„Das therapeutische Kalifat – Meinungsdiktatur im Namen des Fortschritts“ heißt ein 2018 erschienenes Büchlein des Schweizer Schriftstellers Giuseppe Gracia. Der Ausdruck „therapeutisches Kalifat“ stammt vom Schweizer Philosophen Michael Rüegg, erklärt Gracia. Damit sei eine neue Art von Herrschaft gemeint. Und zwar durch eine „gewissermaßen sanfte Gesellschaftstherapie“ einer politisch-kulturellen Elite, welche die „christlichen Wurzeln des Abendlandes abschneidet und uns im Zuge der Globalisierung befreien möchte vom Hemmschuh veralteter religiöser, nationaler oder geschlechtlicher Idenditäten“. Im Namen des Kampfes gegen Intoleranz, Rassismus und Sexismus diene Westeuropa als „großes Therapiehaus“, „atheistisch und wirtschaftsgetrieben“. „Willkommen im therapeutischen Kalifat“ betitelte Rebecca Schönenbach von „Frauen für Freiheit“ jetzt ihre Podiumsdiskussion mit Gracia, Birgit Kelle und Ahmad Mansour im Berliner Ludwig-Erhard-Haus. Untertitel: „Podiumsgespräch über die Grenzen des Sagbaren“.
Seinem Büchlein hat Gracia übrigens ein amüsant-sarkastisches kleines Glossar angefügt. Darin heißt es etwa: „Populismus: Alle Aussagen und Forderungen im politischen Diskurs, bei denen die links-liberale Weltanschauung nicht dominiert“. „Islamophob: Jemand, der den Islam kritisch bewertet“. „Islam-Hasser: Jemand, der den Islam regelmäßig kritisch bewertet“. „Politische Korrektheit: Öffentliche Anstandsregel zur Unterdrückung aller nicht-linken Meinungsäußerungen“. „Sozialist: Guter Mensch, der mit Steuergeld großzügig umgeht“. „Sozialdemokrat: Sozialist mit gutem Einkommen und großer, preiswerter Altbauwohnung“. „Familie: Menschen, die aus demselben Kühlschrank essen“.
Rebecca Schönenbach stellte Birgit Kelle vor: „Sie neigt chronisch dazu, ihre Gedanken frei auszusprechen“. „Gendergaga“ hieß Kelles Buch aus dem Jahr 2015. „Als das Buch damals herauskam“, sagte Kelle, „hieß es, das sei polemisch und übertrieben. Doch es ist alles wahr und es wird noch schlimmer. Es war ein prophetisches Buch, das wusste ich damals gar nicht“. Tatsächlich haben gerade erst neue Vorgaben der Stadt Hannover den sprachlichen Genderwahn auf neue Höhen getrieben. „Redepult“ etwa soll man jetzt sagen und schreiben statt „Rednerpult“. Statt „Teilnehmerliste“ soll es „Teilnahmeliste“ heißen, statt „Wählerverzeichnis“ nunmehr „Wählendenverzeichnis“ und dergleichen Unfug mehr.
Man komme gar nicht mehr dazu, darüber zu sprechen, was wirklich wichtig ist, sagte Kelle: „Den meisten Frauen ist gendergerechte Sprache ziemlich egal. Das ist ein Luxusproblem von Frauen in elitären Kreisen. Auch die Vielfalt der Geschlechter ist ein Luxusproblem. Wenn wir morgen Krieg haben in Europa, gibt es noch genau zwei Geschlechter, Mann und Frau.“ Denn dann hätten wir andere Sorgen. „Das einzig Gute an der ganzen Genderdebatte ist, dass sie zeigt, dass es unserem Land phantastisch geht. Wir haben Zeit und Geld, um uns mit diesem Unsinn zu beschäftigen“, fügte Kelle hinzu. Doch so würden die wirklich nötigen Debatten verdeckt. „Zum Beispiel darüber, was heute die wirklichen Gefahren für Frauen in Europa sind. Da müssen wir leider ständig über den alten weißen Mann in diesem Land diskutieren. Ich möchte aber über den jungen schwarzen Mann sprechen. Und deswegen bin ich halt Rassistin“, sagte sie ironisch.
Der Integrationsexperte Ahmad Mansour ist arabischer Israeli, Muslim, Diplom-Psychologe und lebt seit 2004 in Berlin. 2015 erschien sein Buch „Generation Allah“, in dem er sich mit dem religiösen Extremismus befasst. 2018 folgte sein Buch „Klartext zur Integration – Gegen falsche Toleranz und Panikmache“. Mansour wendet sich gegen die Tabuisierung von Problemen. „Unter den Flüchtlingen gibt es auch Leute“, erklärte er auf der Podiumsdiskussion, „die diese Gesellschaft in Deutschland verachten. Verachten! Und wir sind nicht in der Lage, das klar zu benennen“. „Wir schaffen es nicht“, fügte er hinzu, „über Vergewaltigungen frei zu reden, über muslimischen Antisemitismus, über patriarchalische Strukturen.“
Sogenannte Ehrenmorde dürften nicht durch den Hinweis relativiert werden, dass es auch in der Mehrheitsgesellschaft Familiendramen gebe. „Wir müssen über die Ursachen reden. Solange wir bei diesen Relativierungen blieben, kommen wir nicht weiter, finden keine Lösungen und sind nicht in der Lage, pädagogische Konzepte zu entwickeln“, betonte er.
„Wir haben verlernt zu streiten“, erklärte er auch, „es wird ganz schnell polemisch, es wird ganz schnell gefährlich und es wird viel diffamiert. Entweder bist du auf meiner Seite, dann bist du der gute, der moralische, der bessere Mensch. Wenn du nicht auf meiner Seite bist, bist du kein guter Mensch, nicht moralisch und ganz schnell in den meisten Fällen in der rechten Ecke. Da wehre ich mich dagegen“. „Es kann nicht sein“, fügte Mansour hinzu, „dass dieselben, die Texte gendern, zugleich erklären, Kopftücher seien eine Art von Emanzipation und wir Burkas akzeptieren sollen“.
Immer wieder würden in Deutschland Frauen sterben, die hierher gekommen seien, weil sie sich „Freiheit vor ihren patriarchalischen Männern“ erhofft hätten. Doch man schütze diese Frauen nicht. In Deutschland sei man im angeblichen „Namen von Moral und Toleranz“ nicht in der Lage, darüber offen zu diskutieren. „Man kann nicht nur über gendergerechte Sprache reden und Frauen in Deutschland sterben lassen“, betonte Mansour.
Im letzten Dezember hatte die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli „Handlungsempfehlungen“ eines „Arbeitskreises Antisemitismus“ vorgestellt. In den Empfehlungen des Arbeitskreises wird zum Beispiel bezüglich der Medien empfohlen, es solle bei der „Entwicklung und Durchführung von Schulungen“ der „Sachverstand von zivilgesellschaftlichen Initiativen wie Mediendienst Integration und Neue Deutsche Medienmacher“ einbezogen werden. Die „Neuen Deutschen Medienmacher“ vergeben den Negativpreis „Goldene Kartoffel“. Dem Chebli- Arbeitskreis gehörten sechs Personen an, nicht jedoch der renommierte arabischstämmige Islamismus- und Antisemitismusexperte Ahmad Mansour. Dieser hatte sich nie gescheut, auch Fehler und Defizite in der Berliner Politik bezüglich Antsemitismus und Islamismus zu benennen. Auf die Frage aus dem Publikum bei der Podiumsdiskussion, ob man ihn nicht eingeladen hätte, in dem Arbeitskreis mitzuwirken, erklärte Mansour: „Nein, ich wurde nicht eingeladen. Und ich bin mir absolut sicher, dass das eine bewusste Entscheidung gewesen ist.“
Damit könne er leben. „Mein Problem ist jedoch, dass in solchen Arbeitsgruppen Leute dabei sind, die Antisemitismus mit Islamophobie gleichsetzen. Antisemitismus ist aber viel mehr als nur Rassismuserfahrung.“ In Berlin sei es jedoch gang und gäbe zu behaupten, Muslime seien nicht mehr antisemitisch, wenn Rassismus bekämpft werde. Antisemitismus habe jedoch neben dem Nahostkonflikt und Verschwörungstheorien auch viel mit religiösen Narrativen zu tun. Doch darüber zu sprechen, werde wieder als Störfaktor betrachtet. Man könne als Regierender Bürgermeister ein schönes Foto mit einem Imam machen lassen, vielleicht noch mit einer Frau mit Kopftuch dazu, und dabei erklären „Nie wieder Judenhass“. „Oder ich kann sagen“, erklärte Mansour, „wenn man Antisemitismus bekämpfen will, dann müssen wir auch über das Existenzrecht Israels sprechen. Wir müssen in der Lage sein, die heiligen Texte in ihrem lokalen historischen Kontext zu interpretieren, weil auch sie Antisemitismus produzieren. Aber das ist wieder etwas, das man vor allem in der Berliner Politik nicht hören will.“
Michael Leh studierte Geschichte und Politik in München und arbeitet heute als freier Journalist in Berlin.
Bilder: © Michael Leh