Tichys Einblick

Merkels Neujahrsansprache: Anspruch und Wirklichkeit

Wir dokumentieren - wie im vergangenen Jahr - die Neujahrsansprache von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Wiederum kommentiert von Rainer Zitelmann.

John MacDougall/AFP/Getty Images

„Ich weiß, viele von Ihnen haben sehr mit der Bundesregierung gehadert. Erst haben wir lange gebraucht, um überhaupt eine Regierung zu bilden, und als wir sie hatten, da gab es Streit und viel Beschäftigung mit uns selbst.“

Nein, Frau Merkel, dass es so lange gedauert hat, eine Regierung zu bilden, war nicht das Problem. Mit einer eingeschränkt handlungsfähigen Regierung lebte es sich sogar besser, weil in dieser Zeit wenigstens keine unsinnigen Gesetze beschlossen wurden. Ebenso wenig war Ihr Streit mit Horst Seehofer das große Problem. Nein, das Problem ist der Inhalt Ihrer Politik. Sie haben vor einem Jahr beispielsweise fest versprochen, dass künftig abgelehnte Asylbewerber konsequent abgeschoben werden – und dieses Versprechen wiederum gebrochen. Besonders schlimm ist das für Opfer schwerer Straftaten und deren Angehörige, wenn diese Verbrechen von Personen begangen wurden, die eigentlich längst hätten abgeschoben werden sollen. Sie haben schon vor Jahren versprochen, die Digitalisierung voranzutreiben – nichts ist geschehen. Sie haben Deutschland in Europa weitgehend isoliert. Und Sie sind verantwortlich dafür, dass in Deutschland eine Industrie nach der anderen planwirtschaftlich deformiert wird – angefangen hat es mit der Energieindustrie; und dieses Jahr haben Sie mit den Grünen und der SPD gewetteifert, wie man die deutsche Autoindustrie am besten gängeln kann. Ich erinnere an Ihre absurde Plan-Vorgabe, dass bis zum Jahr 2020 eine Million Elektroautos in Deutschland zugelassen sein sollten. Dass sind die Probleme – nicht die Verspätung bei der Regierungsbildung und Ihr Disput mit Horst Seehofer.

„Es ist mein Verständnis als Bundeskanzlerin, dass unsere Demokratie von der mehrheitlich getragenen Übereinkunft lebt, dass ihre Staatsdiener alles in ihrer Macht Stehende für den inneren Frieden und den Zusammenhalt unseres Landes tun. Dass sie sich immer wieder prüfen, was sie auch ganz persönlich dazu beitragen können. Das habe ich getan. Und zwar auch unabhängig davon, wie unbefriedigend das vergangene Jahr war, weil ganz grundsätzlich 13 Jahre Amtszeit als Bundeskanzlerin dafür allemal Grund genug sind.“

„The same procedure as every year“
Merkels vierzehnte Neujahrsansprache - Botschaften aus dem Raumschiff
So, Frau Merkel, Sie haben sich geprüft, ob Sie „alles in ihrer Macht Stehende für den inneren Frieden und den Zusammenhalt unseres Landes“ getan haben. Politisch ist nicht nur Europa, sondern auch unser Land zerrissen wie seit Jahrzehnten nicht. Die Ursache ist Ihre Politik, vor allem die grenzenlose Willkommenskultur. Eine wirklich selbstkritische Prüfung könnte gar nicht zu einem anderen Ergebnis kommen. Und nicht nur das vergangene Jahr war „unbefriedigend“, wie Sie selbst einräumen, sondern mit Ihrer großen Fehlentscheidung des Jahres 2015 haben Sie zur Spaltung unseres Landes so viel beigetragen wie kein Bundeskanzler in der Geschichte unserer Republik. Ganz nebenbei haben Sie Ihre eigene Partei zugrunde gerichtet und sind verantwortlich für Entstehung und Erstarkung der AfD.

„So habe ich Ende Oktober einen Neubeginn eingeleitet und gesagt, dass ich nach Ende dieser Legislaturperiode keine politischen Ämter mehr ausüben werde.“

Sie haben gemerkt, dass immer mehr Wähler Sie nicht mehr wollen. Sie wurden durch den verheerenden Ausgang mehrerer Wahlen für Ihre Partei gezwungen, Ihr Amt als CDU-Vorsitzende abzugeben. Aber das Problem ist nicht, dass Sie CDU-Vorsitzende sind, sondern, dass Sie Bundeskanzlerin sind. Wie es Christian Lindner so schön formulierte: Sie sind vom falschen Amt zurückgetreten. Dass Sie noch zwei Jahre als Kanzlerin weitermachen wollen, ist kein Trost, sondern wird von vielen Bürgern dieses Landes als Drohung empfunden. Den Einzigen, denen Sie damit einen Gefallen getan haben, sind die SPD (die sich vor Neuwahlen fürchten muss) und der AfD, deren Vorsitzender Sie bekanntlich als „Überlebensgarantie“ für seine Partei bezeichnet hat.

„Die Demokratie lebt vom Wechsel, und wir alle stehen in der Zeit. Wir bauen auf dem auf, was unsere Vorgänger uns überlassen haben, und gestalten in der Gegenwart für die, die nach uns kommen.“

Das ist der bisher absurdeste Satz in Ihrer Rede: Sie gestalten für „die, die nach uns kommen“. Reformen, wie sie Gerhard Schröder durchgeführt hat, waren bei Ihnen Fehlanzeige. In einer Zeit, in der die Steuereinnahmen so hoch waren wie niemals zuvor in der Geschichte und die Zinsausgaben aufgrund der Nullzinspolitik der EZB so niedrig wie noch nie, haben Sie es nicht geschafft, die Schulden auch nur minimal zurückzuführen. Stattdessen ist Ihr Sozialhaushalt auf fast 1 000 000 000 000 Euro explodiert, was fast 30 Prozent der Wirtschaftsleistung entspricht. Die Infrastruktur in Deutschland ist in einem immer schlechteren Zustand – wir leben von unserer Substanz. Gleichzeitig haben Sie mehrere Zeitbomben gelegt: Die Euro-Rettungspolitik und die daraus resultierenden Target 2-Verbindlichkeiten in Höhe von 956 000 000 000 Euro sind ein Risiko für die Zukunft, vor dem führende Ökonomen eindringlich warnen. Ihre Politik der grenzenlosen Willkommenskultur hat bereits zu Problemen in unserem Land geführt, die jedoch erst begonnen haben und sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zuspitzen werden. Ihre sogenannte Energiewende kostet Deutschland bis 2050 mindestens 2,3 000 000 000 000 Euro, wie eine Studie des BDI berechnet hat. In dieser Zahl sind die Folgen des nächsten absurden Planes, nämlich die Kohlekraftwerke sukzessive abzuschalten, nicht einmal enthalten. Und da sagen Sie: „Wir bauen auf dem auf, was unsere Vorgänger uns überlassen haben, und gestalten in der Gegenwart für die, die nach uns kommen.“ Der erste Teil des Satzes stimmt, der zweite Teil wird durch diese Fakten widerlegt.

„Dabei leitet mich die Überzeugung: Die Herausforderungen unserer Zeit werden wir nur meistern, wenn wir zusammenhalten und mit anderen über Grenzen hinweg zusammenarbeiten.“

Die EU bin ich?
Merkels Neujahrsansprache: Die Macht gehört mir.
Zusammenhalten und „mit anderen über Grenzen hinweg zusammenarbeiten“? Das klingt schön, aber Ihre Politik ist genau das Gegenteil. Sie haben alles getan, Abermilliarden Steuergelder ausgegeben und unzählige internationale Konferenzen abgehalten, um das eine Ziel zu erreichen: Dass Griechenland im Euro bleibt. Damit haben Sie weder dem Euro noch den Griechen oder gar den Deutschen einen Gefallen getan. Hätten Sie nur die Hälfte dieser Energie darauf verwandt, Großbritannien in der EU zu behalten und wären den Briten in der gleichen Weise entgegengekommen wie den Griechen, dann hätte der Brexit vermieden werden können. Die Bilanz Ihrer Politik der falschen Prioritäten: Die Griechen sind weiter im Euro und die Briten verlassen die EU. Mit Ihrer unverantwortlichen Flüchtlingspolitik, die ein zentrales Argument der Brexit-Befürworter in Großbritannien war, haben Sie mit dazu beigetragen, dass die Briten die Eurozone verlassen wollen. Zugleich haben Sie alle mittel- und osteuropäischen Ländern – wie etwa Ungarn, Polen oder Tschechien – gegen uns Deutsche aufgebracht, indem Sie diesen Ländern Ihre ideologisch geprägte „Flüchtlingspolitik“ aufzwingen wollten. Es wirkt wie ein Hohn, wenn Sie von Zusammenhalt und Zusammenarbeit über Grenzen hinweg sprechen, denn Sie haben Europa gespalten wie kein Bundeskanzler vor Ihnen.

„Geradezu sinnbildlich dafür sind für mich die Bilder, die uns unser Astronaut Alexander Gerst in den letzten Monaten von der internationalen Raumstation ISS geschickt hat. Es sind Bilder, die uns immer wieder eine neue Sicht auf unseren Planeten geben: Auf Naturgewalten wie Hurrikans, mit denen wir Menschen leben müssen; auf unsere mitteleuropäischen Landschaften, die in diesem ungewöhnlich trockenen Sommer auch aus dem All ganz braun statt grün aussahen; und immer wieder sind es auch einfach Bilder von der überwältigenden Schönheit unserer Erde. Einerseits diese überwältigende Schönheit. Andererseits wissen wir um die Verletzlichkeit unserer Lebensgrundlagen – und zwar im umfassenden Sinne. Da ist die Schicksalsfrage des Klimawandels, die der Steuerung und Ordnung der Migration, da ist der Kampf gegen den internationalen Terrorismus.“

Tatsächlich haben Sie, Frau Merkel, eine unglaublich teure Energiewende eingeleitet, beispielsweise das Bauen in unverantwortlicher Weise verteuert – und Sie sind dabei, die Automobilindustrie im Namen des „Klimaschutzes“ kaputt zu machen. Aber der CO2-Ausstoß, wegen dem das alles angeblich geschieht, hat sich dennoch in Deutschland nicht vermindert. „Klimapolitik“ ist für Sie – ebenso wie für die Ihnen ideologisch so verbundenen Grünen – nur der Vorwand, um die planwirtschaftliche Umgestaltung der Wirtschaft in Deutschland voranzutreiben. Und wenn Sie von „Ordnung der Migration“ sprechen, dann ist das ebenfalls ein Etikettenschwindel. Niemand hat so viel „Unordnung“ hereingebracht wie Sie.

„In unserem eigenen Interesse wollen wir alle diese Fragen lösen, und das können wir am besten, wenn wir die Interessen anderer mitbedenken. Das ist die Lehre aus den zwei Weltkriegen des vergangenen Jahrhunderts. Aber diese Überzeugung wird heute nicht mehr von allen geteilt, Gewissheiten der internationalen Zusammenarbeit geraten unter Druck. In einer solchen Situation müssen wir für unsere Überzeugungen wieder stärker einstehen, argumentieren, kämpfen. Und wir müssen im eigenen Interesse mehr Verantwortung übernehmen. Deutschland wird ab morgen für zwei Jahre Mitglied im UN-Sicherheitsrat sein und sich dort für globale Lösungen einsetzen. Wir steigern unsere Mittel für humanitäre Hilfe und Entwicklungshilfe, aber auch unsere Verteidigungsausgaben weiter.“

Im Wortlaut und kommentiert
Merkel: Ihre Neujahrsansprache ist eine Zumutung
Hierzu wäre viel zu sagen. Nur ein Punkt: Sie sprechen von den Verteidigungsausgaben. Wovon Sie nicht sprechen, ist, dass nach 13 Jahren Ihrer Kanzlerschaft die Bundeswehr in einem katastrophalen Zustand ist. Der Zustand ist so erbärmlich, wie nie zuvor in der Geschichte des Bundesrepublik. Die meisten Waffensysteme funktionieren nicht mehr. Sie haben Ursula von der Leyen zur Verteidigungsministerin gemacht und sie war eine der wenigen Minister, an der Sie auch im neuen Kabinett festgehalten haben. Diese Frau hat sich um „Diversity-Kurse“ in der Bundeswehr gekümmert, hat Modenschauen für Umstandsmode für Soldatinnen veranstaltet, hat unter ungeklärten Bedingungen Abermillionen für Beratungsverträge verpulvert – und dabei ist die Bundeswehr vor die Hunde gegangen. Mehr Geld für die Verteidigung nützt gar nichts, wenn an der Spitze die mit Abstand unfähigste Ministerin dieses Landes steht, deren einzige Qualifikation darin besteht, in Talkshows das hohe Loblied auf Angela Merkels Politik zu singen.

„Wir setzen uns dafür ein, die Europäische Union robuster und entscheidungsfähiger zu machen. Und mit Großbritannien wollen wir trotz des Austritts aus der Europäischen Union weiter eine enge Partnerschaft bewahren. Im Mai können Sie durch Ihre Teilnahme an der Europawahl dazu beitragen, dass die Europäische Union auch in Zukunft ein Projekt von Frieden, Wohlstand und Sicherheit sein wird. Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, Wohlstand, Sicherheit und Frieden, dafür müssen wir vor allem aber bei uns zu Hause arbeiten. Millionen Menschen stellen sich bereitwillig in den Dienst der Gesellschaft. Ich danke an diesem Silvesterabend besonders allen Polizistinnen und Polizisten, Soldatinnen und Soldaten, den vielen Rettungskräften und all denjenigen, die sich in Krankenhäusern und in der Pflege um andere kümmern, genauso wie den Millionen ehrenamtlich Tätigen. Um Arbeitsplätze, Wohlstand und unsere Lebensgrundlagen zu sichern, geht die Bundesregierung konsequent die nächsten Schritte beim Strukturwandel von traditionellen zu neuen Technologien und setzt ihre Strategie für den digitalen Fortschritt um. Mit unserer Arbeit für gleichwertige Lebensverhältnisse wollen wir erreichen, dass jede und jeder einen guten Zugang zu Bildung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung hat – auf dem Land genauso wie in der Stadt.“

Sie danken den „Polizistinnen und Polizisten, Soldatinnen und Soldaten“. Hören Sie sich mal bei denen um, ob die Ihnen auch dankbar sind. Ich bin sicher, Sie haben nirgendwo so viele Gegner wie in diesen Berufsgruppen, die unter den Folgen Ihrer Politik ganz besonders leiden. Und Sie sprechen von dem, was Sie alles vorhaben. Aber das ist deshalb unglaubwürdig, weil Sie beispielsweise schon vor einem Jahrzehnt versprochen haben, Deutschland werde Vorreiter bei der Digitalisierung – stattdessen sind wir die Nachhut. Sie sprechen von besserer Bildung, aber jeder weiß, dass unser Schulsystem seit Jahren versagt. Sie sprechen von mehr Wohnraum, aber mit der Mietpreisbremse und ständig neuen Öko-Vorschriften für das Bauen haben Sie mehr zur Verschärfung der Probleme in deutschen Metropolen beigetragen als zur Lösung.

„Dabei ringen wir um die besten Lösungen in der Sache. Immer häufiger aber auch um den Stil unseres Miteinanders, um unsere Werte: Offenheit, Toleranz und Respekt. Diese Werte haben unser Land stark gemacht. Für sie müssen wir uns gemeinsam einsetzen – auch wenn es unbequem und anstrengend ist.“

Mit der Offenheit und Toleranz in Deutschland ist es leider nicht gut bestellt. Und Sie, Frau Merkel, sind dafür mit verantwortlich. Sie und Ihr Regierungssprecher erfinden Geschichten von „Hetzjagden“ in Sachsen, die es gar nicht gab. Der sächsische Ministerpräsident und der Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz haben Ihnen vehement widersprochen und beide klargestellt, dass das eine Erfindung war. Hans-Georg Maaßen wurde deshalb von Ihnen aus dem Amt gedrängt, weil er die Courage hatte, Ihren wahrheitswidrigen Behauptungen zu widersprechen. Ein Beispiel für „Offenheit, Toleranz und Respekt“, die Sie hier reklamieren, war dies gewiss nicht.

„Da, wo wir an unsere Werte glauben und unsere Ideen mit Tatkraft umsetzen, da kann Neues und Gutes entstehen. Daraus können die Kräfte erwachsen, die wir brauchen, um Schritt für Schritt die Probleme zu lösen und so den Boden für eine friedliche, sichere Zukunft für uns und unsere Kinder zu bereiten. Den Mut dazu wünsche ich uns allen, verbunden mit all meinen guten Wünschen für Sie und Ihre Familien für ein gesundes, frohes und gesegnetes neues Jahr 2019.“


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