Tichys Einblick
Qualifizierte wandern aus, wenig Qualifizierte ein

Die bi-kulturelle Gesellschaft

Im Ergebnis befindet sich Westeuropa heute auf dem Weg in eine bikulturelle Gesellschaft. Die Illusion Multikulti war gestern, die homogene Gesellschaft vorgestern. Ein Gastbeitrag von Barbara Köster.

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Der Umgang mit der Integration ist im Westen eine der wichtigsten Fragen der Gegenwart. Wird sie nicht endlich in angemessener Weise bearbeitet, sehen Deutschland und andere Länder Europas einer Zukunft mit einer ethnisch und religiös gespaltenen Bevölkerung entgegen. Die europäischen Eliten erkennen nun erst den Ernst der Lage. Zu lange war Integrationspolitik gekennzeichnet durch Wunschdenken, Opportunismus, Tabuisierung, Verharmlosung und Verdächtigung. Im Ergebnis befindet sich Westeuropa heute auf dem Weg in eine bikulturelle Gesellschaft. Multikulti war gestern. In einigen schwedischen Städten hat sich in einer Generation ein 40%-Anteil von Muslimen aufgebaut. Sie sind nun semi-muslimische Kommunen. Der innere Frieden der bikulturellen Gesellschaften hat keine gute Prognose.

Europa war immer Auswanderungsland

Es begann alles mit einer Übereinkunft von Politik und Wirtschaft in goldenen Zeiten, als Vollbeschäftigung in Deutschland herrschte, und die Wirtschaft vor der Alternative stand, die Löhne weiter erhöhen zu müssen oder neue Arbeitskräfte ins Land zu holen, um sie senken zu können. Man entschied sich für Letzteres, auch weil man glaubte, es sei im außenpolitischen Interesse, und gab dem Drängen der Entsendeländer nach, das gerade im Falle der Türkei besonders stark war. Es war der Auftakt zu einer demographischen Revolution, die offiziell nicht stattfand. Bis zum Ende der Kohl-Regierung 1998 lautete das Mantra „Deutschland ist kein Einwanderungsland“. Trotz dieser Wegseh-Politik gab es selbstverständlich Einwanderung.

Nach dem Wechsel zu Rot/Grün richtete sich der Blick auf die „gelungene Integration“. Migration, die vorher nicht sein durfte, gab es nun doch, und war zudem ohne jedes Zutun der Politik wundersam erfolgreich. Es galt das neue Mantra der „Bereicherung durch Immigration“, die die Gesellschaft „offener“ machen würde. Deutschland war einmal ziemlich homogen. In den Jahren des wirtschaftlichen Wiedererstarkens prägte der Soziologie Helmut Schelsky das Wort von der „formierten Mittelstandsgesellschaft“. Dieses ferne Idyll ist in Heinz-Erhard-Filmen zu besichtigen. Deutschland war auch ganz selbstverständlich eine Solidargemeinschaft. Die ist es auch heute noch, aber nicht mehr selbstverständlich. Solidarität und Homogenität hängen zusammen. Je heterogener eine Gesellschaft, desto geringer die Solidaritätsbereitschaft. Gerade klassische Einwanderungsländer verhalten sich gegenüber den Neuzugängen neutral. Sie warten ab, was diese einbringen und zeigen von sich aus kein Entgegenkommen außer dem formalen Angebot, Erfolg haben zu können.

Die Sprachregelung „Bereicherung durch Zuwanderung“ ist von der Merkel-Regierung übernommen und in den letzten Monaten durch entsprechendes  Handeln bekräftigt und auf die Spitze getrieben worden. Die dabei bewirkten Rechtsbrüche haben die Nation bis ins Mark getroffen und Europa zerrüttet. Die EU steht als Mixtur aus Uneinigkeit, Unfähigkeit und Ohnmacht da.

Deutschland hatte keine Erfahrung mit Masseneinwanderung. Ganz Europa hatte dies nicht gekannt, Europa war immer Auswanderungsland. Die Integration bisheriger Migranten kann auch darum nicht als geglückt bezeichnet werden. Nun sieht es sich zusätzlich mit einer bisher unvorstellbar hohen Zahl von Einwanderern und der daraus folgenden Kettenmigration – einer zieht den anderen nach – konfrontiert, die schwer zu unterbrechen ist. Hier muss der Staat zur Einsicht gelangen, dass Immigration nicht grundsätzlich unabwendbar ist. Die Agenda liegt bei der Einwanderungsgesellschaft. Ein demokratischer Staat verliert nicht an Legitimität, wenn er Zuwanderung begrenzt. Es gibt kein einseitiges Recht auf Immigration und keine rechtliche Privilegierung eines Bi- oder Multikulturalismus’.

Der innere Frieden hat nun Priorität. Die Situation ist nicht einfach. Die Sorge vor zu viel Einwanderung ist rational und legitim. Sie entspricht soziologischer, psychologischer und nicht zuletzt politischer Vernunft. Immigration und Massenimmigration ist nicht dasselbe. Fremde Gruppen, die eine bestimmte Größe überschreiten, sind kaum mehr zu integrieren, sondern bauen eigene Strukturen auf. Die bi-kulturelle Gesellschaft entsteht.

Durch Migration hat in den letzten Jahrzehnten bereits eine massive Unterschichtung stattgefunden, die durch die neue Einwanderungswelle verstärkt wird. Nach Deutschland und Europa wanderten und wandern überwiegend Unterschichtangehörige aus anderen Ländern ein. Für die Türkei war die deutsche Politik die Erhörung ihrer Gebete zur Lösung ihres Arbeitslosenproblems, die Remissen eine sprudelnde Quelle harter Devisen. Die vielen zumeist ungebildeten Menschen brachten einen bildungsfernen, wenig weltoffenen Lebensstil mit ins Land. Etliche lehnen eine aufgeklärte, offene Gesellschaft ab und wollen ihre vormoderne, teilweise archaische Lebensform hier weiterführen. Sie bauen sich ihr Dorf in einer europäischen Stadt neu auf. Über die Satellitenschüssel kommt nicht nur die Welt, sondern auch die Provinz ins Wohnzimmer.

Wer kommt, wer geht?

Der Einwanderung von Unqualifizierten steht inzwischen eine Auswanderung von Qualifizierten gegenüber. Die obere Gesellschaftsschicht schottet sich ab und schickt ihre Kinder auf britische Public Schools. Die Unterschicht ist zum großen Teil ins Prekariat abgedrängt, die Mittelschicht fühlt sich von sozialer Unsicherheit bedroht. Masseneinwanderung hat dazu beigetragen, dass gesellschaftliche Bindungen gelockert und Verantwortungsbewusstsein für das Gemeinwohl geschwunden sind. Ob Deutschland wirklich offener geworden ist und noch wird, ist fraglich.

Der Bevölkerungswandel ist ein anrüchiges Thema. Migrationsforschung wird moralisch aufgeladen, Demographieforschung ist dubios. Es könnte ja dabei herauskommen, dass in absehbarer Zeit viele Stadtteile oder sogar ganze Städte mehrheitlich muslimisch sein werden. Und dann würde sich zeigen, dass muslimische Areale nicht selbstverständlich mehr auch die der Alteingesessenen sind. Massenpräsenz von Einwanderern in europäischen Städten bedeutet nicht unbedingt Bereicherung und Erweiterung, sondern eher eine Einschränkung für die angestammte Bevölkerung. Wenn aus einem früheren Arbeiterstadtteil eine ethnische Enklave wird, ziehen sich die ehemaligen Bewohner zurück. Einige Stadtteile in London, Bradford, Malmö, Göteborg, Brüssel, Duisburg sind praktisch abgetreten. Sie sind kolonisiert. Immigranten können zu Kolonisten werden. Sie wollen nicht Teil der Gesellschaft sein, die sie aufgenommen hat, und deren Regeln übernehmen, sondern ihre eigene mit anderen Regeln auf bereinigtem Territorium aufbauen.

Christopher Caldwell schreibt in seinem Buch „Reflections on the Revolution in Europe“ aus dem Jahre 2010: „Ethnische Gruppen an Europa anzupassen, heißt nicht, etwas zu dem hinzuzufügen, was es in Europa bereits gibt. Es bedeutet zu verändern, was Europa hat. Immigration passt schlecht zum Wohlfahrtsstaat, der ein Eckstein  europäischer Identität seit dem 2. Weltkrieg ist. Sie verkompliziert die Anstrengungen, eine Europäische Union zu errichten. Der Islam, zu dem sich ungefähr die Hälfte aller Neuankömmlinge bekennt, fühlt sich unwohl mit der europäischen Tradition des Säkularismus’. Es wäre arrogant, von vornherein zu unterstellen, im Kampf zwischen diesen beiden hätte der Säkuralismus die besseren Karten. Die spirituelle Oberflächlichkeit, den muslimische Einwanderer im Westen wahrnehmen, ist keine Einbildung. Vermutlich wird es Europas größte Pflicht sein, seine Kultur zu erhalten.“ (S. 22, Übersetzung BK)

Enklavenkultur

Einem Teil des politischen Spektrums ist die Arbeiterklasse als historisches Subjekt und Objekt der Betreuung abhanden gekommen. Ihren Platz nehmen nun die Muslime ein. Die Fehleinschätzung deren Lebenswelten und Mentalitäten nimmt ähnlich groteske Formen an wie weiland im Falle der Arbeiterschaft. Alte Themen müssen wieder neu buchstabiert werden: Frauenemanzipation, Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, etc. Die islamischen Grundlinien zu diesen Fragen bewegen sich im vormodernen Bereich und werfen eine Gesellschaft, die im Diskurs schon viel weiter war, zurück auf Anfang. Zur Wiederaufnahme des Streits um längst abgeschnitten geglaubte alte Zöpfe ist man aber in weiten Teilen der Bevölkerung zu alt, zu müde und zu zermürbt.

Für Muslime steht fest, dass Ungläubige den Islam annehmen, wenn sie nur mit ihm bekannt gemacht werden. Natürlich geschieht dies nicht, und aufgeklärte Geister finden alleine die Vorstellung von spontaner Bekehrung auf Zuruf belustigend. Andererseits gehen diese aufgeklärten Geister davon aus, dass Muslime, bekannt gemacht mit westlichen Werten wie Freiheit, Demokratie, Individualismus und Selbstverwirklichung, sich diesen zuwenden und sich von religiösen Traditionen lösen würden. Diese Vorstellung hat sich ebenfalls als naiv herausgestellt. Genauso blauäugig ist die Rede von Bildung und Erziehung als Integrationsbeschleunigern. Das kann funktionieren, muss aber nicht. Der Islam ist selbstverständlich auch ein Erziehungssystem nach eigenen Regeln, und auch Islamisten setzen auf Erziehung.

Man muss in Betracht ziehen, dass die muslimischen Ethnien in Europa auf Wachstum und Separierung angelegt sind. Die Strategie religiöser Führer zielt darauf ab, in Europa „muslimische Inseln“ zu schaffen. So bildet der Islam eine „Enklavenkultur“. (Mary Douglas) Erziehungsziel ist die Einfügung und Einordnung in die muslimische Gemeinschaft, nicht die Integration in eine westliche Gesellschaft.

Gastautorin Barbara Köster hat Soziologie und Politikwissenschaften studiert.

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