Der geheime Wunsch vieler Schriftsteller ist, ein neues Evangelium zu schreiben. Hitler hatte es geschafft, wenn auch nicht für lange, nicht für tausend Jahre – wie eigentlich gedacht. „Mein Kampf“ ist eine massenmörderische Heilsgeschichte, Hitler war sein eigener Evangelist. (Heer, S. 117) Heute kennt sein Buch in Deutschland kaum noch jemand, was er sich bestimmt nicht hätte träumen lassen, zu hoch war über Jahre die Auflage und zu sicher war er sich darin, dass dieses Buch Gültigkeit behalten würde. Es hat zunächst ihn selbst verändert.
Mit „Mein Kampf“ wurde Hitler zum Millionär. Hitler verfügte danach über eine Menge eigenes Geld, er war reich. Dieses Detail seiner persönlichen Lebensumstände sollte man im Hinterkopf haben, wenn man sich über Hitlers Habitus und seine Art zu reden lustig macht und geneigt ist, ihn alles in allem erbärmlich und lächerlich zu finden. Er war kein armer Wicht mehr. Hitler hatte Ressourcen, und die Einkünfte aus seiner Schriftstellerei war nicht die unwichtigste. Er bewegte Zeit seines Lebens als Politiker gewaltige Summen allein für den Ankauf von Kunst, und einen Teil davon bezahlte er aus eigener Tasche. Reichtum als solchen geißelte er nur, wenn er bei den falschen Leuten vorkam, den Juden.
Man streitet immer noch darüber, ob die Deutschen „Mein Kampf“ auch gelesen haben, als das Buch großzügig, aber nicht kostenlos, verteilt wurde. Nein, sagen viele, denn sonst hätten sie ja gewusst, was Hitler vorhatte. Ja, und was hätten sie dann getan? Was hätte eine Gesellschaft getan, deren Mitglieder mehrheitlich genauso antisemitisch waren wie das Buch? Nach dem Krieg wurde es jedenfalls nicht mehr gelesen. Erst vor kurzem hat man mit einer wissenschaftlichen Sichtung begonnen. Da ich ein (geerbtes) Exemplar besitze, konnte ich eigentlich auch mal hineinsehen.
Der NS-Rassismus war Kulturalismus
Das ganz erstaunliche Ergebnis der Lektüre: Die Deutschen hatten bisher anscheinend vor den falschen Dingen Angst. Da wagen sie kaum noch, das Wort „erblich“ auszusprechen, weil es angeblich vorbelastet war, aber: Es ging Hitler im Grunde nicht um Blut und Gene, sondern es ging immer wieder um Kultur, Kultur, Kultur. Das Wort „Kultur“ müsste Angst machen, es ist wirklich hitleresk. Der NS-Rassismus war ein Kulturalismus. Hitler war kein Biologist; er verstand von Biologie so wenig wie von Wissenschaft im Allgemeinen. Sehen wir uns die beiden folgenden Passagen an:
- „Jedes Tier paart sich nur mit einem Genossen der gleichen Art. Meise geht zu Meise, Fink zu Fink, der Storch zur Störchin, Feldmaus zu Feldmaus, Hausmaus zur Hausmaus, der Wolf zur Wölfin usw.“ (Mein Kampf, S. 311)
- „Die Folge dieses in der Natur allgemein gültigen Triebes zur Rassereinheit ist nicht nur die scharfe Abgrenzung der einzelnen Rassen nach außen, sondern auch ihre gleichmäßige Wesensart in sich selber. Der Fuchs ist immer in Fuchs, der Tiger ein Tiger usw., und der Unterschied kann höchstens im verschiedenen Maße der Kraft, der Stärke, der Klugheit, Gewandtheit, Ausdauer usw. der einzelnen Exemplare liegen. Es wird aber nie ein Fuchs zu finden sein, der seiner inneren Gesinnung nach etwa humane Anwandlungen Gänsen gegenüber haben könnte, wie es ebenso auch keine Katze gibt mit freundlicher Zuneigung zu Mäusen.“ (Mein Kampf, S. 312)
Man sitzt mit offenem Mund vor dieser Argumentation, deren Fehlerhaftigkeit bereits ein aufgewecktes Schulkind erkennen kann. Hitler verwechselt ganz offensichtlich verschiedene biologische Kategorien und erklärt mittels dieser falschen Klassifizierung bestimmte Menschen zur Beute bestimmter anderer Menschen. Meisen, Finken und Störche gehören zur Art übergeordnete Familien. Die Feldmaus gehört zur Familie der Wühler, die Hausmaus zur Familie der Langschwanzmäuse. Sie sind also biologisch weiter voneinander entfernt, als ihre Namen vermuten lassen. Der Wolf allerdings kann sich auch mit einem Hund paaren. Sie gehören beide zur Art Canis lupus. Die Klassifizierung von Füchsen ist ziemlich kompliziert – überspringen wir das! Eine Gans ist nicht immer eine Gans – sie kann auch ein Schwan sein. Die Gans gehört einer Unterfamilie der Entenvögel an, zu der auch die Schwäne gehören. Die Katze ist als Wildkatze eine Art, als Hauskatze eine Unterart derselben.
In der gesamten Aufzählung ist die Hauskatze das einzige Tier, bei dem es „Rassen“ gibt. „Rasse“ ist ein Begriff aus der Zucht, speziell der Haus- und Nutztierzucht und keine evolutionsbiologische Kategorie. Es gibt in der Natur keinen „Trieb zur Rassereinheit“. Hitlers Schäferhündin hätte sich erfolgreich mit einer Bulldogge gepaart, wenn sie gedurft hätte.
Hitler war offensichtlich kein Mann der wissenschaftlichen Recherche. Trotzdem fragt man sich: Wie konnte ihm ein solcher Denkfehler unterlaufen? Setzt er Art und Rasse gleich, weil im Englischen, der Muttersprache seines Mentors Houston Chamberlain, die Menschheit „human race“ heißt? Aber damit ist die gesamte Menschheit gemeint und nicht irgendwelche Untergruppen. Die biologische Art heißt auch im Englischen „species“, was dem im Deutschen üblichen wissenschaftlichen Ausdruck „Spezies“ entspricht und keine Verwechslungen mit „Rasse“ zulässt.
Was Hitler übersah (wie so vieles, er war ein Virtuose der selektiven Informationsverarbeitung und blendete alles aus, was seinen Überzeugungen zuwiderlief,) und worin er anscheinend auch nie korrigiert wurde: Die Menschen entsprechen den Tigern und Füchsen; wie diese sind sie eine Art, die Art Homo sapiens, und als eine Art sind sie untereinander fortpflanzungsfähig, unabhängig von Hautfarbe, Schuh- und Körpergröße. Dies ist von der Natur so eingerichtet, von derselben Natur, die Hitler ins Feld führt, aber gar nicht versteht. Die Natur will Variation, die durch Mischung erreicht wird. Hitler will Reinheit, ein künstliches, kulturelles Konzept, das der Natur entgegengesetzt ist. Die Natur ist somit nicht sein Modell, sondern sie dient lediglich seiner Rhetorik:
- „Ein völkischer Staat wird … in erster Linie die Ehe aus dem Niveau einer dauernden Rassenschande herauszuheben haben, um ihr die Weihe jener Institution zu geben, die berufen ist, Ebenbilder des Herrn zu zeugen und nicht Missgeburten zwischen Mensch und Affe.“ (Mein Kampf, S. 444f. i.O. gesperrt gedr.)
Die Absicht ist deutlich, aber wörtlich zu nehmen sind solche Ausfälle trotzdem nicht. Hier werden keine biologischen Tatsachen herangezogen: „Ebenbild des Herrn“ ist ein theologischer Topos, und auch Hitler dürfte klar gewesen sein, dass „Missgeburten zwischen Mensch und Affe“ in der Realität nicht vorkommen. Es handelt sich, wenn schon, dann um Missgeburten seiner Einbildungskraft und um Missbrauch biologischer Benennungen zu polemischen Zwecken.
Nur der Arier hat Kultur
Bei Hitlers „Rassismus“ geht es eigentlich um Kulturfähigkeit. Nur der Arier hat Kultur. Die jüdische Kultur nannte Hitler die jüdisch-bolschewistisch-demokratische Weltvergiftung und meinte damit dasselbe wie heute die Mullahs, wenn sie von „Westvergiftung“ sprechen. (Letztere identifizieren, nebenbei gesagt, die dekadente westliche Kultur mit der jüdischen. Der Gegner ist also wieder derselbe.) „Rasse“ hat die semantische Bedeutung „Ungleichheit“. Die simple Gleichung lautet:
- Arier = Kulturbegründer = Mensch.
- Nichtarier = Kulturzerstörer = Kein Mensch.
Kultur ist für Hitler die Basis der Herrschaft, die nur tragfähig ist, wenn das Volk der Arier sich nicht mit anderen vermischt: „Doch ist die Gefahr sehr groß, dass der einmal blind gewordene Mensch die Rassenschranken immer mehr einreißt, bis endlich auch der letzte Rest seines besten Teiles verloren ist. Dann bleibt wirklich nur mehr ein Einheitsbrei übrig, wie er den famosen Weltverbesserern unserer Tage als Ideal vorschwebt; er würde aber aus dieser Welt in kurzer Zeit die Ideale verjagen. Freilich: eine große Herde könnte so gebildet werden, ein Herdentier kann man zusammenbrauen, einen Menschen als Kulturträger aber und besser noch als Kulturbegründer und Kulturschöpfer ergibt eine solche Mischung niemals.“ (Mein Kampf, S. 444, i.O. gesperrt gedr.)
Aufgabe der kulturell überlegenen Rasse ist es, das Genie zu schaffen, das eigentliche Ziel, dem Hitlers Sinnen und Trachten gilt. Das Genie ist ein Schlüsselbegriff des Dritten Reiches. Es ging in Hitlers Nationalsozialismus nicht so sehr um die Gemeinschaft und schon gar nicht um den Staat. Hitler verachtete den Staat. Ihn interessierte nur das geniale, einzigartige Individuum, der Übermensch. Die Bevölkerungspolitik diente der Hervorbringung des deutschen Genies. Da das wahre Genie immer ein geborenes und nicht durch Erziehung gemachtes ist, musste dafür gesorgt werden, dass Genies geboren werden konnten. Voraussetzungen dafür waren die Homogenität des Volkes und die Säuberung sämtlicher Institutionen und Organisationen der Kunst und Kultur von den Juden.
Das Gegenteil des Genies ist der Jude. Der Jude ist rational und materialistisch, das Genie ist intuitiv und idealistisch. Judentum und Bolschewismus (für Hitler Synonyme) waren die Feinde des schöpferischen Individuums. Getreu seiner selektiven Wahrnehmung ließ er beiseite, dass mit Einstein gerade ein jüdisches Genie auf den Plan getreten war.
- „Nein, der Jude besitzt keine irgendwie kulturbildende Kraft, da der Idealismus, ohne den es eine wahrhafte Höherentwicklung des Menschen nicht gibt, bei ihm nicht vorhanden ist und nie vorhanden war. Daher wird sein Intellekt niemals aufbauend wirken, sondern zerstörend und in ganz seltenen Fällen vielleicht höchstens aufpeitschend, dann aber als das Urbild der ‚Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft’. Nicht durch ihn findet irgendein Fortschritt der Menschheit statt, sondern trotz ihm.“ (Mein Kampf, S. 332)
In seinem Buch kann man nachlesen, dass Hitler sich als Schöpfer einer neuen Weltanschauung sah, die zur neuen Weltreligion werden sollte, und nicht etwa als Wirtschaftsförderer, wie viele Faschismustheoretiker annehmen. Hitler verabscheute die Tagespolitik, er machte Politik für die Ewigkeit. Wiederherstellung und Bewahrung der Kultur im Sinne seines Wahnsystems war sein höchstes Ziel.
Um dies zu erreichen, waren zwei Maßnahmen notwendig: die Vernichtung der Juden und die Errettung von Kunstschätzen, vor allem von Gemälden. Letztlich ging es ihm um die Errettung der Kunst und Kultur vor den Juden. Hitler schrieb Kunstwerken, besonders Gemälden, eine Genie-generierende Kraft zu (Schwarz, S. 13), die nur den Ariern zustand. Deshalb machte er es zum staatlichen Programm, den Juden ihren Besitz an Gemälden zu entziehen. Dies war eine Maßnahme zur Stärkung der Lebenskraft des deutschen Volkes. Es ging ihm dabei nicht in erster Linie um den Geldwert der Bilder, sondern um den Kunstwert, um die ihnen innewohnende Kraft, ihre Magie.
Hitler selbst lud mit Kunstbetrachtung seine Energiereserven auf. Als Kunstliebhaber war er authentisch. Möglicherweise war dies die einzige Facette seiner öffentlichen Identität, bei der er nicht schauspielerte. (Von allen Begabungen Hitlers ist bisher seine Schauspielkunst unterschätzt worden.) Soviel Zeit und Hingabe auf die Betrachtung eines Bildes zu verwenden, wie Hitler es tat, wäre zu rein demonstrativen Zwecken unnötig gewesen. Er konnte stundenlang stumm vor Bildern ausharren. Es muss ihm ein echtes Bedürfnis gewesen sein. Kunstbetrachtung war wie Gebet. Sie führte allerdings nicht zur moralischen Besserung seines Charakters, wie gemeinhin als Funktion von Kunst postuliert wird, sondern verstärkte seinen Fanatismus. „Fanatisch“ war Hitlers Lieblingswort. In seiner ersten Kulturrede auf dem Nürnberger Parteitag 1933 sagte er: „Kunst ist eine zum Fanatismus verpflichtende Mission.“ (Schwarz, S. 20)
1933 fand eine Kulturrevolution statt
Das kulturelle Interesse Hitlers und der anderen NS-Größen wird oft als unvereinbarer Gegensatz zu ihren Verbrechen gesehen, den man nicht erklären könne. Es gibt aber gar keinen Gegensatz. „Sein Chef-Exekutor Reinhard Heydrich weint über der Musik von Wolfgang Amadeus Mozart: Gaskammer und Konzertsaal sind ihm, wie in Hitler, eine Einheit…“ (Eitner, S. 71)
Judenvernichtung war Hitler Kulturpolitik.
Man will sich Hitler nicht als kultiviert vorstellen. Er führte aber ein kulturgeleitetes Leben. Musik, in seiner Jugend besonders die Oper, später der Film und immer die Architektur und die Malerei waren sein Lebensinhalt. Seine politischen Inszenierungen waren dem Theater verwandt. Auch den Krieg betrachtete er unter ästhetischem Gesichtspunkt. Der Krieg war große Oper, ein Gesamtkunstwerk im Sinne Richard Wagners. So deutete Joseph Goebbels „dem deutschen Volke die Tragödie von Stalingrad … als ein großartiges ‚Gemälde’, dessen Schönheit man nicht sofort, aus der Nähe … sieht.“ (Heer, S. 157)
Eine ähnliche Haltung bewies der Komponist Karlheinz Stockhausen, als er zu den Anschlägen vom 11. September 2001 sagte: „Was da geschehen ist, ist – jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen – das größte Kunstwerk, das es je gegeben hat. Dass Geister in einem Akt etwas vollbringen, was wir in der Musik nicht träumen könnten, dass Leute zehn Jahre üben wie verrückt, total fanatisch für ein Konzert und dann sterben. Das ist das größte Kunstwerk, das es überhaupt gibt für den ganzen Kosmos. Stellen Sie sich das doch vor, was da passiert ist. Da sind also Leute, die sind so konzentriert auf eine Aufführung, und dann werden 5000 Leute in die Auferstehung gejagt, in einem Moment. Das könnte ich nicht. Dagegen sind wir gar nichts, als Komponisten. Stellen Sie sich vor, ich könnte jetzt ein Kunstwerk schaffen und Sie wären alle nicht nur erstaunt, sondern Sie würden auf der Stelle umfallen, Sie wären tot und würden wiedergeboren, weil es einfach zu wahnsinnig ist. Manche Künstler versuchen doch auch über die Grenze des überhaupt Denkbaren und Möglichen zu gehen, damit wir wach werden, damit wir uns für eine andere Welt öffnen.“
Stockhausen unterstellt den Terroristen sein Kunstwerk-Bild, das ich hier nicht kommentiere. Sie wollten sich sicherlich selbst transzendieren, indem sie als Märtyrer sogleich ins Paradies eingingen, aber ihren Opfern war Auslöschung und Hölle zugedacht und keinesfalls Wiedergeburt in neuem Glanze.
Fazit: „Kunst und Moral sind, ebenso wie Politik und Moral, zwei autonome Welten. … Künstler wie Kunstkritiker neigen dazu, das Ästhetische auf Kosten des Moralischen überzubewerten. Die Barbarei offenbart sich manchmal dort, wo niemand sie vermutet – im Ästhetischen. Wer dem Ästhetischen Vorrang vor anderen Werten einräumt, der schränkt oft ethische Anforderungen ein oder verneint sie.“ (Eitner, S. 71) In der Künstlerpersönlichkeit treffen oft Schönheitssinn und Rücksichtslosigkeit zusammen. Thomas Mann benannte in „Bruder Hitler“ Asozialität, Bohème, Faulheit und absolute Gewissenlosigkeit als stimmige Komponenten des Künstlers.
Während des Krieges gehörte es zu Hitlers großen Vergnügungen, Verteilungspläne über die erbeutete und beschlagnahmte Kunst zu erstellen. Er verlangte nach den Kunstsammlungen des Kremls und der Eremitage. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass der Russlandfeldzug Teil seines Museumsprojekts war. Am 31. Januar 1943, dem Tag, an dem sich die 6. Armee in Stalingrad ergab, erschien in der Zeitschrift „Das Reich“ ein Artikel über die Gemäldesammlung des Führers für die Galerie in Linz. (Schwarz, S. 278f) Angelegenheiten der Kunst hatten Vorrang vor Angelegenheiten des Krieges. Im Luftkrieg war Hitler erschüttert über Zerstörungen von Kulturgütern, besonders von Theatern, nicht so sehr über die Zerstörung von Wohngebieten oder die Verluste an Menschen. Kriegsschäden zu besichtigen, weigerte er sich. Filme über zerstörte Städte ließ er sich nicht vorführen, weil sie seine „geniale Entschlusskraft“ hätten hemmen können. Die zerstörten deutschen Städte baute er in seiner Phantasie alle wieder auf, viel schöner dazu, als sie gewesen waren. Darüber konnte er sich stundenlang verbreiten, zur zunehmenden Fassungslosigkeit seiner Zuhörerschaft. Aus diesen Wiederaufbauplänen gewann er enorme psychische Spannkraft. (Schwarz, S. 294f)
Auch und gerade, als der Krieg strategisch verloren war, setzte Hitler das Sammeln von Kunst fort. Was anderen, weniger ästhetisch gesinnten Naturen als unerträglicher Luxus angesichts der erbärmlichen Lage in Deutschland erscheinen mag, war für Hitler pure Notwendigkeit und jenseits von Kritik. Die Sammlung, die für das Museum Linz gedacht war, wurde zur Obsession. Als der Krieg de facto bereits verloren war, entwarf Hitler immer noch Skizzen des Gebäudes. Während die Bevölkerung litt, machte er sich Sorgen um seine Bilder.
Das politische Synonym des künstlerischen Genies ist der Führer – für ihn gibt es keine Regeln
Wenn dies unmoralisch erscheint, so sei gesagt: Das politische Synonym des künstlerischen Genies ist der Führer. Er ist aus dem Volk herausgehoben und hat eigene moralische Maßstäbe. Für ihn gibt es keine Regeln und keine Bevormundung. Der Führer ist wie das Genie kein Mensch wie jeder andere, sondern die anderen sind ihm Material und Masse, die er nach Belieben und Bedarf nutzt, formt oder vernichtet.
Auch Hitler hatte Vorstellungen von Unmoral. Moderne Kunst war für ihn unmoralisch. Zitat: „Ich habe hier unter den eingeschickten Bildern manche Arbeiten beobachtet, bei denen tatsächlich angenommen werde muss, dass gewissen Menschen das Auge die Dinge anders zeigt, als sie sind, d.h., dass es wirklich Männer gibt, die die heutigen Gestalten unseres Volkes nur als verkommene Kretins sehen, die grundsätzlich Wiesen blau, Himmel grün, Wolken schwefelgelb usw. empfinden, oder, wie sie vielleicht sagen, erleben.“ (Schwarz, S. 20)
Er konnte sich darüber in Rage reden. Hitlers Kunstauffassung war ganz und gar traditionell, sein Idol war Spitzweg, auch weil dieser Autodidakt war. Hitler hasste auf Grund seiner Erfahrungen mit der Wiener Akademie jede formale Bildung. Wahres Genie konnte sich seiner Ansicht nach nur abseits der etablierten Einrichtungen entfalten. Hitlers anti-moderner Kunstgeschmack war weder harmlos noch privat. Er galt für alle. Das Dritte Reich war auch eine Geschmacksdiktatur.
Hitler hasste Intellekt. Er betrachtete ihn als Gegensatz von Idealismus und als typisch jüdische Eigenschaft, die zersetzend und zerstörerisch wirkt. Antisemitismus ist im Kern Antiintellektualismus.
Die christliche Religion war für Hitler tabu. Er blieb immer Katholik. „Dem politischen Führer haben religiöse Lehren und Einrichtungen seines Volkes immer unantastbar zu sein, sonst darf er nicht Politiker sein, sondern soll Reformator werden, wenn er das Zeug hierzu besitzt!“ (Mein Kampf, S. 127, i. O. gesperrt gedr.) Hitler instrumentalisierte den Glauben anderer nicht, sondern war selbst ernsthaft gläubig. (Bärsch, S. 294) Scharf lehnte er jede religiöse Neuerung als Angriff auf die katholischen Dogmen ab, die ganz unveränderlich zu erhalten waren. (Heer, S. 223)
Juden hatten keine Religion in seinem Wahnsystem. „Das Judentum war immer ein Volk mit bestimmten rassischen Eigenarten und niemals eine Religion, nur sein Fortkommen ließ es schon frühzeitig nach einem Mittel suchen, das die unangenehme Aufmerksamkeit in bezug auf seine Angehörigen zu zerstreuen vermochte. Welches Mittel aber wäre zweckmäßiger und zugleich harmloser gewesen als die Einschiebung des geborgten Begriffs der Religionsgemeinschaft? Denn auch hier ist alles entlehnt, besser gestohlen – aus dem ursprünglichen eigenen Wesen kann der Jude eine religiöse Einrichtung schon deshalb nicht besitzen, da ihm der Idealismus in jeder Form fehlt und damit auch der Glaube an ein Jenseits vollkommen fremd ist. Man kann sich aber eine Religion nach arischer Auffassung nicht vorstellen, der die Überzeugung des Fortlebens nach dem Tode in irgendeiner Form mangelt.“ (Mein Kampf, S. 335f)
An dieser Darstellung ist alles falsch. Schon seit den neutestamentlichen Pharisäern gibt es im Judentum den Glauben an eine unsterbliche Seele, die Auferstehung und ein Jenseits. Die Sadduzäer, die diese Lehren ablehnten, verschwanden mit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch die Römer im Jahre 70 aus der Geschichte. Vollends absurd ist die Verdrehung, wer von wem gestohlen hat. Es war das Christentum, das das Judentum enteignete, indem es sich seiner Schriften bemächtigte und sich selbst als das neue Israel proklamierte.
Hitler ist ein Beispiel dafür, was geschehen kann, wenn jemand die in der Bibel und in zwei Jahrtausenden Rezeptionsgeschichte angelegten Gedanken auf seine begrenzte Weise zu Ende denkt, den Diskurs ausblendet, damit jede Kritik vermeidet, sich abschottet und diesem notwendigerweise dann pervertiertem Denken Taten folgen lässt die sich zu grauenhafter Dimension auswachsen. In unseren Tagen sind die islamistischen Gotteskrieger neuerliche Vollstrecker der Abgründe einer religiösen Idee. Sie entziehen sich dem Diskurs, der Massenmord ist die wahnwitzige Folge der eigenen Überhöhung.
Hitler war überzeugt davon, den Willen Gottes zu tun. Die Ausrottung der Juden war sein Erlösungswerk vom Teufel in Menschengestalt, vom Bösen schlechthin und nicht zuletzt von der Hässlichkeit: „Würde nicht die körperliche Schönheit heute vollkommen in den Hintergrund gedrängt durch unser laffiges Modewesen, wäre die Verführung von Hunderttausenden von Mädchen durch krummbeinige, widerwärtige Judenbankerte gar nicht möglich. Auch dies ist im Interesse der Nation, dass ich die schönsten Körper finde und so mithelfe, dem Volkstum neue Schönheit zu schenken.“ (Mein Kampf, S. 458)
Der Rassismus des fanatischen Kunstsammlers und fanatischen Antisemiten Hitler ist:
- theologisch – es geht um gut und böse,
- ästhetisch – es geht um schön und hässlich,
- kulturalistisch – es geht um Schöpferkraft und Zerstörung.
Die Vernichtung der Juden hatte oberste Priorität. Als Hitler sich erschoss, hatte er zwar den Krieg verloren, war aber mit seiner wichtigsten Absicht erfolgreich geblieben. Hitlers perverser Stolz auf die Ermordung der Juden lebt heute absurderweise bei den Islamisten weiter.
Künstler wollen der Welt ihre Vision verkünden und Menschen erziehen. Politiker wollen Menschen führen und ihre Lebensverhältnisse gestalten. Bei Hitler überschnitten sich diese beiden Dimensionen und wurden ergänzt durch eine dritte: das Prophetentum. Hitler glaubte sich auserwählt. Der Nationalsozialismus war seine Heilslehre, eine massenmörderische Heilslehre. Die Vereinigung von Kunst, Politik und Religion in äußerstem Fanatismus war die Grundlage des größten Verbrechens des 20. Jahrhunderts. Der Fanatismus ist zurück in Gestalt des islamischen Totalitarismus, der Politik und Religion mit dem Dogma von der Unvergleichlichkeit und unübertroffenen Schönheit des Korans verbindet.
Bärsch, Claus-Ekkehard: Die politische Religion des Nationalsozialismus, München 2002
Eitner, Hans-Jürgen: Der Führer. Hitlers Persönlichkeit und Charakter, München 1985
Heer, Friedrich: Der Glaube des Adolf Hitler. Anatomie einer politischen Religiosität, Esslingen/München1998
Mann, Thomas: Bruder Hitler, München 1991
Schwarz, Birgit: Geniewahn. Hitler und die Kunst, Wien/Köln/Weimar 2009
Gastautorin Barbara Köster hat Soziologie und Politikwissenschaften studiert.