Tichys Einblick
SPD ade

Arbeiter raus!

Die SPD will ihre früheren Wähler endlich vergessen. Eigentlich folgerichtig. Denn umgekehrt ist das schon längst passiert.

© Patrik Stollaz/AFP/Getty Images

Yannick Haan gehört zu den Sozialdemokraten mit Zukunft. Er sitzt der SPD Alexanderplatz vor, ist stellvertretender Vorsitzender der SPD Berlin Mitte, wirkt in der „Netz- und Medienpolitischen Kommission” des SPD-Parteivorstandes, arbeitet bei der Stadtverwaltung Wolfsburg als “Smart City Manager”, und weiß außerdem, da er auch über die Fähigkeiten eines Smart Social Democrat-Managers verfügt, wie seine Partei noch zu retten ist. In der „Welt“ vom 1. Februar fordert er in einem Meinungsbeitrag: „Vergesst endlich die Arbeiter“.

Seine Begründung läuft darauf hinaus, dass in Deutschland heute keine Arbeiter mehr existieren, fast jedenfalls.

„War vor 30 Jahren die Arbeiterschaft männlich, weiß und heterosexuell, so ist sie heute extrem divers geworden. Zudem nimmt die Arbeiterschaft in der Gesellschaft immer weiter ab. Laut DIW beträgt diese im Jahr 2019 nur noch 16 Prozent der Bevölkerung.“

Das ist immerhin mehr als der aktuelle Wähleranteil der SPD, die nach einer aktuellen Umfrage zur Europawahl bei 15 Prozent liegt. In Bayern, wo die Partei zur Landtagswahl 2018 immerhin noch 9,7 Prozent schaffte, rangiert sie neuerdings bei 6 Prozent.

Warum die Arbeiterschaft dem jungen modernen Sozialdemokraten ausgerechnet jetzt als diversifizierte Minderheit schnuppe ist, führt Yannik Haan nicht weiter aus. Es muss also außer an ihrer numerischen Stärke auch an einer gewissen kulturellen Entfremdung zwischen Leuten wie ihm und Reihenhausbewohnern in Wolfsburg liegen. „Das heutige Proletariat“, lehrt der Marx vom Alexanderplatz, „fährt nicht mehr ins Bergwerk hinunter, sondern fährt per App gesteuert mit unserem Essen auf Fahrrädern durch die Städte.“

Für Berlin Mitte, wo Yannick zusammen mit anderen männlichen weißen Sozialdemokraten eine per Überlegenheitsgefühl gesteuerte Identitätspolitik betreibt, trifft die Beobachtung durchaus zu. Wer dort nämlich keinen Job als Politikberater, NGO-Mitarbeiter, Journalist, Berufspolitiker, Kulturmanager oder direkter Angestellter des Staates ergattert hat, ist mitunter tatsächlich gezwungen, mit der Feodora-beziehungsweise Foodora-Box auf dem Rücken die Gerechtigkeitslücke zu schließen, die aufklafft, wenn schwäbischen Eltern nach dem dreißigsten Lebensjahr des Berlinkindes ihre Transferleistungen stoppen.

In anderen Teilen des Landes sieht das anders aus. Der Anteil der gewerblichen Arbeiter liegt je nach Quelle bei 18, vielleicht im Jahr 2019 tatsächlich auch bei 16 Prozent der Bevölkerung. Dazu kommen noch gut fünf Prozent Beschäftigte im Bauhauptgewerbe. Diejenigen, die etwas produzieren oder bauen, machen also mehr als ein Fünftel derjenigen aus, die in Deutschland leben. Das ist nicht ganz wenig, zumal gemessen an den etwa fünf Prozent Muslimen, um die sich führende Sozialdemokraten mit einer vergleichsweise großen Intensität bemühen.

Viel wichtiger ist allerdings die Bedeutung der gewerblich tätigen Randgruppe. Der industrielle Wertschöpfungsanteil liegt in Deutschland immer noch bei 25,8 Prozent. Rechnet man die 5,3 Prozentpunkte des Bauhauptgewerbes dazu, tragen also Herstellung und Bau unmittelbar 31,1 Prozent zum Wohlstand bei. Außerdem hängt ein beträchtlicher Teil des Dienstleistungssektors an diesem volkswirtschaftlichen Kern. Ob Händler industrieller Produkte, Spediteure, Werbebeschäftigte, die Kampagnen für Güter entwerfen, oder Softwaredesigner für Gewerbeunternehmen – alle leben davon, dass es Gewerbe gibt. Die industrielle Wertschöpfung wäre noch deutlich höher, wenn ganz Deutschland dem Süden ähneln würde. In industriestarken Gegenden Bayerns wie der Oberpfalz und Niederbayern und in Baden-Württemberg hält sich ihr Anteil noch bei über 30 Prozent – ohne Baugewerbe. Das liegt noch etwas über dem europäischen Schnitt und ziemlich deutlich über den Anteilen von Ländern wie Frankreich, Portugal und Griechenland.

Eine Arbeiterklasse gibt es also durchaus noch in Deutschland, ihr Anteil ist respektabel, verglichen mit dem verbliebenen Anhang der SPD. Sie ist, zusammen mit den Bauleuten, obendrein der Teil der Gesellschaft, der die größte Last der Wertschöpfung trägt und es überhaupt möglich macht, dass in Berlin Mitte ein Biotop von Berufspolitikern und sonstigen Staatsabhängigen blüht, die sich ihr Essen von den Pechvögeln mit der Foodorabox liefern lassen. Seinen Job als Smart City Manager bei der Stadt Wolfsburg verdankt Yannick Haan der Tatsache, dass nebenan die Bänder von VW laufen. Ob die VW-Arbeiter umgekehrt nicht ohne Smart City Manager auskommen würden, ist nicht so sicher. Jedenfalls ging es lange Zeit gut ohne.

Der Punkt ist, dass die zwar etwas diversere, aber auch überwiegend fleischessende, autofahrende und ungegendert sprechende Arbeiterklasse es im Wesentlichen aufgegeben hat, eine Partei zu wählen, deren Funktionäre sie kulturell verachten, die ihr das Dieselauto nehmen und die Autoindustrie zum Abbruch freigeben, weil sich bei den Yannick Haans und Kevin Kühnerts die Ansicht durchgesetzt hat, dass ein so reiches Land wie die Bundesrepublik gut und gerne wie Berlin Mitte plus einige Millionen Armutsmigranten leben kann. Jedenfalls eine Weile. Die führenden Kreise der SPD haben außerdem in den vergangenen Jahren daran mitgewirkt, Deutschland mit einer beeindruckenden Dichte von Windrädern, Genderlehrstühlen und Gegen-Rechts-Büros zu überziehen. Mit anderen Worten: Sie haben ihre schwindende politische Macht vor allem dazu genutzt, mit dem hauptsächlich in der Industrie erarbeiteten Steuergeld ein Milieu zu fördern, das hauptsächlich grün wählt.

Nun gibt es bei alledem auch eine soziale Pointe. Mechatroniker in Sindelfingen und Porsche-Monteure in Leipzig verdienen deutlich besser als viele, viele Mitglieder der strategiepapiererzeugenden Klasse in Berlin. Wer als Facharbeiter schafft, leistet sich oftmals ein Auto mit Verbrennungsmotor (oder zwei Autos), ein Haus, Urlaub, und zieht heteronormativ Kinder groß, während sich etliche Kosmopoliten in den zentralen Stadtbezirken Berlins von einem miserabel bezahlten Projekt zum anderen hangeln, weil sie es nicht auf einen steuergeldfinanzierten Premiumposten geschafft haben, und deshalb mit fünfunddreißig noch als Single in einer WG oder einer 40-Quadratmeter-Butze festhängen.

Der Mechatroniker kann sich also mit seinem Gehalt und dem Anteil seiner Klasse an der Wertschöpfung in Deutschland mit guten Gründen zur Elite zählen und auf das prekäre abgehängte ressentimentgesättigte Milieu in den zentralen Stadtbezirken der Hauptstadt ein wenig herabschauen.

Das hat Yannick Haan auch schon erkannt. Für das Problem, das allerdings nur er und seinesgleichen als Problem empfinden, präsentiert er in seinem Vergesst-die-Arbeiter-Manifest auch eine Lösung. Und die sieht so aus:

„Nehmen wir zum Beispiel die Wirtschaftspolitik. Eine radikale Verkürzung der Arbeitszeit, die an den Produktivitätszuwachs gekoppelt wird, […] würde die neuen Arbeiter (neu offenbar im Sinne von divers – d. A.) mit den Kosmopoliten versöhnen. In dem vorgeschlagenen Modell werden die Einkommen eingefroren, und jeder Produktivitätszuwachs führt automatisch zu einer Arbeitszeitverkürzung. So würde sich die Freiheit der Menschen erhöhen, und zusätzlich würde sich die Einkommensschere innerhalb der Gesellschaft langsam, aber sicher wieder schließen.“

Den Vorschlag des jungen Netz- und Medienkommissars lohnt es sich wirklich zweimal zu lesen. Ein Einfrieren der Einkommen bei Zwangsurlaub und gleichzeitiger Inflation wäre nichts anderes als eine beständige Lohnkürzung. Es braucht keine lange Erörterung, um festzustellen, dass sich dann die Arbeitseinkommen der Arbeitnehmer und die Kapitaleinkommen der Besitzer von Anlagevermögen erst Recht auseinanderbewegen würden. Aber es geht gar nicht um das relative Verhältnis zu den Privilegierteren. Der Witz besteht darin, dass ein Sozialdemokrat nichts anderes vorschlägt als eine Strafaktion gegen die verbliebene Arbeiterklasse.

Sein Motto heißt also nicht nur: Vergesst die Arbeiter, sondern: Enteignet die Arbeiter. Die Expropriation der Dieselfahrer kann nur ein Anfang sein. Damit, muss man sagen, stünde es vorübergehend Eins zu Null für die neue SPD. Die Arbeiter können sie nicht mehr durch Stimmentzug bestrafen, dieser Teil ist durch. Aber die Yannicks und Kevins können noch schnell die materielle und soziale Basis der Arbeiterklasse zusammen mit der führenden Partei der zentralen Stadtbezirke final ruinieren. Nun werden viele einwenden: Erstens ist die Kraft des Allgemeinen Deutschen Arbeiterbekämpfungsvereins mittlerweile sehr begrenzt, siehe oben. Und: So dumm wird es schon nicht kommen. Vor zehn Jahren hätten allerdings nur die wenigsten geglaubt, dass Deutschland aus der Kernenergie wie der Kohleverstromung aussteigen würde, und sich 2019 auch schon mit einem Bein aus der Autoindustrie herausgeschwungen hat. Und Politiker Schüler dazu animieren, freitags nicht zur Schule zu gehen. Vorangetrieben wurde und wird das alles durch sehr kleine, aber entschlossene politische Gruppen.

In weiteren fünfzehn bis zwanzig Jahren, das mag sein, wenn die Autos alle aus Fernost kommen, die Plattformökonomie aus Asien und Kalifornien und Häuser aus dem 3D-Drucker, könnte die Arbeiterklasse endgültig verschwinden. Dann käme auch der warme Steuerstrom zum Erliegen, wie es Bärbel Höhn kürzlich für den Golfstrom befürchtete, und es ginge das Biotop von Berlin Mitte sanglos ein. Was dort aufgrund der vorherrschenden ökonomischen Sonderbegabung erst zeitversetzt registriert würde. Wie Hildegard Knef sang: „Dass es gut war, wie es war, das weiß man hinterher / dass es schlecht ist, wie es ist, weiß man gleich“.

Mag also sein, dass die vergessene Klasse in die Grube fährt. Es wird nur keine SPD mehr da sein, um ihr den Kranz hinterherzuwerfen.


Der Beitrag von Alexander Wendt ist zuerst bei PUBLICO erschienen.

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