Deutschlands gefühlt immer noch wichtigstes Nachrichtenmagazin, der nach dem Krieg von Rudolf Augstein gegründete „Der Spiegel“, befindet sich in der ärgsten Krise seiner Existenz. Sie macht sich nicht nur an dem „Fall Relotius“ fest. Ich schrieb es bereits: Das ist nur der Höhepunkt einer stetigen Entwicklung weg von der sachlichen Beschreibung des Seins dieser Welt hin zu einer schwülstig-literarischen Herschreibung des Scheins dieser Welt als dem, was die Redaktion gern hätte.
Ab Januar ein neuer Mann am Ruder
In dieser Situation der Sinnkrise, aus der schnell eine Existenzkrise werden kann, übernimmt mit Steffen Klusmann am 1. Januar 2019 ein neuer Mann das Ruder. Und sorgte bereits im Dezember dafür, einen bereits platzierten Mitakteur in der Chefredaktion auf Eis zu legen. Der Fall Relotius spielte Klusmann dabei exzellent in die Karten. Denn jener Ullrich Fichtner, der nicht nur unmittelbarer Vorgesetzter und Förderer des Märchenerzählers Claas Relotius war, sondern mit seiner Eloge auf den schmachvoll Entsorgten sowohl seine stille Bewunderung für den Geschassten als auch seine Unfähigkeit, vom literarischen Schwulst zur Sachberichterstattung zurück zu kehren, unter Beweis gestellt hatte, lässt seinen Vertrag ruhen. Kaum zu erwarten, dass er an die Spitze zurückkehren wird – zu eng ist durch die Unfähigkeit, das Gewünschte vom Tatsächlichen zu unterscheiden, seine Verwicklung in die Affäre. Die dritte an Bord, Barbara Hans, war bislang für den Online-Autritt verantwortlich und befindet sich in Mutterschutz. Wann sie wieder einsteigt, ist derzeit offen – ebenso wie die Frage, ob sie es angesichts der aktuellen Verwerfungen nicht ohnehin vorziehen wird, sich anderweitig zu orientieren.
Ist Klusmann eine Chance?
Somit wird – für den Spiegel ungewöhnlich – erst einmal nur Klusmann am Steuer stehen. Das könnte für das Magazin eine Chance sein. Könnte. Denn ob Klusmann tatsächlich in der Lage sein wird, aus dem gefühlten Märchenbuch wieder ein Nachrichtenmagazin zu machen, darf in Frage gestellt werden. Nicht nur die ausgeprägte Mitbestimmung der zahlreichen, ebenfalls relotierenden Mitarbeiter des Verlagshauses lassen daran Zweifel aufkommen – auch die Vita des „Neuen“ erfordert Fragen.
Klusmann ist alles andere als ein Spiegel-Gewächs. Darin liegen Gefahr und Hoffnung zugleich. Denn es bedeutet: Er schwimmt in der verschworenen Gemeinde der Spiegelianer wie ein Korken auf dem Wasser. Jeder Versuch, das Ruder auf dem Kahn der Weltverbesserer herumzureißen, wird trotz der Relotius-Erschütterungen zumindest den stillen Widerstand der Mannschaft provozieren. Und – wie es der Spiegel in der Vergangenheit wiederholt gezeigt hat – im Ernstfall auch den offenen. Denn die sich als Creme des deutschen Journalismus empfindende Mannschaft hat Erfahrungen damit, unerwünschte Fremdkörper auflaufen zu lassen.
Doch es ist auch die Person Klusmann selbst, die nur wenig zum Konzept des „Spiegels“ passen will: Der Mann hat mit dem Reportage-geschwängerten Schrifttum des Magazins keinerlei Erfahrung.
Klusmanns Einstieg in das Mediengeschäft erfolgte über ein Voluntariat bei der Georg-von-Holtzbrinck-Schule für Wirtschaftsjournalisten, von wo aus er als Redakteur zur hauseigenen „Wirtschaftswoche“ ging. 1996 wechselte er zum „Manager Magazin“ der „Spiegel“-Gruppe mit Schwerpunkt Technologieentwicklungen.
In der Gründungsphase dieses ab 2008 ausschließlich im Besitz von Gruner+Jahr befindlichen Projektes, ging er 1999 zur „Financial Times Deutschland“ (FTD), dort zuständig für Hintergrundberichte und Kommentare. Nach einer kurzen Rückkehr zum „Manager Magazin“ in der Position des stellvertretenden Chefredakteurs wurde er 2004 Chefredakteur der FTD.
Bei G+J avancierte er 2008 zum Leiter des Chefredakteursgremiums der nun gemeinsam geführten Redaktion der vier Wirtschaftsmagazine des Verlages. Innerhalb des Verlagshauses G+J folgte im März 2013 nach dem Ende der FTD ein Ausflug zur seit den Hitler-Tagebüchern um ihr Renommee gebrachten Illustrierten “Stern“ – um bereits im November wieder beim „Manager Magazin“ anzudocken – dieses Mal als Chefredakteur. Dort hielt es ihn bis August 2018, als er zum „Spiegel“ wechselte, wo er ab Januar 2019 dem Chefredakteurskollektiv angehören sollte.
Klusmann ist kein „Spiegel“-Mann
Klusmanns Lebenslauf macht deutlich: Er ist ausgewiesener Wirtschaftsredakteur. Weder das tagesaktuelle Nachrichtengeschäft noch die klassischen Aufgaben in der unterhaltenden Magazinbranche gehören zu seinen ausgewiesenen Qualitäten.
Insofern schien die Kombination mit Fichtner als dem Chef der Reporter-Literaten und der Sozialwissenschaftlerin Hans durchaus Sinn zu machen, das schwankende Schiff in etwas wirtschafts-nähere Gewässer zu lenken, ohne die fest etablierte Leserschaft der rotgrünen Wirklichkeitsentrückten zu gefährden. Klusmann schien zumindest hier zu passen: Immerhin hatte unter ihm die FTD im Jahr 2009 zwei Wahlempfehlungen ausgesprochen, die den gefühlten Mainstream bedienten. Bei der Wahl zum Europaparlament sollte die in der Wirtschaft verankerte Leserschaft der FTD ausgerechnet die wirtschaftsfeindlichen Grünen wählen – bei der Bundestagswahl traditionell die Union, jedoch unter deutlichem Hinweis auf eine schwarz-grüne Regierungskoalition.
Woher will der „Spiegel“ neue Leser nehmen?
Klusmann ist eindeutig Wirtschafts-lastig mit grün-visionärer Schlagseite. Ob dieses reichen wird, für den „Spiegel“ neue Leserkreise zu erreichen, darf jedoch umso mehr angezweifelt werden, als dass dieses Klientel ohnehin heute schon das Fundament des Magazins stellt.
Das ständige Bemühen der Grünen und ihrer NGO-Verbündeten, die deutschen Schlüsselindustrien zu beschädigen, haben jedoch längst im verantwortungsbewussten Management zu einem Umdenken geführt. Grün wird hier zunehmend weniger sexy.
Klusmann befindet sich daher in einer inhaltlichen Zwickmühle: Bedient er die leistungsorientierte Wirtschaftsklientel, verliert er die grünen Utopisten. Bedient er weiterhin die Utopisten, wird der Niedergang nicht aufzuhalten sein.
Was Klusmann vor allem fehlt, ist die Erfahrung mit jenem Gefühligkeitsjournalismus, wie ihn „Spiegel“, „Stern“ und andere Unterhaltungsmedien pflegen. Die wenigen Monate bei der G+J-Konkurrenz dienten hier bestenfalls als Praktikum.
Doch es ist nicht nur Klusmanns Schwerpunktfähigkeit, die seine Position als gegenwärtiger Alleinherrscher des „Spiegels“ fragwürdig werden lassen. Schaut man sich den Lebenslauf genauer an, so zeigen sich verblüffende Ähnlichkeiten mit jenem humorlosen Menschen, der auf dem SPD-Ticket drei Großunternehmen führen durfte, die nach seiner Demission als kaum noch zu rettende Sanierungsfälle in die Schlagzeilen gerieten. In dieser Reihenfolge waren es Deutsche Bahn AG, Air Berlin und Flughafen Berlin-Brandenburg.
Klusmanns Bilanz liest sich ähnlich:
- Die FTD führt er ins Aus: Am 7. Dezember 2012 erschien die letzte Ausgabe – rund 300 Mitarbeiter verloren ihren Arbeitsplatz.
- Zeitgleich musste G+J die ebenfalls unter Klusmanns Chefredaktion geführten Projekte „Börse-Online“ an den Münchner „Finanzen Verlag“ verkaufen und das Unternehmermagazin „Impulse“ im Zuge eines Management-Buy-Outs aus dem Verlag nehmen.
- Die Verkaufsauflage des „Capital“ sank unter Klusmann auf 160.000 Exemplare. Heute verharrt das Heft bei einem historischen Tiefststand von knapp 130.000 Exemplaren. Einstmals Flaggschiff unter den Wirtschaftsmagazinen, verlor das 1962 gegründete G+J-Projekt seit 1998 die Hälfte seiner Auflage.
- Das „Manager Magazin” steht mit Klusmanns Ausstieg gerade einmal noch bei rund 100.000 Exemplaren Verkaufsauflage. Tendenz: Kontinuierlich fallend.
Der Riese wankt
Ohnehin haben es die gedruckten Magazine angesichts der Online- und TV-Konkurrenz schwer. So ist die Zukunft der zur „Spiegel“-Gruppe gehörenden „manager magazin news media GmbH“ ebenfalls offen. Denn ähnlich dem „Spiegel“ selbst stellen die sinkenden Verkaufszahlen und die zunehmend auf Online-Angebote abwandernden Anzeigenkunden das längerfristige Aufrechterhalten dieses als „Capital“-Konkurrenz gedachten Magazins in Frage.
Klusmann könnte insofern nicht zuletzt auf Grund der von ihm nicht zu verantwortenden Relotius-Turbulenzen durchaus vom Hoffnungsträger zum Abwickler des „Spiegel“ avancieren. Dessen wirtschaftliche Situation steht seit geraumer Zeit auf eher tönernen Füßen. So sanken die Jahreseinnahmen der Spiegel Verlag Rudolf Augstein GmbH aus dem Anzeigengeschäft im Jahr 2017 bei einem Gesamtumsatz von 269 Millionen Euro auf nur noch knapp 96 Millionen. Und nicht nur die rund 600 „Spiegel“-Mitarbeiter wollen am Monatsende ihre Gehälter auf dem Konto haben.
Vom Macher zum Abwickler?
Will Klusmann nicht an die Misserfolge seiner früheren Chefredakteurstätigkeiten anknüpfen, wird er sich einiges einfallen lassen müssen. Und dabei aller Voraussicht nach auf den massiven Widerstand aus dem eigenen Hause stoßen zumindest dann, wenn er aus dem Märchenblatt wieder ein echtes Nachrichtenmagazin machen will. Denn das bedeutet zu allererst, den sachfremden Erzählstil der als Reportagen getarnten Geschichten zu überwinden. Der jedoch ist den „Spiegel“-Mitarbeitern derart fest implantiert, dass eine freiwillige Überwindung kaum vorstellbar scheint.
Hinzu kommt: Wie aus Kreisen der renommierteren Spiegel-Redakteure zu hören ist, strecken die ersten bereits die Fühler nach anderen Aufgaben und Auftraggebern aus. Es ballt sich der Frust über die Entwicklung des Blattes, zu dem der Fall Relotius den letzten Impuls gegeben hat.
Verliert das Verlagshaus in der Hamburger Hafencity nun auch noch seine letztverbliebenen Mitarbeiter mit sachorientierter Redakteurskompetenz und bleibt es statt dessen auf dem über Jahrzehnte selbst gezüchteten Ballast der in sich selbst ruhenden Reportageliteraten hängen, dürfte Klusmann abschließend auf verlorenem Posten stehen. Zu empfehlen wäre ihm jetzt bereits, mindestens ein Viertel seiner Schreiber durch qualifizierte Redakteure zu ersetzen. Machbar sein wird das jedoch nicht – dagegen stehen allein schon Unternehmensstruktur und die unbezahlbaren Abfindungen.
Insofern bedürfte es schon eines Herkules, um in dieser neuen Aufgabe erfolgreich sein zu können. Bei seinen früheren Jobs hatte sich Klusmann als ein solcher nicht erwiesen. Ob ihm der Fall Relotius die Möglichkeiten und die Kraft gibt, seine bisherige Negativbilanz umzukehren, bleibt umso mehr abzuwarten, als die Spiegel-Mitarbeiter KG nach wie vor 50,5 % der Unternehmensanteile hält – ein Ei, das „Spiegel“-Gründer Augstein jedem seiner Nachfolger ins Nest gelegt hatte und das eine Überwindung eingespielter Rituale fast unmöglich macht.
Für Minderheits-Eigner Gruner+Jahr mit 25,5 % und dem G+J-Mann an der neuen Spitze des Blattes könnte sich insofern bald die Frage stellen, ob nicht ein Ende des „Spiegels“ jene Marktpotentiale freigeben könnte, die ohne die Mitarbeiter-Fessel neue Möglichkeiten eröffnen, mit einen gut durchdachten Produkt die Nachfolge des an sich selbst zu scheitern drohenden Nachkriegsprojekts anzutreten.