Tichys Einblick

Halbe Wahrheit, doppelte Gefahr

Wenn Medien (fast) ausschließlich die romantischen Aspekte komplexer Kulturen berichten, bringen Menschen, die darauf ihr Weltbild basieren, sich in Lebensgefahr – zu oft sterben Frauen, weil ihr Bild archaisch geprägter Kulturkreise verklärt war.

AFP/Getty Images

Was ist das für ein Haus? – So fragt dich einer, und du antwortest: Das Haus hat eine reiche Geschichte, es hat schöne Muster an den Wänden, und im Garten stehen schattenspendende Bäume!

Der, der dich fragt, geht freudig hinein. Du hast ihm nicht gesagt, dass und wo im Haus die Falltüren sind, obwohl du es wusstest, obwohl du es hättest wissen können. Er fällt hinein und stirbt. Trägst du mit Schuld an seinem Tod?

Je nach Kontext

Wer heute ein Haus verkauft, der schreibt meist etwas in den Vertrag wie »gekauft wie gesehen«, doch selbst mit dieser Klausel kann er sich nicht von aller Verantwortung befreien. Wenn etwa Asbest im Haus sein sollte, oder wenn sich das Haus durch versteckte Mängel als schlicht nicht bewohnbar herausstellt, dann wird das, wenn ich die Juristen richtig verstehe, eher problematisch sein, egal was Sie ausschließen wollten – fragen Sie die für Verträge üblichen Fachleute! (Und bei Asbest, wenn Sie drin wohnten, zur Sicherheit wohl auch besser Ihren Arzt…)

Man muss sich ja nicht einmal in das Gebiet der Juristerei vortasten, auch wenn dieser Punkt durchaus tatsächlich dem üblichen Gerechtigkeitsgefühl entspricht (was heute leider immer weniger selbstverständlich ist): wenn einer eine wesentliche Information fortlässt und so die andere Partei zu einem für sie nachteiligen Glauben gelangt, dann hat er, je nach Kontext gelogen, betrogen oder sich schlicht unmoralisch verhalten.

Das Video

Im Internet kursiert das Video der Hinrichtung zweier skandinavischer Backpack-Touristinnen in Marokko. Ich erspare Ihnen die Details. Das Video ist jenseits aller Vorstellungskraft.

Die Damen waren zu zweit durch Marokko als Backpacker gereist, allein – warum auch immer. In Marokko wurden jetzt mehrere Männer festgenommen. Es sind »Extremisten« – und nein, wir müssen nicht raten, welche Denkschule es war, die sie allzu extrem auslegten (es wurde sogar u.a. auf der Website der Tagesschau berichtet, siehe tagesschau.de, 20.12.2018).

Mehrere Accounts, die das Video verbreiteten, wurden gesperrt, wenn auch teilweise mit unklarer Begründung.

Das Dilemma

Die Realität und damit die relevanten Strukturen des bewusst lebenden Menschen sind komplexer als linksgrüne Einheitsmeinung es vermuten ließe. – Erlauben Sie mir bitte, ein ethisches Dilemma zu skizzieren.

Einerseits: Wenn ich eine Medienplattform wie Twitter betriebe, hätte ich wohl ebenfalls einen Account, der das Video postete, gesperrt. In diesem Punkt mache ich den sperrenden Betreibern keinen Vorwurf.

Andererseits: In der Berichterstattung über die weite Welt des gelebten Islam liegt der Schwerpunkt in »toleranten« Ländern doch eher, besonders bei regierungsnahen und linken Medien, auf einem folkloristischen, beiläufigen Tonfall. In schönfärberischen Reportagen mit Titeln wie »Schau in meine Welt – Malvina, Diaa und die Liebe« wird schon Kindern die Unterwerfung unter patriarchale und religiöse Strukturen als neue Normalität präsentiert (siehe kika.de, 26.11.2017 und z.B. bild.de, 10.1.2018). In Sendungen wie »Ich und mein Islam« (ard.de, 28.6.2016) wird Islam einfach als eine weitere Möglichkeit im reichen Sortiment an Sinnfindungs-Angeboten vorgestellt, ohne auf die schwierigen Aspekte einer komplexen Kultur zu verweisen. Mit bunten Cartoons wird Islam vom deutschen Staatsfunk an Kinder »verkauft«, als ob es sich um eine Süßigkeit handelte (siehe zdf.de, 10.5.2016). Das Islambild, das junge Menschen in »toleranten« Staaten heute vermittelt bekommen, hat oft das Niveau eines Multikulti-Straßenfestes – und damit ist es leider nicht vollständig. Es steht zu befürchten, dass manche herzensbegeisterte Reisende in nordafrikanische Länder die rosaroten Schönfärbereien linker und grüner Träumer präsenter haben als etwa die ganz konkreten Hinweise des Auswärtigen Amtes.

Wer jemals in Ländern und Gebieten mit muslimischem Einfluss unterwegs war, der weiß durchaus, dass es durchaus diese schönen, bunten Elemente gibt, die Herzensgüte und die wunderbare Architektur, die alte Schönheit und die spektakuläre Natur, und dass es sie reichlich gibt; wer aber die Welt in ihrer tatsächlichen Vielfalt wahrnimmt, der weiß zusätzlich, dass es auch die brutalen Seiten innerhalb des islamischen Kulturkreises gibt – und er liefert sich diesen Aspekten nicht aus.

Schlimmer als Lüge

Dieser Tage wird noch immer der Fall des lügenden Spiegel-Reporters Claas Relotius diskutiert, der gefällige Lügen dichtete, die so wunderbar ins linke Weltbild passten.

Das größere Problem als das Image der Leitmedien (das ist und bleibt ohnehin unter kritischen Bürgern miserabel, aus gutem Grund) ist der politische Einfluss, den linke Lügner auf die gesellschaftliche Meinungsbildung hatten und weiterhin haben. Linke Lügen wie die über das Interview mit der 99-jährigen Weiße-Rose-Überlebenden (siehe: »Wasser auf die Mühlen der Falschen«) wurden kurz vor wichtigen Wahlen lanciert und gezielt gegen die Opposition in Stellung gebracht; jetzt, nach der Bayernwahl, kommt heraus, dass vieles davon eine Lüge war – die Wahlergebnisse gelten aber weiter.

Es ist utopisch, doch es wäre demokratisch aufrichtig, wenn alle Wähler von den aufgedeckten linken Lügen erfahren würden, und von der Möglichkeit, dass es weitere »Relotiuse« gibt – und anschließend mindestens die letzten Bayernwahlen wiederholt würden. Wieviel ist eine Wahl wirklich wert, aus demokratischer Sicht, wenn ein Teil der zugrundeliegenden Wählerstimmung auf propagandistisch eingesetzten Fake News basiert?

Und doch: So schlimm die Fake News des Herrn Relotius sind, das Ausblenden eines wichtigen Teils der Realität durch die Berichterstattung bei gleichzeitiger Überbetonung des propagandistisch wichtigen Teils ist auf gewisse Weise noch gefährlicher als die Lüge. Einer direkten Lüge kann man direkt widersprechen, eine Weglassung wichtiger Fakten ist von geschickten Meinungsmachern als Interpretationssache darstellbar.

Ein bekannter gesperrter Account leitete häufiger seine Tweets mit den Worten »was die Tagesschau verschweigt« ein. Es ist heute buchstäblich lebensnotwendig, zu erfahren, welche gefährlichen Fakten nicht berichtet werden.

Hätten die beiden Damen ein vollständiges Bild der islamischen Welt gehabt, wären sie dann auch fröhlich lächelnd allein durch Marokko gezogen? Sie sind ja nicht der einzige Fall von Damen, die allein aufbrachen mit einem politisch korrekten Bild von der islamischen Welt im Kopf, um es dann mit dem Leben zu bezahlen. Berühmt wurde etwa die New Yorker Künstlerin Pippa Bacca (Wikipedia), die mit einem Brautkleid bekleidet gemeinsam mit einer Freundin durch den Nahen Osten trampen wollte.

Die New York Times schrieb damals:

»The two friends, both performance artists, hatched the idea about a year ago: wearing white wedding dresses, they would hitchhike from Italy to the Balkans to the Middle East to send a message of peace and marriage between different peoples and nations.« (nytimes.com, 19.4.2008)

Meine Übersetzung: »Die beiden Freunde, beides Aktionskünstler, entwickelten die Idee etwa ein Jahr zuvor: weiße Hochzeitskleider tragend würden sie per Anhalter von Italien aus über den Balkan in den Nahen Osten reisen, um eine Nachricht des Friedens und der Heirat zwischen verschiedenen Völkern und Nationen zu senden.«

Es ging nicht gut aus.

Oder:

Verantwortung

Wenn ein Verkäufer essentielle Informationen zum Produkt verschweigt, die zum Nachteil des Käufers gereichen, dann wird der Käufer sich verständlicherweise betrogen fühlen. Der Bürger wird nicht minder betrogen, wenn zur Aufrechterhaltung des linken Weltbildes nur die halbe Wahrheit vermittelt und betont wird, und gutmeinende, aber unbedarfte Bürger dann basierend auf der halben Wahrheit einen vollständig tödlichen Fehler begehen.

Sollte man Bürger animieren, das schreckliche Video aus Marokko zu sehen? Auf keinen Fall, finde ich! Es geht nicht, meine ich, schon allein, weil es zu schrecklich ist, von den Persönlichkeitsrechten der Opfer einmal ganz abgesehen. Doch die Aussage, die schiere Möglichkeit dieser Ereignisse, die sollte die nicht zusätzlich zu toleranzbildenden Maßnahmen vermittelt werden – schlicht um Menschen nicht naiv in gefährliche Situationen laufen zu lassen?

Es ist also ein Dilemma: Ein Weltbild, dessen Nordafrika-Vorstellung allein von Multikulti-Stadtteilfest-Atmosphäre bestimmt ist, so ein Weltbild ist schlicht unvollständig. – Nein, es sind nicht alle so, doch es sind eben auch nicht alle nicht so, und nur jene Wahrheit ist vollständig, die beide Seiten enthält.

Nicht erst seit dem Relotius-Skandal ist kritischen Beobachtern klar, dass deutsche Leitmedien nicht unbedingt die letzte Instanz darstellen in der Frage, was wirklich passierte. Die Illusionen linker Leitmedien mögen dem Wohlstandbürger ein wohliges Harmoniegefühl bescheren, mögen ihm versprechen, wenn nur die bösen Rechten nicht wären, könnten alle Menschen händchenhaltend in Frieden leben, nachhaltigen Öko-Kakao aus handgedrechselten Holztassen schlürfen, aber solche Geschichten bleiben eben das: Illusionen.

Menschen, die linke Illusionen für Realität halten und darauf basierend wichtige Entscheidungen treffen, die setzen sich realer Gefahr aus und können ganz illusionsfrei sterben.

Kurt Tucholsky sagte: »Der geschickte Journalist hat eine Waffe: das Totschweigen – und von dieser Waffe macht er oft genug Gebrauch.«, und spätestens wenn Menschen aufgrund von Fehlinformationen sterben, bekommt »totschweigen« eine ganz eigene, bittere Bedeutung.

Wenn ein Verkäufer dem Käufer mutwillig wichtige Informationen vorenthält, versucht der Käufer später, den Verkäufer zur Verantwortung zu ziehen. Wir sollten fragen, zumindest welche moralische Verantwortung jene Medien und Journalisten tragen, die den Bürgern lebenswichtige Informationen vorenthalten.


Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com.

Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.

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