Die individuelle Interaktionsfähigkeit in der allzeit bereiten Smartphone-Welt scheint unsere Gesellschaft systematisch am Austausch von fundierten Informationen und Argumenten zu hindern. Denn die „Like“- oder „Dis-Like“-Funktion, der erhobene oder gesenkte Daumen, die dahingeklatschte Twitter- oder Facebook-Nachricht oder die fotografierten Spanner- oder Gaffermomente haben mit Interaktivität, mit persönlicher und direkter Auseinandersetzung nichts, mit vorurteilsbeladener Selbstbestätigung oder Selbstdarstellung aber sehr viel zu tun. Um Argumente geht es fast nie, um pauschale oder individuelle Diskreditierung dafür um so öfter. Die katastrophale Wirkung auf den Politikbetrieb lässt sich leicht studieren, wenn man die Twitter- oder FB-Profile der unterschiedlichsten Politiker aufruft. Sie stehen da meist dem gemeinen Social Media-Volk nur wenig nach. Insofern nötigt einem der Grüne Parteivorsitzende Robert Habeck fast schon Respekt ab, weil er sich – nach eigenen Missgriffen – von diesen Medien durch Abschalten befreit hat.
Dass parallel zum Netz-Infotainment der traditionelle Qualitätsjournalismus in die Krise geriet, belegen nicht nur die seit Jahren massiv sinkenden Auflagen fast aller Printmedien. Im kostenfreien Netz fühlt sich vor allem die junge Generation ausreichend informiert. Schlagzeilen genügen, ein vorschnelles Meinungsurteil ersetzt die für die ernsthafte Meinungsbildung unabdingbare Abwägung von Fakten. So wie heute noch jede normale Wetterlage – Im Winter schneit es, gelegentlich auch viel! Im Sommer ist es heiß, gelegentlich auch extrem! – in apokalyptischen Bildern mündet, so reißerisch und oberflächlich, so bar jeder Vernunft reagieren Politik und Gesellschaft bei fundamentalen Weichenstellungen.
Die deutsche Energiewende verkörpert für mich beispielhaft alle nur denkbaren Irrationalitäten und Absurditäten. Der aktuelle Beschluss der Kohlekommission, die einen Ausstieg aus der Braunkohleverstromung bis zum Jahr 2038 vorsieht, wird von Peter Altmaier (CDU), Andrea Nahles (SPD) und Annalena Baerbock (Grüne) gelobt. Von den gigantischen Kosten sprechen die Spitzenpolitiker nicht, die sie mit diesem Ausstieg Verbrauchern und Steuerzahlern zumuten werden. Auch nicht von den Risiken für die Versorgungssicherheit. Dabei ist die Kohle ohnehin ein Auslaufmodell, weil sie aus Kostengründen spätestens Mitte der Vierziger Jahre als fossiler Energieträger erledigt ist. Für einen um wenige Jahre vorgezogenen Ausstieg werden weitere hundert Milliarden Euro an Kosten fällig – Strukturhilfen für die betroffenen Bundesländer etwa, Entschädigungen für die Energiekonzerne oder Vorruhestandsregelungen respektive Umschulungskosten für die Beschäftigten.
Dabei hat man bei diesem Ausstiegsszenario ein Déjà-vu-Erlebnis. Denn das erlebte die Republik mit ihrer „Klimakanzlerin“ Angela Merkel bereits beim abrupten Ausstieg aus der Atomenergie. Erst verlängerten Union und FDP im Herbst vor Fukushima die von Rot und Grün mit der Energiewirtschaft einvernehmlich ausgehandelten Laufzeiten, dann stiegen sie fast schlagartig schnellstmöglich aus. Auch diese teure Volte kostete Entschädigungen für die AKW-Betreiber. Sie vor allem ist dafür verantwortlich, dass der Grundlaststrom in Deutschland inzwischen zu einem Viertel aus Braunkohlekraftwerken stammt, dem schmutzigsten fossilen Energieträger. Das liegt auch am starken Aufwuchs der regenerativen Energieträger Photovoltaik und Windstrom, die laut Energieeinspeisegesetz (EEG) vorrangig ins Netz eingespeist und bezahlt werden müssen. Doch weil sowohl große Speichermedien fehlen als auch die Leitungsnetze, die den Windstrom aus dem Norden ins energiehungrige Süddeutschland leiten, produziert Deutschland zwar vielen teuren Ökostrom, aber manchmal zuviel und am falschen Ort. Deshalb müssen permanent für teures Geld die Netze durch Zu- und Abschalten von Anlagen geregelt werden, um einen Blackout zu verhindern. Auch nachts und in windschwachen Zeiten muss der teure, aber fehlende Ökostrom durch billigen, aber schmutzigen Braunkohlestrom substituiert werden.
Diese fatale deutsche Energiewende-Perversion lässt sich auch an der Klimabilanz der vier Angela Merkel-Regierungen seit 2005 ablesen. Obwohl sich der Ökostromanteil in diesen bald 14 Jahren von 20 auf rund 40 Prozent verdoppelt hat, ist der Kohlendioxid-Ausstoß im Land nur marginal gesunken. Dabei gibt es mit dem CO2-Emissionszertifikatehandel ein marktwirtschaftliches Instrument der EU-weiten Steuerung. Doch weil zunächst zuviel Zertifikate, noch dazu kostenfrei, ausgegeben wurden, sind die Kosten für eine Tonne ersparten CO2-Ausstoßes nach wie vor deutlich zu niedrig. Zwar verdoppelte sich der Preis im vergangenen Jahr auf rund 18 Euro im Jahresmittel. Doch für die billigen Braunkohlekraftwerke ist das locker zu schultern. Zum Vergleich: Eine durch Photovoltaik-Strom vermiedene Tonne CO2 kostet uns in Deutschland 415 Euro, eine durch Windanlagen an Land ersparte Tonne 106 Euro. Würden die Preise für CO2-Emissionszertifikate steigen, wären die ökologischen Effekte viel größer – und zwar zu viel günstigeren Kosten als bei der aktuellen deutschen Energiewende-Praxis.
In Großbritannien hat die Politik die Emissionszertifikate übrigens bereits vor sieben Jahren deutlich erhöht, auf heute rund 30 Euro pro Tonne. Das Ergebnis spricht für sich: Der CO2-Ausstoss aus der Kohleverstromung sank dort in derselben Zeit von 40 Prozent auf rund 8 Prozent.