen und genießen.
Wenn SPD-Vize Ralf Stegner via Twitter einmal mehr den „Klassenfeind“ beschwört, darf sich der erstaunte Bürger allen Ernstes fragen, wer denn nun dieser Klassenfeind ist – und wer die „Klasse“, für und mit der er kämpfen will. Bei der SPD ist nichts geblieben vom Ethos der Arbeiter, die im Schacht oder an der Werkbank schwitzten, weil es ihnen und ihren Kindern einmal besser gehen sollte. Stattdessen haben sich die Ideen jener, die an den Universitäten und in den Kaderschmieden herumgeisternden und ideologische Weltbilder konsumierten, fest in das Bewusstsein der Parteiführung gefressen. Und so darf sich niemand wundern, dass diese Rückkehr der Sozialdemokraten zu einem Staatssozialismus, den ihre früheren Führer nie gewollt hatten, nun der SPD die Zukunft retten soll.
Von der Wiege ohne Lehre Funktionäre …
Verwundern darf einen dieses nicht. Wirft man einen Blick auf die elf Mitglieder der „Parteispitze“ und die 35 Mitglieder des Parteivorstandes, so fällt bei diesen 46 Personen auf: So gut wie keiner hat klassische Arbeitererfahrung. Die meisten stiegen nach dem Studium unmittelbar in Funktionärsaufgaben ein: Wissenschaftliche Mitarbeit für Abgeordnete oder Fraktionen, Referentenaufgaben bei parteinahen Stiftungen oder in staatlich beauftragten „Projekten“. Irgendwann folgte der politische Aufstieg in das vom Steuerzahler alimentierte Abgeordnetenmandat, nicht selten verknüpft mit der Gehaltsaufbesserung als Parlamentarischer Staatssekretär oder sogar Minister. Auffällig auch: Nicht wenige starteten ihre Laufbahn bei den Jungsozialisten und/oder den Hochschulgruppen der SPD. Diejenigen, die im wirklichen Leben ihr Geld verdient haben, lassen sich an einer Hand abzählen.
Eine solche Situation ist vergleichbar der eines Frosches, der in die Milchschüssel fällt und den Schüsselrand für das Ende der Welt hält – was übrigens ein echter Frosch nicht täte, denn er würde, das unterscheidet ihn vom Politiker, den Versuch unternehmen, die Schüssel über den Schüsselrand zu verlassen und zurück in die wirkliche Welt zu kommen. Doch für einen in solchen Bezügen aufgewachsenen Politiker endet die von ihm wahrnehmbare Wirklichkeit in den selbstgewählten Echokammern aus ideologischer Indoktrination und geschlossenen Zirkeln.
Als Wissenschaftliche Mitarbeiter oder Referenten haben sie gelernt, die Welt aus den vier Wänden eines kleinen Büros zu schaffen – anhand einer Wahrnehmung, die sich ihnen bestenfalls aus Medien und Büchern erschließt. So entsteht ein Kosmos, der in sich selbst ruht und seine kleine Erde wie einst die Kleriker des Mittelalters für das Zentrum der Welt hält, um das sich alles dreht, drehen muss und zu drehen hat.
Störfälle gilt es zu beseitigen
Solche Situationen gleichen der permanenten Selbsthypnose, die die Hybris allumfassender Weisheit schafft. So wird die andere Welt, jene, die sich jenseits der selbstgeschaffenen Erde bewegt, zum Störfall, den es zu beseitigen gilt. Und zu diesem Störfall gehörte auch die Agenda 2010. Statt dazu zu stehen, darauf hinzuweisen, dass es diese Agenda war, der die Bundesrepublik ihren Wiederaufstieg in den ersten beiden Dekaden des neuen Jahrtausends zu verdanken hat, wurde sie in Grund und Boden gemäkelt und als Ursache des eigenen Niedergangs festgemacht. Gestandene Sozialdemokraten wie Franz Müntefering wussten, warum sie zur Agenda standen – auch wenn er angesichts mancher Härten, die dem Geist der SPD zu widersprechen schienen, mehr als heftig schlucken musste. Deshalb wurde er als Störfall abgeräumt von einer Andrea Nahles, die Arbeitsprozesse nur vom Hörensagen kennt.
Der scheinbare Aufbruch in die neue Welt des alten Sozialismus, dorthin, wo die alte SPD nie ankommen wollte, ist das Ergebnis einer in der Scheinwelt lebenden Clique von Berufsfunktionären. Sie verrät den Arbeiter, weil sie ihm die Ehre nimmt. Stattdessen sucht sie den Schulterschluss mit den Ewiggestrigen aus dem kommunistischen Lager. Und so wird sich dieser Aufbruch am Ende als das beweisen, was er ist: Der Einstieg in den Abbruch. Trifft dieser Abbruch nur die SPD, so ist dieses für all jene bedauerlich, die der stolzen Arbeiterpartei von früher die Stange gehalten haben – und die an der Übernahme ihrer Partei durch die Funktionäre verzweifelten. Trifft der Abbruch jedoch wie geplant die Republik, dann stehen wir in absehbarer Zeit noch schlimmer da als zu der Zeit, zu der ein Gerhard Schröder, dessen sonstiges Handeln durchaus angreifbar ist, den Mut hatte, seiner SPD eine Rosskur zu verordnen. Ob dann noch jemand vorhanden sein wird, der diesen Mut aufbringt, darf bezweifelt werden. Die heutige SPD-Führung jedenfalls wird es nicht sein.